Wenig Neues und viele Flops
Vor allem der deutsche Film habe kein besonders gutes Jahr erlebt, schätzen die Filmkritiker Katja Nicodemus und Jörg Taszman ein. Zu den Ausnahmen gehöre die Komödie "Friendship!" über zwei Ostdeutsche, die durch Amerika trampen.
Andreas Müller: Der Verband der Filmverleiher hat heute seine Jahreszahlen vorgestellt, und wir werden gleich mit unseren Filmkritikern Katja Nicodemus und Jörg Taszman über Höhe- und Tiefpunkte der internationalen Kinoszene sprechen, nicht nur der aus deutscher Sicht. Ja, Film – das ist auch immer die Geschichte mit den großen Zahlen. Bei mir im Studio sind jetzt die beiden Kritiker Katja Nicodemus und Jörg Taszman, herzlich Willkommen, schönen guten Tag!
Katja Nicodemus: Hallo!
Jörg Taszman: Hallo!
Müller: Man weiß, dass auf starke Kinojahre häufig auch welche folgen, in denen die Umsätze nicht ganz so sind, aber 850 Millionen Euro sind die Deutschen bereit, auszugeben fürs Filmegucken im Kino – aber nicht für deutsche Filme. Schauen wir mal aufs deutsche Kinojahr, bis auf diesen Ausreißer "Friendship!" war da mal wieder nicht viel. Was war da los, Katja?
Nicodemus: Na, es ist ja so eigentlich, seit regelmäßigen Zeiten ist es so, dass die erfolgreichsten Filme in Deutschland sind ja Komödien. Es gibt da kleine Ausreißer, zum Beispiel jetzt, wenn der Führer im Bunker seine Suppe löffelt, aber sonst ist es schon so: Es sind immer Komödien, und natürlich dann jetzt auch "Friendship!" von Markus Goller, das ist so eine Art, ja, ein schön gemachter Multiplex-Film, eine sehr klamaukige Komödie über zwei Ostdeutsche, die durch Amerika trampen kurz nach der Wende, gut gemacht, aber es ist ein bisschen so ein Multiplex-Reißbrettfilm, aber sehr, sehr erfolgreich. Und da muss man sich ... mal schauen, es gab ja mehrere solcher Filme, auch die so ein bisschen am Reißbrett entstanden sind, unter anderem auch zwei große Genre-Versuche, nämlich "Wir sind die Nacht" mit Nina Hoss, ein Vampirfilm, und eben "Die kommenden Tage" von Lars Kraume, ein Science-Fiction ... Und da sieht man eben, wie diese Rezeptversuche so nach hinten losgehen, das sind so adaptierte amerikanische Muster, die aber irgendwie keine Substanz, keinen Kern haben, und die sind eben dann auch zu Recht gefloppt, und da muss ich mir auch sagen: Warum muss ich mir jetzt Nina Hoss mit angeklebten Eckzähnen angucken, wenn "Twilight" doch viel besser ist? Und da sieht man, dass das eben auch ein bisschen ins Leere dann dreht.
Müller: Es ist nicht exportfähig offensichtlich, wenn es aus Deutschland kommt.
Nicodemus: Überhaupt nicht.
Müller: Jörg Taszman, ich weiß von Ihnen, dass Sie sagen, es ist doch völlig egal, wie viele Leute einen Film angucken – wichtig ist, ist er gut oder nicht. Wie war es, gab es gute deutsche Filme?
Taszman: Also ich würde ganz kurz Katja ein ganz bisschen widersprechen wollen, was "Die kommenden Tage" angeht: Ich finde den nicht so misslungen, ich finde es eher nur bedenklich, dass das, was die Deutschen jetzt versuchen – nämlich Genrekino zu machen, also ein bisschen von diesen immer nur Komödien und dann ganz kleine Arthouse-Filme zu machen –, dass das dann nicht funktioniert, denke ich, das wird fatal sich auf den deutschen Film auswirken. Weil man ist in diesem Film schon ein gewisses Risiko eingegangen, wenn sich so ein Risiko nicht auszahlt, denke ich, wird die deutsche Kinobranche, die nicht sehr risikofreudig ist, das in Zukunft unterlassen. Ansonsten fand ich auch, dass der deutsche Film in diesem Jahr kein besonders gutes Jahr hatte, auch künstlerisch kein besonders gutes Jahr, auch international kein besonders gutes Jahr. Es ist auch kein Zufall, dass zum Beispiel bei den Golden-Globes-Nominierungen seit Jahren jetzt mal kein deutscher Film oder auch keine deutsche Produktion mit dabei ist. Die einzige Koproduktion, die mir einfällt, die mich sehr überzeugt hat, das war eigentlich eine Fernsehserie, nämlich "Carlos" von Olivier Assayas, das ist eine deutsch-französische Koproduktion über diesen Terroristen, der sozusagen den internationalen Terrorismus auch medial hoffähig gemacht hat.
