Zugezogen aus Danzig, Hamburg und nun aus Aleppo
Das Wendland hat seit Jahrzehnten neue Bürger aufgenommen: Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen "Vertriebene" aus dem Osten, dann die Gastarbeiter, später Großstädter, dann DDR-Flüchtlinge und heute geflüchtete Syrer. Die Region war ökonomisch immer schwach - jedoch reich an Menschlichkeit.
Wie können Flüchtlinge in Deutschland integriert werden? Die Bewohner des niedersächsischen Wendlands haben da jahrzehntelange Erfahrungen: Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen zahlreiche Menschen aus dem Osten dorthin. Und danach die Gastarbeiter. Noch später waren es "Großstadt-Flüchtlinge", zum Beispiel aus West-Berlin. Nach der Wende schließlich kamen Übersiedler aus der ehemaligen DDR.
"Gartow, Lüchow, Wustrow..."
Gartow, Lüchow, Wustrow – diese Orte liegen im Wendland. Die Region ist: dünn besiedelt, dicht bewaldet mit vielen kleinen Dörfern und wenigen kleinstädtischen Zentren, weitgehend identisch mit dem niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg.
"Ja – ist sehr, sehr schön. Immer in Samstag oder Sonntag, wenn die Wetter ist gut – ich habe mein Fahrrad, ich fahre zwei km – mit Wald und Blumen und alles. Ist sehr kalt, immer ich habe Halsschmerzen, aber hier ist sehr, sehr schön: die Land, die Wendland."
Wendland war immer in einer Randlage
Muhamed aus Syrien, 22 Jahre alt, seit einem Jahr im Wendland, stammt selbst aus einem Dorf – und doch ist ihm hier alles fremd: das Klima, die Wälder mit Buchen und Fichten, die grünen Wiesen und Weiden, die Elbtalaue, die Rundlingsdörfer...
"Gartow, Lüchow, Wustrow, Bankewitz, Waddeweitz, Prießeck, Kollase, Pomoissel..."
…Ortsnamen, die aus einer ausgestorbenen elbslawischen Sprache stammen, Spuren einer Nachbarschaft von slawischen Wenden und Deutschen, wie sie sich hier Jahrhunderte lang im abgeschlossenen Raum zwischen Elbe, Sümpfen und Wäldern ergeben hat. Das Wendland befand sich immer schon in einer Randlage: unter hannoverscher und preußischer Herrschaft, als Zonenrandgebiet im geteilten Deutschland und heute im südöstlichsten Zipfel Niedersachsens…
…und gerade wegen dieser Lage Zielort für viele Flüchtlinge: Nach 1945 aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten: Flüchtlinge und Vertriebene rechneten damals noch lange damit, von hier aus schneller wieder nach Osten – in ihre alte Heimat zurückkehren zu können. Dann in den siebziger und achtziger Jahren Wahlheimat für Großstadtmüde aus Hamburg und Berlin und in den neunziger Jahren für Übersiedler aus der ehemaligen DDR.
Es hieß immer: Angekommen im Wendland
Heute sind es Flüchtlinge u.a. aus Syrien und Eritrea, dem Irak und Iran – mehr als das Wendland hätte aufnehmen müssen. Aber als Notunterkunft stand u.a. eine leere Kaserne zur Verfügung, früher genutzt von Polizei und Grenzschutz zur Sicherung der Atommüll-Transporte nach Gorleben.
Muhamed aus Syrien hat inzwischen eine Gastfamilie gefunden. Hier hat er deutsch gelernt. Aber in seiner neuen Sprache – und auch sonst – ist die Vergangenheit noch Gegenwart:
"Ich habe viele Freunde, 20 Prozent sie sind tot, meine Schule ist kaputt, mein Haus ist kaputt, alles kaputt. Ich denke immer an meine Familie, wo sind sie jetzt, sie sind okay oder nicht, und ich denke immer – nicht nur an meine Familie, an mein Land, so ich denke immer 24 Stunden jeden Tag an meine Heimat. Hier im Wendland ich bin in Schule seit neun Monate und jeden Tag ich muss mit mein Fahrrad nach Bushaltestelle zwei Kilometer: Schnee, Regen, Dunkel, Tiere, ich weiß nicht..."
