Wencke Mühleisen: "Du lebst ja auch für deine Überzeugung. Mein Vater, Otto Muehl und die Verwandtschaft extremer Ideologien"
Aus dem Norwegischen von Sylvia Kall und Ina Kronenberger
Paul Zsolnay Verlag, Wien
288 Seiten, 23 Euro
Mein Nazi-Vater und ich
14:49 Minuten
Die Schriftstellerin Wencke Mühleisen ist die Tochter eines überzeugten Nazis. Sie selbst lebte jahrelang in einer autoritären Kommune. In ihrem neuen Buch geht Mühleisen der Frage nach: Hat sie mit dem Vater vielleicht mehr gemein, als ihr lieb ist?
Dass Wencke Mühleisens Vater ein Nationalsozialist war und als Soldat der Wehrmacht an der Ostfront gekämpft hatte, war ein gut gehütetes Familiengeheimnis. Die Kinder hätten erst sehr viel später davon erfahren, erzählt die Schriftstellerin.
Als Mühleisen den Spuren ihres Vaters folgte, stieß sie auf einen Brief, den er ihr 1984 geschrieben hatte. Sie hatte ihn damals beschuldigt, ein Rassist zu sein, weil er ihrer Schwester Hausverbot erteilt hatte. Die wiederum hatte einen Nigerianer geheiratet.
In seinem Brief schreibt ihr Vater:
"Ich habe diesen Krieg für mein Volk, meine Überzeugung und meine Gesellschaft, aus der ich heraus gewachsen bin, mitgemacht. Dann gab es keine Alternative. Ich kann nicht meine Familie verraten, indem ich einen Neger hineinschwindle und als Familienmitglied akzeptiere, weil ich sonst meine Selbstachtung verliere. Ich hoffe, dass du mich verstehst. Du lebst ja auch für deine Überzeugung gegen den Strom."
Wenn die Befreiung scheitert
Wencke Mühleisen war in den 1970er-Jahren in einer autoritären Sekte gelandet: Im Alter von 22 Jahren war sie in die Kommune des Wiener Aktionskünstlers Otto Muehl gezogen.
In ihrem nach dem Brief des Vaters benannten Buch "Du lebst ja auch für deine Überzeugung" vergleicht die Autorin nun ihr Leben mit dem ihres Vaters. Die Hauptfrage ihres Buches sei, so Mühleisen: Wie konnte es passieren, dass die Töchter und Söhne von Nazis und Wehrmachtssoldaten, die sich so vehement von der autoritären Nachkriegsgesellschaft befreien wollten und neue Lebensmodelle suchten, sich auf die autoritären Strukturen von Otto Muehls Kommune einließen?
Muehl, der "Oberanalytiker"
Die Kommune sei ein konkreter Beitrag zu den Experimenten der 70er-Jahre gewesen, erzählt Mühleisen. Neue Kommunikations- und Ausdrucksformen hätten damals eine Rolle gespielt, aber auch die Psychoanalyse, Wilhelm Reichs Körperanalyse, Gestalttherapie, Schreitherapie. Alles Therapien, die den Körper und die Gefühle befreien sollten.
Das Gefährliche damals war, sagt Mühleisen heute: Otto Muehl war etwa 30 Jahre älter als die zwischen 16- und 25-Jährigen, die in seine Kommune zogen. "Er war sozusagen der gute, aber auch strenge Vater", so Mühleisen. "Er war aber auch Lebensgefährte und Sexualpartner. Und vor allem war er der Oberanalytiker."
"Du kleiner Hitler"
Mühleisens Resümee: Die Abhängigkeit von Muehl führte zu Machtausübung, Missbrauch und zu Grenzüberschreitungen, die sehr ernste Auswirkungen hatten.
Mühleisen erinnert sich an einen Moment, als ihre Mutter sie in der Kommune besuchte und Otto Muehl sie fragte, was sie von seiner Arbeit dort halte. Diese habe darauf nur geantwortet: "Du kleiner Hitler".
Einerseits, sagt Wencke Mühleisen, sei sie damals geschockt gewesen, andererseits war sie aber auch sehr stolz auf ihre Mutter. Und dann wiederum fürchtete sie Muehls Reaktion. Der hätte das aber nur spielerisch abgetan, wie immer in solchen Situationen.
Als Mühleisen ihre Tochter weggenommen und sie einer anderen Frau gegeben werden sollte, verließ sie die Kommune fluchtartig.
Im Trauma eingeschlossen
Warum aber hatten sie und andere sich überhaupt auf die autoritären Strukturen der Kommune eingelassen? Mühleisen spricht von einer "Bereitschaft, die wir nicht in uns selbst erkannten": eine Retraumatisierung, etwas, das tief in ihnen saß, wogegen sie sich aber nicht hätte wehren können.
Indem sie nach dem Verlassen der Kommune versuchte, diese von außen aufzulösen, habe sie für sich versucht, Verantwortung für die eigenen Grenzüberschreitungen zu übernehmen.
Das sei der Unterschied zu ihrem Vater und es sei die Tragödie ihres Vaters, dass dieser nie mit ihr über diese Themen sprechen konnte. Ihr Vater sei in seinem Trauma eingeschlossen gewesen und nicht herausgekommen.
(nis)