Der Bruch ist noch spürbar
Zum vierten Mal seit der Gründung des Wendekinder-Netzwerkes haben sich zwischen 1975 und 1985 in der DDR Geborene zum Gedanken- und Erfahrungsaustausch getroffen. Auf der Suche nach einem neuen Generationenverständnis möchten sie auch Gleichaltrige mit West- oder Migrationsbiografie ansprechen.
"Wir sind im Grunde zwischen zwei Welten aufgewachsen. Wir haben im spät-totalitären Staat unsere frühkindliche Sozialisation verbracht, und dann unser junges Aufwachsen in der BRD."
Adriana Lettrari war zehn Jahre alt, als die Mauer fiel. Sie lebte in Rostock, ihre Mutter leitete eine Grundschule und sagte fortan Sätze zu ihr wie: "Wenn du was werden willst, brauchst du viel gute Bildung. Das musst du jetzt alles allein schaffen."
Dem Sicherheitsbedürfnis ihrer Eltern zuliebe absolvierte sie eine Ausbildung zur Verlagskauffrau. Erst spät begann die heute 35-Jährige, ihren Horizont zu erweitern. Sie reiste nach Afrika, studierte Politik- und Kommunikationswissenschaften. Mittlerweile promoviert sie.
Sie hat ihren Weg gefunden, fühlt sich aber nach wie vor als Wendekind.
"Wir können nicht auf alte soziale Netzwerke zurückgreifen, denn die wurden ja '89 so gesehen zerschlagen, und wir können auch nicht viele Vorbilder, ostdeutsche Führungskräfte sehen, denn unsere Eltern sind völlig unterrepräsentiert bei Führungskräften. Viele von uns sind fast ausschließlich von westdeutschen Professoren an den Universitäten ausgebildet worden."
Die Elemente verschiedener Systeme
Zweites Beispiel: Carsten Morgenroth. Als die Mauer fiel, war er 16 Jahre alt.
Er lebte im sächsischen Freiberg. Nach der Wende war er einer der ersten Ostdeutschen, der als Austauschschüler für anderthalb Jahre in die USA ging.
"Mir persönlich hat die Wende sehr genützt, ich hatte die Chance, nach Amerika zu gehen, zu studieren, was ich möchte, ins Ausland zu reisen. Insofern habe ich die Elemente von drei Systemen in mir. Und das ist natürlich ein sehr interessanter Mix, den ich jetzt immer noch versuche, bestens zu verstehen."
Carsten Morgenroth ist mittlerweile promovierter Jurist, lebt und arbeitet in Jena. Natürlich findet er es gut, dass Deutschland vereint ist. Aber den Bruch der beiden Kulturen, Ost und West, den spürt er 25 Jahre nach dem Mauerfall noch immer.
"Es gibt kein homogenes Zusammenwachsen, sondern eine soziale Überstülpung. Und damit gab es im Prinzip keine soziale Wiedervereinigung, sondern eine politische Wiedervereinigung. Ich kann also sowohl die Gewinner als auch die Verlierer der Wende verstehen, fühle mich persönlich dazwischen. Insofern ist es natürlich ein gewisser Zwiespalt, ohne dass ich deswegen Albträume bekomme."
"3te Generation Ost": das klingt homogen, ist es aber nicht.
Menschen wie Adriana Lettrari und Carsten Morgenroth haben ihre Chancen genutzt. Andere gingen ins Ausland, machten dort Karriere. Aber es gibt auch eine große Zahl Wendekinder, die nicht richtig Fuß gefasst haben, die in ostdeutschen Kleinstädten abhängen und kaum etwas auf die Reihe bekommen.
Wissenschaftlichist das Phänomen der "3ten Generation Ost" bislang kaum erforscht. Das wird nun nachgeholt. Das vor vier Jahren gegründete Netzwerk "3te Generation Ostdeutschland" bietet dafür eine geeignete Plattform. :
Auftritt des "Chors der Kulturen"
Neben allem Gedanken- und Erfahrungsaustausch fördert das Netzwerk vor allem gemeinsame Projekte, wie zum Beispiel den "Chor der Kulturen", der beim diesjährigen Treffen in Berlin erstmals auftrat.
Adriana Lettrari, die im Jahr 2010 das Netzwerk mitbegründet hat, erhofft sich noch mehr Zulauf.
"Ich möchte gerne eine Aufbruchstimmung und auch konkrete Verabredungen dafür, dass wir ein neues gemeinsames Generationenverständnis für das 21. Jahrhundert finden."
Wir, das sind in diesem Fall nicht nur ostdeutsche Wendekinder. Das sind neuerdings auch Gleichaltrige mit West- oder gar Migrationsbiografie. Auch die sollen sich angesprochen fühlen.
"Ja, es ist groß, aber wenn wir keine Visionen haben, dann brauchen wir ja auch nicht loslegen mit so einem Projekt, und auch wenn jetzt danach nichts Signifikantes in Form von Projekten passieren sollte, wird, glaube ich, dieser Abend trotzdem für viele eindrücklich sein und vielleicht sie ein bisschen zum Nachdenken anregen und einfach vielleicht etwas an ihrer inneren Haltung verändern."
Es geht aber auch eine Nummer kleiner. Carsten Morgenroth beispielsweise. Der gelernte Jurist besuchte die Konferenz, einfach weil er neugierig auf die Menschen war.
Eine sehr nette, sehr gediegene Veranstaltung sei es gewesen, erklärte er hinterher. Was zählt, sei der Austausch.
"Vielleicht telefoniert man mal miteinander oder vielleicht mailt man mal miteinander, man trifft sich vielleicht mal, gemeinsame Projekte, was auch immer."
Bei nächsten Treffen in einem Jahr will Carsten Morgenrot auf alle Fälle wieder dabei sein.