Ankommen im Wendland – das hieß immer schon: ankommen in einem einsamen, agrarisch geprägten Landstrich. Die Verkehrsanbindungen sind schlecht, Arbeitsplätze fehlen, es gibt kaum Industrie. Und das wird sich auch so bald nicht ändern: Bundesweit liegt der Landkreis auf einem der letzten Plätze – in bezug auf die Altersstruktur, die konjunkturelle Lage und die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Der Landrat des Landkreises Lüchow-Dannenberg Jürgen Schulz:
"Wir sind ja von der Fläche her durchaus ein mittlerer Landkreis, also mittlerer Größe, von den Einwohnern her sind wir der absolut kleinste Landkreis Deutschlands, also das ist schon völlig untypisch, diese Struktur. Das war hier immer schon so eine Art Niemandsland, das hat sich alles nach dem Krieg geändert mit viel Zonenrandförderungen und anderen Förderungen. Ja und eigentlich beginnt dann die ganz große Tragik der Region nach 1989. Wir hatten die Wiedervereinigung, und an Infrastrukturen und Verbindungen haben wir bis auf die Dömitzer Straßenbrücke nichts wieder bekommen. Selbst die Bahnverbindungen, die mal da waren, gibt es nicht mehr. Und heute liegt darin aus meiner Sicht schon eine ganz große Tragik, dass Lüchow-Dannenberg zusammen übrigens mit seinen Nachbarkreisen, die ja auch alle nicht auf Rosen gebettet sind – dass wir alle gemeinsam die absolute Mitte, das Herz Norddeutschlands bilden und trotzdem das Armenhaus der Republik sind."
Ankommen im Wendland – das hieß auch immer schon: Die nächste Gelegenheit nutzen, um die Region wieder zu verlassen. Von ca. 32.000 Flüchtlingen, die die Einwohnerschaft des Wendlands nach 1945 mehr als verdoppelt haben, zog bis 1961 fast die Hälfte wieder weg - zumeist weiter in den Westen Deutschlands, und von 731 zugewiesenen Flüchtlingen, die 2015 u.a. aus Syrien, Irak und Afghanistan kamen, halten sich heute nur noch 615 im Wendland auf.
Überdurchschnittlich viele Kreative
Aber im Wendland sind Kreativität und Phantasie zu Hause: hier gibt es überdurchschnittlich viele Künstler, freie Theatergruppen, Musik-Festivals sowie alljährlich die "Kulturelle Landpartie". Und das Wendland wäre nicht das Wendland, wenn den Bewohnern nicht trotz aller Widrigkeiten doch noch etwas einfiele:
"Wir haben ein Projekt uns überlegt: Wenn wir hier in Hitzacker gemeinsam ein Dorf bauen, miteinander, und da haben wir auch schon ne ganze Menge Ideen zu und haben Pläne entwickelt – nicht karitativ wirksam zu sein, sondern gemeinsam tatsächlich schauen: wie soll denn unser Europa aussehen – geht sofort los, ihr könnt alle einziehen."
...eine Genossenschaft gründen, Bauland kaufen und ein Dorf für 300 Menschen errichten, Arbeitsplätze schaffen: für Flüchtlinge und Einheimische – mit Gewerbeflächen, Läden und Obstplantagen – so die Pläne der Initiative "ZuFlucht Wendland", vorgestellt während der Kulturellen Landpartie 2016 in Hitzacker. Dazu heißt es: "Speziell im Wendland müssen wir Ideen entwickeln, wie das Leben hier in 20 Jahren noch funktionieren kann". Auch in:..
"...Güstrow, Lüchow, Wustrow, Bankewitz, Waddeweitz, Prießeck, Kollase, Pomoissel…"
Die Idee, Flüchtlinge in verlassenen Regionen mit hohem Leerstand unterzubringen, ist verlockend – angesichts rasant steigender Mieten und Wohnraummangel in den Großstädten. Während Gegner dieses Konzepts gerade in Großstädten bessere Chancen für Flüchtlinge sehen, verweisen die Befürworter auf Vorteile wie zum Beispiel die größere soziale Nähe im ländlichen Bereich. Tatsächlich ermöglicht das neue Integrationsgesetz eine Wohnortzuweisung. Das ist "im Grundsatz positiv", findet der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil. Vor der letzten Konsequenz, Flüchtlinge gegen ihren Willen in einem entlegenen Dorf unterzubringen, schrecken aber vor allem Kommunalpolitiker zurück. Wohnsitzauflagen dürften kein strukturpolitisches Instrument sein, warnt der niedersächsische Landkreistag. Auch Landrat Jürgen Schulz ist skeptisch:
"Ich bin nicht wirklich überzeugt, dass es funktionieren kann. Vordergründig betrachtet, würde ich sagen: ja natürlich macht es Sinn. Wenn man sich mal Lüchow-Dannenberg betrachtet, hatten wir in den letzten Monaten kaum Probleme, was die Unterbringung der Flüchtlinge angeht. Es gibt hier Leerstände, es gibt hier Wohnraum, wir haben ja in den letzten Jahren Bevölkerung verloren.