Müller: Aber immerhin – Tom Tykwer ist in Cannes gelaufen, "Drei". Das ist doch ein Erfolg? Oder auch nicht. Er wurde ziemlich beschwiegen, glaube ich, oder?
Taszman: Der kommt noch raus. Also das ist jetzt noch zu früh, da kann man jetzt noch nichts sagen, weil der Tom Tykwer kommt als Weihnachtsfilm einen Tag vor dem Heiligen Abend, eine sehr spannende, wie ich finde, Geschichte, die übrigens keine ménage à trois ist, aber eben ein Geschlechterkampf-Film.
Nicodemus: Und ein großer Auftritt für Sophie Rois übrigens.
Müller: Also wenig Erfolgreiches aus Deutschland – liegt es vielleicht daran, dass wir keine 3D-Filme produzieren? 3D ist doch, wurde uns Anfang des Jahres gesagt, das große Ding, dahin wird alles gehen und da wird das große Geld verdient, Katja?
Nicodemus: Na ja, man muss schon sagen, also James Camerons "Avatar" hat wirklich in Deutschland in diesem Jahr einige Kinos vor dem Ruin bewahrt und hat wirklich dieses Kinojahr hochgerissen, und es ist doch einfach auch eine große Leistung. Und auch diese anderen 3D-Filme – ob man die mag oder nicht –, John Lasseter, das "Oben", das sind ja einfach sehr, sehr große, tolle, erfolgreiche Unterhaltungstanker, die muss es geben. Aber was interessant ist, dass sich einerseits das Kino so aufspaltet zwischen diesem gigantischen 3D-Event und auf der anderen Seite dieser inflationären Visualität des Digitalen, also Youtube, Internet und so weiter. Und dazwischen gibt es eigentlich im Moment nichts, da hat man das Gefühl, da muss sich das Kino noch mal neu erfinden. Zwischen diesem Event-Raum, der den Kinoraum ekstatisch feiert, und auf der anderen Seite diese digitalen, kleinen Filme, wo man das Gefühl hat, da muss es eigentlich noch mal was Neues geben, da muss es noch mal neue Vertriebs-, neue Distributionswege finden, um da noch mal eine andere Kreativität zu finden und das auch in die Kinoräume umzuleiten.
Müller: Dann sind wir in Hollywood: Viele kleine Produktionen, hätte ich fast gesagt, also für Hollywood-Verhältnisse relativ kleine Produktionen gab es in diesem Jahr, also die mittelstark finanzierten. Ist es so ein bisschen ... Wir sehen da, dass es natürlich eine wirtschaftliche Krise gibt, die auch bei Hollywood ganz klar zu spüren ist, aber da gibt es auch eine künstlerische Krise. Ist das festzustellen gewesen 2010?
Taszman: Na, ich finde ja, dass diese wirtschaftliche Krise nur eine Behauptung ist, um sich gesundzuschrumpfen, weil ja eigentlich Hollywood davon profitiert hat. Das ist ja so, dass in Krisen die Leute ins Kino gehen, und komischerweise hat Hollywood ganz abstrus darauf reagiert und die Produktionen zurückgefahren. Und was Katja schon gesagt hat: Einerseits wird in über 100 Millionen Filme unglaublich viel reingepumpt, 3D oder nicht 3D, und dann produzieren sie nur noch ganz kleine Filme, ein kleiner Film in Hollywood ist unter 10 Millionen. Was fehlt, ist diese Mittelklasse, was fehlt, ist diese Filme, wie das früher "Tootsie" zum Beispiel mit Dustin Hoffman war oder so, die eindeutig auf Stars, auf gute Charakterdarsteller setzen, auf gute Geschichten.
Müller: "The Tourist", wenn ich das mal einwerfen darf, 100 Millionen, mit zwei Superstars.
