Wen das Meeresfieber packt

Das Meer ist eine Sehnsuchtsmetapher, verbunden mit Weite und Verlorenheit, mit Freiheit und der Unendlichkeit, die in den Himmel übergeht. Wen die Liebe zu ihm gepackt, der wird sie so schnell nicht los. Ihnen gewidmet: Das mare-Hörbuch "Für die mit der Sehnsucht nach dem Meer", das 45 maritime Gedichte präsentiert.
"Ich erinnere mich, wie ich die Welt zum ersten Mal sah
Durch den Spalt einer Muschel.
Das Grün der Wasser, das Blau des Himmels,
Die geflammte Zeichnung der Pfauenlippenfische.
Immer noch fließt mein Blut salzig,
Wo mich die Muschel schnitt."

Der türkische Autor Orhan Kalik. Ein Lieblingsgedicht des Herausgeber Joachim Sartorius. Sein Resümee:

"Es gibt kein Gedicht über das Meer als Meer, kein reines Meergedicht."

"Wenn du es besingst, erwähn es nicht
das Meer, sag Delphin,
Alge sag, sag Blues."

Die Mazedonierin Katica Kjulavkova. Der Inder Siddharta Gautama, der erste Buddha, formulierte es so:

"Das Meer ist nur eine große Wassermasse, eine große Wasserflut. Das Auge des Menschen ist das Meer."

"Reineres Sein. War vorher schon, war schon
bevor es war, schuf sich, ein Rauschen, das sich lauscht, ein Schrei´n, das Möwen ist
ein Schwellendes, ein Rausch, ein Schaum,
schöpft draus das Sich, ein Salz, ein Tausch: ein Ich."

Der Katalane Axel Sanjosé, Jahrgang 1960. Die Amerikanerin Amy Clampitt war 60 Jahre alt, als sie ihre ersten Gedichte schrieb. Es waren Gedichte über das Meer:

"Meeresoberfläche, bei leicht bedecktem Himmel
Aus geschleuderten Aureolen
Diese Buttermilch, dies
Fischgrät-Muster vom Albatros,
Quecksilberseide,
Dessous aus Aluminiumgespinst,
mit weichem, samtsämigem Besatz
von Spiegelglas."

Dich packt das "Meeresfieber, die Sehnsucht" nach der Lust, nach jenem Beischlaf mit dem schneeweißen Schaum? Aber ist es vielleicht nicht nur pure Lust, sondern sogar etwas wie Liebe? D.H. Lawrence, aus seinem Gedichtzyklus "Der Atem des Lebens":

"Sie sagen, das Meer sei ohne Liebe und dass im Meer
keine Liebe leben kann, sondern einzig armselige
Salzsplitter
liebloses Lebens.
Doch aus dem Meer empor
Springen die Delphine rund um das Schiff des Dionysos,
dessen Maste purpurne Weinreben umwinden,
emporschießen sie mit dem purpurnen Dunkel der
Regenbogen in reiner Seeligkeit."

Sag "Delfin"! Sag "Wasser"! Amy Clampitt:

"Eine Substanz, so eins in sich,
dass man sie fast hochheben könnte,
zusammenfalten, darunterkriechen
oder dazwischengleiten, wie zwischen nacktheits-
liebkosende Laken."

Und sind sie vielleicht sogar Schwestern, die Lust und die Freiheit ? Fragen wir einen echten Seemann, Joachim Ringelnatz, dessen 125. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern:

"Es rauscht wie Freiheit. Es riecht wie Welt.-
Natur gewordene Planken
Sind Segelschiffe.-Ihr Anblick erhellt
Und weitet unsere Gedanken."

Männer zieht's hinaus in die Welt. Friedrich Nietzsche:

"Nach neuen Meeren
Dorthin - will ich; und ich traue
Mir fortan und meinem Griff.
Offen liegt das Meer, ins Blaue
Treibt mein Genueser Schiff.

Alles glänzt mir neu und neuer,
Mittag schläft auf Raum und Zeit -:
Nur dein Auge - ungeheuer
Blickt mich´s an, Unendlichkeit!"

Und vielleicht sind ja auch sie Schwestern, Unendlichkeit und Nähe. Sag Delfin, sag Wasser.

"Schuppen lebenden Gewebes,
Rätsel der Spannung,
Affinität der Textur,
Zartheit der Berührung, des Drucks
und der Ablösung, Biegsamkeit
langer und intimer
Verbindung."

Das Meer ist und bleibt, was es ist, eine Sehnsuchtsmetapher, verbunden mit Weite und Verlorenheit. Bist du allerdings auf einem Schiff, begreifst du, du wirst gebraucht. Ingeborg Bachmann:

"Die große Fracht des Sommers ist verladen,
das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit
Die große Fracht des Sommers ist verladen."

Nicht nur eine sondern viele CDs hätte man füllen können mit maritimen Gedichten, eins schöner und bewegender als das andere. Mit Kennerblick und sehr viel Liebe hat Herausgeber Joachim Sartorius 45 lyrische Preziosen ausgewählt. Mögen sie, - und das werden sie mit Sicherheit -, Lust auf mehr maritime Lyrik machen, denn dort ist sie zuhause, lernt sie erst zu atmen.

Zum Träumen laden die Stimmen von Christian Erdmann und Oda Thormeyer ein, ein bisschen zu sehr vielleicht, denn das gnadenlose Meer fordert nicht nur Melancholie, sondern auch Triumph, Wahnsinn und Sex.

"Diese windsilberne
Zerzaustheit wie von Hafenfeldern,
ein Wildleder wie eine Wiese,
eine Mähne von Glanz
geschmeidig wie das Gleiten
von Muskeln in ihrer Hülle aus Haut.

Schiffe fahren in meinen Träumen,
Schöne schuppige Schiffe über die Dächer.
Ich Armer,
Seit Jahren mit meiner Sehnsucht nach dem Meer
Sehe und sehe und weine."

Rezensiert von Lutz Bunk

Joachim Sartorius (Hg.): Für die mit der Sehnsucht nach dem Meer
Gesprochen von Oda Thormeyer und Christian Erdmann
Ein mare-Hörbuch bei Hoffmann und Campe Verlag 2008
1 CD, 15.95 Euro