Wem kann man noch trauen?

Von Tobias Wenzel |
Sein erster Roman "Mein Herz so weiß" verkaufte sich in Deutschland fast eine Millionen Mal. Nun stellt der Spanier Javier Marías seinen jüngst auf Deutsch erschienenen Roman "Dein Gesicht morgen - Gift und Schatten und Abschied" auf Lesereise vor - ein Mammutwerk von 1600 Seiten.
Sherlock Holmes, ein Uhu und drei Dutzend Setzkastenfiguren stehen in einer Schlachtformation auf dem gläsernen Wohnzimmertisch und blicken auf Javier Marías, einen 58-jährigen Mann mit hoher Stirn. Der Autor sitzt auf seinem ultramarinblauen Sofa. Sein freundliches Gesicht, die Augen mit den nicht ganz geöffneten Lidern strahlen Ruhe aus. Javier Marías hält in der rechten Hand ein edles Zigarettenetui und in der linken eine Zigarette und spricht über sein Opus magnum, den 1600 Seiten umfassenden Roman "Dein Gesicht morgen". Acht Jahre hat Marías daran gearbeitet.

Das Buch kreist um die Fragen, ob sich voraussagen lässt, wie sich ein Mensch in Zukunft verhält, wem man vertrauen kann und wer vielleicht schon morgen ein anderes, das wahre Gesicht zeigt. Kennt Javier Marías selbst das morgige "Gesicht" eines Menschen?

"Nein, wer kennt es schon? Niemand. Der Titel des Buches, 'Dein Gesicht morgen', spielt auf die Unmöglichkeit an zu wissen, worauf wir uns verlassen können. Damit meine ich nicht nur die Menschen, die uns nahe stehen, sondern auch uns selbst. Mich amüsiert es, wenn Leute mit Prinzipien meinen, sie wüssten sicher, wie sie sich in Zukunft verhalten. Das ist doch naiv!"

Jaime Deza, Spanier und Ich-Erzähler des Romans, muss allerdings das Morgen voraussagen. Er arbeitet in einer Spezialeinheit des britischen Geheimdienstes MI6 in London und soll das zukünftige Verhalten von Zielpersonen einschätzen.

Im zweiten Band des sprachgewaltigen Romans musste Jaime Deza schockiert ansehen, wie sein Chef einen Mann quälte und fast in einer Kloschlüssel ertränkte. Im nun auf Deutsch vorliegenden dritten Teil "Gift und Schatten und Abschied" zeigt der Chef seinem Schützling eine DVD mit Folterszenen und zwingt ihn, die grausamen Bilder anzuschauen.

"Im Roman wird Deza mit der Gewalt infiziert. Daher das Wort 'Gift' im Titel des dritten Bandes. In einem Moment muss Deza eine Entscheidung treffen. Und da bemerkt er, dass die Gewalt nützlich ist. Ich wurde einmal gefragt, ob ich jemanden töten könnte. Ich habe geantwortet: 'Ich hoffe nicht.' Aber man kann sich da nie ganz sicher sein. Es ist möglich, dass ich doch dazu imstande wäre. Das hängt von den Umständen und Motiven ab."

Plötzlich ist Javier Marías ernst geworden. Aber das schlägt bei ihm schnell in Komik um. Ja, auch er könnte gewalttätig werden, wenn er an jene Arbeiter denkt, die auf einer Baustelle vor seinem Haus länger als ein Jahr mit ihren Presslufthämmern die Fertigstellung von "Dein Gesicht morgen" fast unmöglich machten. Aber so sei Madrid eben - eine einzige Baustelle.

"Gott sei Dank habe ich, im Gegensatz zu vielen Amerikanern, kein Gewehr im Haus. Denn oft macht mich der Lärm derart verrückt, dass ich, wenn ich ein Gewehr hätte, versucht wäre, auf eine der Personen zu schießen, die diesen Lärm machen."

Natürlich traut man diesem besonnenen Mann keinen Mord zu. Aber wer seinen Roman "Dein Gesicht morgen" liest, weiß überhaupt nicht mehr, wen man wie einschätzen soll. Wieso schützt beispielsweise der eine mit seinem Körper das Leben eines anderen Menschen und warum denkt wiederum ein anderer, von dem man Dasselbe erwartet hätte, nur daran, seine eigene Haut zu retten?

200 Seiten nehmen allein solche Betrachtungen ein. Noch nie wurde in einem Roman von Javier Marías soviel nachgedacht, noch nie war der Plot so karg. Die Kunst dieses Autors besteht gerade darin, dass dieses philosophierende Erzählen keine ermüdende Wirkung hat. Das liegt auch an Marias' betörend schöner Sprache, deren ruhige Rhythmik Elke Wehr so gekonnt in der deutschen Übersetzung wiedergegeben hat. Die Übersetzerin starb während der Arbeit am letzten Band.

Auch der Vater von Javier Marías, ein Philosoph, war während des Romanprojekts gestorben. Der Erzähler Jaime Deza berichtet, wie sein Vater im Spanischen Bürgerkrieg von seinem vermeintlich besten Freund verraten wurde:

"Diese Geschichte der Denunziation entspricht exakt dem, was mein Vater am Ende des Spanischen Bürgerkriegs erfahren hat. Eineinhalb Monate nach Kriegsende haben sie meinen Vater in ein Gefängnis gesteckt, weil er von seinem besten Freund verraten worden war. Der sogenannte Freund machte unter Franco eine Universitätskarriere, während mein Vater ein Lehrverbot für Spanien erhielt."

Wenige Monate nach dem Tod seines Vaters starb auch ein mit Javier Marías befreundeter britischer Hispanist, dem ebenfalls eine Figur im Roman entspricht.

"Gift und Schatten und Abschied", der dritte Teil des Werks, ist somit auch ein Abschied von diesen beiden universal gebildeten Männern: "Mögen beide nun ruhen, auch in der Fiktion dieser Seiten", schreibt Javier Marías in der Danksagung. Ist "Dein Gesicht morgen" auch ein Abschied vom Schreiben? Einige Kritiker glaubten genau das aus dem ersten Satz des Mammut-Werks herauszulesen. Der lautet: "Man sollte niemals etwas erzählen". Da kann Javier Marías nur schmunzeln:

"Der Anfang des Romans 'Dein Gesicht morgen' entpuppt sich als Ironie. Schließlich folgen ja fast 1600 Seiten. Ich finde das lustig."


Service:

Javier Marías: Dein Gesicht morgen. 3. Gift und Schatten und Abschied
Roman
Aus dem Spanischen von Elke Wehr und Luis Ruby
Klett-Cotta, Stuttgart 2010
723 Seiten, 29,90 Euro

Am 9. März 2010 beginnt Javier Marías seine Lesereise durch Deutschland. Um 20 Uhr liest er im Literaturhaus Frankfurt. Danach in Hamburg (10.3.2010), Berlin (11.3.2010) und Köln (12.3.2010).