Taszman: Na ja, das war gewiss so ein Versuch, obwohl das ja nun nicht wirklich die Mittelklasse ist, da hat man ja schon versucht sozusagen, in der ersten Liga mitzuspielen. Mir persönlich hat der Film nicht so wahnsinnig gefallen, weil er nicht weiß, was er will, er ist weder ein Thriller, er ist weder eine Komödie, und er funktioniert erst recht nicht als Liebesfilm. Es ist ein nettes, hübsch fotografiertes Nichts, würde ich sagen. Ich würde da jetzt nicht so drauf einschlagen, wie das viele meiner Kollegen machen. Das ist nicht der schlechteste Film des Jahres, man kann ihn sich angucken, aber man hat ihn auch sofort wieder vergessen. Also das ist Popcorn-Kino.
Müller: Katja, wenn Hollywood nicht weiß, was es will – ist das die Chance für das europäische Kino?
Nicodemus: Ich weiß es nicht so genau. Wir brauchen auch Hollywood, und wenn sich Hollywood jetzt nicht bald auf die Couch legt, dann weiß man nicht, wo diese Krise hinführt, weil es ist ja doch ein enormer Impuls, an dem man sich abarbeitet. Aber wenn man jetzt mal kurz nach Frankreich guckt: In diesem Jahr in Frankreich gab es drei wirklich erfolgreiche Filme, "Von Menschen und Göttern", der gerade bei uns angelaufen ist, aktuelles Thema, religiöse Debatten und so weiter, "Potiche" mit Catherine Deneuve, ein tolles Starvehikel, Schmuckstück, kommt jetzt bald bei uns ins Kino, und eben die großen Unterhaltungsfilme von Luc Besson, und alle diese Filme sind auch hier zu sehen. Aber warum gucken wir uns zum Beispiel "Willkommen bei den Sch'tis" an, Millionen Deutsche, aber kaum jemand in Frankreich würde sich "Friendship!" angucken, weil es eben nicht so einen Mut zum Regionalen gibt, daraus wieder universelle Geschichten zu entwickeln, und das ist glaube ich das Problem, und das können die Franzosen.
Müller: Bei all dem bleibt unterm Strich festzuhalten, dass fürs Arthouse-Kino das Jahr 2010 nicht nur schlecht war, sondern es gibt Leute, die sagen, es war eine Katastrophe, was da passiert ist. Der Delphi-Verleih ist pleite gegangen im zurückliegenden Jahr. Ja, da kann man jetzt spekulieren: Warum funktioniert es nicht? Warum funktioniert dieses ambitionierte Kino bei uns nicht?
Taszman: Das hängt sehr viel mit dem Verhalten des deutschen Zuschauers zusammen, also ich werde ja ganz oft gefragt, empfiehl mir doch mal einen Film, und dann kommt als Nebensatz immer gleich hinterher, der darf aber nicht traurig sein, der darf aber nicht anstrengend sein, der darf aber nicht politisch sein. Was übrig bleibt, sind irgendwelche Wohlfühlfilme, und es gibt ja mittlerweile auch schon den bösen Begriff des Kuschel-Arthouse. Also selbst im Arthouse-Bereich wollen die Leute eigentlich nur noch unterhalten werden. Sie wollen überhaupt nicht mehr mit Sorgen konfrontiert werden, und das ist in Deutschland anders als in anderen Ländern, also da ist man in anderen Ländern mehr bereit, sich auch auf andere Welten und auch auf Probleme und Konflikte einzulassen.
Müller: Wir reden seit Jahren über den großen Erfolg US-amerikanischer Fernsehserien, die wir dann auf DVD konsumieren, was heißt wir, einige Hunderttausend. Nun gab es einen Versuch in Deutschland, die Kritiker sind ausgeflippt über Dominik Grafs "Im Angesicht des Verbrechens". Und dann heißt es, ja, im Fernsehen war es dann doch wieder ein Flop, immerhin – bei ARTE wurde die Quote verdoppelt damals, aber in der ARD lief es nicht so richtig. Katja, brauchen wir vielleicht neue Schulen für neues Sehen? Was ist denn schiefgegangen, warum wird ein so grandioses Produkt nicht akzeptiert, nicht angenommen?