Also es gibt hier Wohnraum, und es drängt sich auf zu sagen: ja, warum denn nicht. Aber wenn man genauer hinschaut, wird’s dann schon schwieriger, weil wir hatten ja vor 20 Jahren schon eine ähnliche Flüchtlingswelle, aber wir leben heute in einem anderen Zeitalter, wir sind extrem transparent und mobil, wir haben Smartphones und ähnliches und damit agieren natürlich auch Flüchtlinge. Sie wissen, wo sie hin wollen und wo sie hingehen. Und ich glaube, es ist nicht mehr so einfach zu sagen: du kommst dort in den ländlichsten aller ländlichen Räume, wenn der Flüchtling selbst es nicht will."
Fast alle Flüchtlinge sind privat untergekommen
Fast alle Flüchtlinge im Landkreis Lüchow-Dannenberg sind privat untergekommen, wohnen in den Dörfern und Kleinstädten – ohne Zuschüsse des Landkreises, betreut von einer großen Anzahl ehrenamtlicher Unterstützer. Diese nutzen ihrerseits die digitalen Möglichkeiten: suchen im Netz nach Leerständen und Wohnungseinrichtungen, nach Mitfahrgelegenheiten, nach Dolmetschern und Deutschunterricht. In Dannenberg und Lüchow gibt es sogenannte "Flucht-Cafes" – Treffpunkte für Flüchtlinge mit Beratungs- und Beschäftigungsangeboten. "Runde Tische" organisieren Begegnungen mit ortsansässigen Unternehmern. Im Hotel- und Gaststättengewerbe können zum Beispiel entgegen dem allgemeinen Trend Jahr für Jahr etliche Ausbildungsplätze nicht besetzt werden.
Muhamed, der Student aus Syrien, hat diese Gelegenheit beim Schopf ergriffen:
"In Syrien habe ich mein Abitur gemacht, und ich habe mein Platz in der Universität: englische Literatur lernen, aber hier in Deutschland ich muss andere Möglichkeiten suchen. Die Universität hier in Deutschland ist sehr schwer, die Sprache ist sehr, sehr schwer, die Bürokratie arbeitet sehr schwer. So ich habe gedacht: zuerst ich kann eine Ausbildung machen- und jetzt ich mache eine Ausbildung in kleine Hotel."
Bei einem bundesweiten Vergleich zum Thema "Zivilgesellschaft und freiwilliges Engagement" erreicht Niedersachsen einen der Spitzenplätze – und liegt bei den Zuwachsraten in den letzten Jahre sogar ganz vorn. Befragt nach ihren Motiven geben die ehrenamtlichen Helfer an, es gehe ihnen in erster Linie um "Spaß" – "etwas irritierend" – heißt es im Kommentar zur Studie. Darüber hinaus ist die Bereitschaft für ein ehrenamtliches Engagement vor allem geprägt von eigenen Flüchtlingserfahrungen - Erinnerungen an die Nachkriegszeit, die nicht immer positiv sind. Eva Flügge, Stadträtin in Lüchow:
"Meine Mutter kam aus Stolp in Pommern. Sie ist 1947 im Mai gekommen, hatte es zu Anfang sehr, sehr schwer, und ich kann mich daran erinnern als Kind, dass sie immer irgendwie Schwierigkeiten hatte, in Lübbow aufgenommen zu werden. Und ganz schlimm fand ich das, als eine Nachbarin geschrieen hat: 'Was will dieses blöde Flüchtlingspack – soll da hin, wo sie hergekommen sind.' Also früher die Einheimischen haben schon gesagt: jetzt kommen die und nehmen uns dat weg, 'wat wie hebben'. Das war früher einfach so."
