Wendezeit 1989/'90

Welt im Umbruch

Großer Andrang von Bürgern aus der DDR am Grenzübergang Checkpoint Charlie in Berlin am 10.11.1989.
"Friedliche Revolution": Die deutsch-deutschen Grenzen gingen auf, ohne dass Gewalt ausgeübt wurde © picture alliance/dpa
Von Rolf Schneider · 13.06.2015
Die Geschichte der Wende, erzählt anhand von acht Tagen die sich auf mehr als ein Jahr erstrecken, das ist das Konzept des Bandes von Alfred Weinzierl und Klaus Wiegrefe. Alles nach dem 3. Oktober 1990 deuten sie allerdings nur an.
1919 veröffentlichte der US-amerikanische Journalist John Reed ein hernach viel gelesenes und viel übersetztes Buch des Titels "Zehn Tage, die die Welt erschütterten". Geschildert wurde jener Putsch Wladimir Iljitsch Lenins im russischen Petrograd, der hernach als Große Sozialistische Oktoberrevolution bekannt wurde.
Das Buch, das vom Untergang eines späten Geschöpfs jener Oktoberrevolution handelt, nämlich der DDR, heißt "Acht Tage, die die Welt veränderten", ohne dass die Herausgeber auf Reeds Buch irgend Bezug nehmen. Reed erzählte von zehn aufeinander folgenden Tagen. Das Buch der Journalisten Alfred Weinzierl und Klaus Wiegrefe verteilt seine acht Tage auf mehr als ein Jahr. Manche Daten waren in der Tat maßgeblich, etwa der 9. November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer, andere, wie der Sturm auf die Stasi-Zentrale, waren es weniger.
Ohnehin lässt sich das Geschehen von 1989/90 nicht auf acht Einzeltage reduzieren, was hier auch nicht geschieht. Es finden jeweils ausführliche Exkurse statt in das zugehörige Davor und Danach. "Die Bürger eines Landes – Mittelpunkt des Kalten Krieges, Nahtstelle zwischen den atomar hochgerüsteten Blöcken – entledigen sich ihrer Fesseln, ihrer Bestimmer, ihrer Drangsalierer. Und es fließt kein einziger Tropfen Blut."
Eine Revolution - aber eine friedliche
So das Vorwort. Die Zeitgeschichtsschreibung hat sich darauf geeinigt, dies alles eine Revolution zu nennen, nämlich eine friedliche. Denn: "Straßenschlachten und Barrikadenkämpfe sind kein notwendiges Merkmal von Revolutionen."
Behaupten die Herausgeber. Der Historiker Heinrich August Winkler, der in dem Buch vertreten ist, stellt indessen die Frage: "Wann ist eine Revolution eine Revolution? Wenn ein Herrscher ermordet wird? Oder wenigstens ins Exil verbannt? Wenn Blut vergossen wird in dramatischer Menge? Oder Helden sterben für die gute Sache?"
Eine befriedigende Antwort liefert er nicht. Das Buch "Acht Tage, die die Welt veränderten" enthält zwanzig Beiträge, von denen siebzehn bereits im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" erschienen. Für die neue Veröffentlichung wurden manche ergänzt oder aktualisiert.
Zwei Interviews entstanden eigens für diesen Zweck und dazu der ausführliche Essay Heinrich August Winklers, der die DDR-Erosion mit früheren Revolutionen vergleicht, deutschen vor allem, und hier auch einen letzten Schritt zur deutschen Reichseinigung wahrnimmt.
Das Geschehen nach dem Datum des 3. Oktober 1990 findet nur in Andeutungen statt. "Spiegel"-Autor Dirk Kurbjuweit schreibt:
"Die Bundesrepublik machte den deutschen Osten durch Übernahme westlich, wurde in der Folge selbst aber weniger westlich, zum Teil sogar östlicher: durch seine Spitzenpolitiker und deren Verständnis von politischer Kultur, durch eine Verstärkung alter Tendenzen wie Antikapitalismus oder Liebe zum Sozialstaat."
So kann man es sehen, man muss es nicht. Der deutsche Sozialstaat von 2014 ist deutlich reduzierter als der bundesdeutsche Sozialstaat von 1989. Die heutigen Spitzenpolitiker mit DDR-Vergangenheit könnten, ihren Haltungen und Handlungen zufolge, ebenso gut aus Niedersachsen oder Rhein-Pfalz stammen.
Beeindruckende, nahezu vergessene Einzelgeschichten
Angela Merkels Stil des Konfliktvermeidens und der Diskursscheu, woran Kurbjuweit sein Urteil unter anderem festmacht, spiegelt kein DDR-übliches Verhalten. Auch dort gab es genügend offen ausgetragene Konflikte, man denke an den 17. Juni 1953, anderes schwelte direkt unter der Oberfläche, und die Diskurse etwa auf kirchlichen Veranstaltungen waren manchmal atemberaubend kontrovers. Angela Merkel konnte in der DDR ihre Karriere-Pläne durch Vorsicht, Abducken und äußerliche Anpassung voranbringen, es war dies ihr persönlicher Duktus, den sie als Politikerin beibehielt.
Die Sammlung der "Spiegel"-Texte bringt nichts substantiell Neues, wie sie auch längst nicht die erste Buchveröffentlichung zum Thema ist. In vielem detaillierter erweisen sich die mehrbändige "Chronik der Wende" von Hannes Bahrmann und Christoph Links sowie das umfangreiche Werk "Endspiel" des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk, aus dem hier gelegentlich zitiert wird.
Am meisten beeindrucken oft vergessene Einzelgeschichten, etwa der Aufbruch in der vogtländischen Stadt Plauen oder die Biografie des Oppositionellen Peter Grimm, der eine DDR-Untergrundzeitschrift mit dem Titel "Grenzfall" betreute.
"Manche Hoffnungen von damals haben sich erfüllt"
Hat der Umsturz in der DDR wirklich, wie der Buchtitel nahelegt, die Welt erschüttert oder verändert? Eher war es die Auflösung des sowjetisch beherrschten Ostblocks insgesamt. An deren Beginn steht die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarność, deren Existenz die Welt mindestens so beeindruckte wie der Kollaps der DDR, der seinerseits von ihr beeinflusst wurde.
Im Buch der "Spiegel"-Leute kommt das leider kaum vor. Andere Ostblockstaaten wie die Tschechoslowakei und Ungarn finden nur Erwähnung, weil sich dort die ausreisewilligen DDR-Botschaftsflüchtlinge versammelten. Heinrich August Winkler resümiert:
"Manche Hoffnungen von damals haben sich erfüllt, darunter die, dass die getrennten Teile Deutschlands allmählich wieder zusammenwachsen würden. Dasselbe gilt für die Teile Europas, die 1945 gegen ihren Willen voneinander getrennt worden waren. Nicht erfüllt hat sich die Erwartung, dass sich die Ideen der Menschenrechte, des Rechtsstaats und der Demokratie über kurz oder lang über das ganze Territorium der 1990 noch existierenden Sowjetunion ausdehnen würden."
Dem ist nichts hinzuzufügen.

Alfred Weinzierl, Klaus Wiegrefe (Hg.): Acht Tage, die die Welt veränderten. Die Revolution in Deutschland 1989/90
Deutsche Verlagsanstalt DVA München, März 2015
368 Seiten, 19,99 Euro

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