"Das Museum Wustrow hält die Erinnerung an die Nachkriegsjahre im Wendland wach. 'Fremde' so hieß eine Ausstellung Ende der neunziger Jahre, die das Leben der Flüchtlinge in der Nachkriegszeit dokumentierte – ihre Not und ihren Durchhaltewillen bei der Suche nach Arbeit. Zum Beispiel Willi Hempe aus Posen: aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft nach Dannenberg entlassen, arbeitete er zunächst bei einem Bauern, betrieb dann ein kleines Fuhrgeschäft mit Pferd und Wagen, versuchte es mit einer Obstplantage, dann mit der Landwirtschaft, arbeitete in einer Ziegelei, betrieb eine Hühnerfarm. Er zog nach Westdeutschland, fand eine Anstellung als Dreher, und kehrte dann ins Wendland zurück, um in Wustrow einen kleinen Milchladen zu übernehmen – und das alles innerhalb von 14 Jahren."
Klagen über die Bürokratie
Inzwischen sind die Umstände und Befindlichkeiten der Vertriebenen, der Flüchtlinge und der Einheimischen gut erforscht – und damit ergibt sich manche Parallele zur heutigen Situation: "Möge unser Ort davor bewahrt bleiben, dass das heimatgebundene Charakterbild ... vollständig zerschlagen werde", so äußerte sich 1949 ein Bürgermeister im Landkreis Celle – angesichts der Zuwanderung aus einem vergleichsweise ähnlichen Kulturkreis: die friedliche und reibungslose Eingliederung nach 1945 - ein Mythos. Auch damals wurden die Flüchtlinge zunächst in "Sammelorten", in Massenunterkünften an der Peripherie der Siedlungen untergebracht, dann aber sehr schnell auf die Dörfer verteilt: mittels Zwangseinquartierungen. Arbeitsplätze gab es kaum, oft nur zeitlich befristet in der Land- und Forstwirtschaft. Und man zog weg, sobald die amtlichen Beschränkungen gelockert wurden, u.a. die Auflagen bei Wohnsitz, Arbeitsplatzsuche und Familiennachzug.
Klagen über die Bürokratie gab und gibt es - damals wie heute...
Ein Treffpunkt für Flüchtlinge in Lüchow, der Kreisstadt im Wendland. Gerade ist ein Schreiben der Stadt eingetroffen: für das Aufstellen einer schmalen Bank auf dem Bürgersteig vor dem Laden ist eine Sondernutzungsgebühr zu entrichten: 44.70 Euro von Juni bis Dezember. Preiswerter - nämlich ganzjährig 15 Euro - ist der Stellplatz für einen kleinen Plastikkoffer, Symbol der Flucht: Kosten für eine Einrichtung, die ausschließlich von Ehrenamtlichen betreut wird.
Die Verwaltung ist das eine – die Zivilgesellschaft das andere, heute jedenfalls, so Eva Flügge, Stadträtin in Lüchow:
"Wir sind in der heutigen Zeit – denk ich - so weit, dass uns alle Flüchtlinge willkommen (sind). Ich denke, dem größten Teil der Menschen geht es hier so. Diese Menschen sind auf der Flucht, und wo würden wir hingehen, wenn hier was passieren würde? Ich kann diese Menschen verstehen, wenn man das in der eigenen Familie mitgemacht hat und das erzählt kriegt, was die Leute in Pommern erlebt haben, so geht es den heutigen Flüchtlingen auch. Und die brauchen hier einfach nur Ruhe und Frieden. Und das sollten wir diesen Menschen geben."
Ruhe gibt es genug im Wendland – wenn auch für manche etwas zuviel. Vor allem für die meist männlichen jungen Erwachsenen und Jugendlichen unter den Flüchtlingen...
"Follase, Schme-Schme-Schmessau, Sa-Sa- Satemin...ich verstehe nur Bahnhof."
Aber es gibt auch diejenigen, die nicht trotz der Abgeschiedenheit, sondern gerade deswegen hier leben: die Großstadtmüden aus Hamburg und West Berlin, die sich in den siebziger und achtziger Jahren im Wendland ansiedelten, damals noch an drei Seiten von der DDR-Grenze umgeben - auffallende Existenzen in dem verschlafenen Landstrich: "Alternative, Aussteiger, Künstler und Protestler". Heute wirbt die Wendland-Touristik mit ihnen, streicht "die Vorreiterfunktion in ökologischen Fragen "heraus und den geschichtsträchtigen Widerstand gegen die Atompolitik". Eine von ihnen ist Ella Jochimsen:
"Die sogenannte Willkommenskultur ist hier sehr verbreitet und ausgeprägt. Wir haben hier zusammen 30 Jahre Anti-Atomkraft-Widerstand erfolgreich geleistet, es gibt noch kein Endlager in Gorleben, und wir gehen davon aus und hoffen immer noch: das wird nicht sein, das hat uns sehr verbunden miteinander, und durch die regelmäßigen Castor-Transporte sind wir unheimlich geübt gewesen, schnell, effektiv miteinander, aber auch für Massen, was auf die Beine zu stellen."
Nicht nur ankommen - bleiben im Wendland
2011 gab es den letzten Castor-Transport mit Atommüll. Der Protest gegen die Transporte nach Gorleben war für die Region identitätsstiftend. Inzwischen zeigen die riesigen gelben Kreuze in den wendländischen Gärten tatsächlich Spuren der Verwitterung, die Tonnen mit den Atomzeichen sind hier und da schon zur Seite gesackt. "Die sorgsam an der Strecke vergrabenen Schaufeln", so die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, "verrosten im wendländischen Modder, genervte Bauern räumen sperrige Betonpyramiden von einer Ecke in der Scheune zur anderen. Schmerzlich vermisst der Landwirt die durchzechten Nächte mit Bratwurst und Hasskappe..."
Ankommen und bleiben im Wendland – gegenwärtig kann man von einem riesigen Sozialexperiment sprechen, das im Wendland unter ganz speziellen Bedingungen stattfindet: In einem extrem strukturschwachen Gebiet, aber mit außergewöhnlichem menschlichen Engagement. Ein Experiment, das vielleicht Vorbildcharakter hat: schließlich gilt weit über die Hälfte der Bundesrepublik als "ländlicher Raum" – aber hier lebt nur ein Fünftel der Bevölkerung, Tendenz abnehmend. Damit droht nicht nur der Zerfall leerstehender Gebäude, sondern der gesamten Infrastruktur, der Wasser- und Abwasserleitungen, der Straßen und Wege - eine Verödung ganzer Landstriche. Im Wendland versucht man gegen den Strom zu schwimmen, auch bei diesem Thema.
Andreas Krüger, Berater in der Stadt- und Regionalplanung:
"Es gibt seit einigen Jahren eine Innovations-Initiative, die heißt Grüne Werkstatt Wendland, das ist sozusagen eine Ideenschmiede… um etwas gegen die Abwanderung zu machen und attraktive Angebote, zeitgemäße Angebote zu machen für auch junge Leute: Computer-Arbeit, Start-up, Gastronomie, handwerkliche Tätigkeiten. Und dann eine große Offenheit eben auch zu den Geflüchteten."
"10.001 neue Wendländer" – will die Initiative "Zuflucht Wendland" – willkommen heißen – in bewusster Anlehnung an eine orientalische Märchensammlung. Aber warum nicht träumen vom neuen Leben auf dem Dorf – mit neuen Einwohnern, die mithelfen, die Dorfschulen, das Kreiskrankenhaus, die Arztpraxen, die Gasthäuser, die Bahnanschlüsse zu reaktivieren, vom Arbeiten auf dem Dorf – mit schnellem Internet, Home-Office, mit digital vernetzter Nachbarschaft und fortschrittlicher Elektro-Mobilität...
Muhamed aus Syrien jedenfalls ist dabei – auch wenn sein Deutsch noch kein Futur kennt:
"Wenn ich mache meine Ausbildung- ich gehe nach Universität – ich bin fertig ich will hier im Wendland wohnen – absolut. Weil hier im Wendland ich kenne viele Menschen, sie sind immer mit mir – als Vater, Mutter und Bruder. Und - ich muss hier zurück – und wohnen im Wendland, absolut. Wenn ich bin fertig mit meine Lehre und meine Ausbildung, und ich habe ein Job, ein Auto, eine Frau, eine Familie vielleicht, ich will hier zu Ende im Wendland. Weil ich bin von hier angefangen – ich muss hier zurück sein."
Manuskript zur Verfügung gestellt vom NDR
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Das Feature ist eine Übernahme von "NDR Info / Das Forum" vom 08.09.16. (Sdg. von 20:30 Uhr bis 20.50 Uhr)