Nicodemus: Wir brauchen nicht unbedingt neue Schule für neues Sehen, sondern wir brauchen mutige öffentlich-rechtliche Sender, die Sendeplätze für solche tollen Projekte anwärmen. Wenn man ein solches Wagnis auf einem Sendeplatz zeigt, wo sonst irgendwie Tatort-Wiederholungen laufen, geguckt von Leuten um die 60 und 110, also gefühlt jetzt, dann muss man sich auch nicht wundern. Also man muss sozusagen auch einen pädagogischen Ansatz vom Fernsehen verlangen, das ist meine Haltung da. Ich würde es nicht sozusagen nur den Kritikern vorwerfen, dass die sich da irgendwas einbilden.
Taszman: Und ich würde sagen, also dieses Flop-Gerede, das muss man ein bisschen näher untersuchen. Ich finde jetzt, zwei Millionen Zuschauer für die Serie von Dominik Graf ist kein Flop.
Nicodemus: Welcher deutsche Film hat das übrigens, ja?
Taszman: Genau, und da muss man eben auch fragen, die Quote ist nicht runtergegangen, also es war ja nicht so, dass der bei fünf Millionen angefangen und dann bei einer Million versandet ist, sondern die Quote blieb konstant. Man kann davon ausgehen, dass die wenigen - in Anführungszeichen - Zuschauer, die das gesehen haben, relativ zufrieden mit dieser Serie waren, aber ich gebe Katja vollkommen recht: Das ist ganz schlecht versendet worden, und dann, bevor der letzte Teil war, kam schon die DVD raus. Also das ist auch eine sehr seltsame Art und Weise, mit einem Produkt umzugehen, und man hat einfach auch nicht die großen Litfasssäulen gesehen, wie es jeder Privatsender für seine TV-Serien wirbt.
Müller: Dennoch, Dominik Graf blieb ja hoffnungsvoll und sagte, na ja, vielleicht gibt es ja doch eine Fortsetzung, weil die Kritiker so begeistert waren. Unsere beiden Kritiker Katja Nicodemus und Jörg Taszman waren nicht so sehr begeistert vom Kinojahr 2010, aber wir wissen: 2011 wird ganz bestimmt viel, viel besser, auf jeden Fall, was die Zahlen angeht, mit großen Blockbustern wie "Harry Potter" oder auch "Die Piraten der Karibik". Vielen Dank Ihnen beiden fürs Kommen!
Katja Nicodemus: Hallo!
Jörg Taszman: Hallo!
Müller: Man weiß, dass auf starke Kinojahre häufig auch welche folgen, in denen die Umsätze nicht ganz so sind, aber 850 Millionen Euro sind die Deutschen bereit, auszugeben fürs Filmegucken im Kino – aber nicht für deutsche Filme. Schauen wir mal aufs deutsche Kinojahr, bis auf diesen Ausreißer "Friendship!" war da mal wieder nicht viel. Was war da los, Katja?
Nicodemus: Na, es ist ja so eigentlich, seit regelmäßigen Zeiten ist es so, dass die erfolgreichsten Filme in Deutschland sind ja Komödien. Es gibt da kleine Ausreißer, zum Beispiel jetzt, wenn der Führer im Bunker seine Suppe löffelt, aber sonst ist es schon so: Es sind immer Komödien, und natürlich dann jetzt auch "Friendship!" von Markus Goller, das ist so eine Art, ja, ein schön gemachter Multiplex-Film, eine sehr klamaukige Komödie über zwei Ostdeutsche, die durch Amerika trampen kurz nach der Wende, gut gemacht, aber es ist ein bisschen so ein Multiplex-Reißbrettfilm, aber sehr, sehr erfolgreich. Und da muss man sich ... mal schauen, es gab ja mehrere solcher Filme, auch die so ein bisschen am Reißbrett entstanden sind, unter anderem auch zwei große Genre-Versuche, nämlich "Wir sind die Nacht" mit Nina Hoss, ein Vampirfilm, und eben "Die kommenden Tage" von Lars Kraume, ein Science-Fiction ... Und da sieht man eben, wie diese Rezeptversuche so nach hinten losgehen, das sind so adaptierte amerikanische Muster, die aber irgendwie keine Substanz, keinen Kern haben, und die sind eben dann auch zu Recht gefloppt, und da muss ich mir auch sagen: Warum muss ich mir jetzt Nina Hoss mit angeklebten Eckzähnen angucken, wenn "Twilight" doch viel besser ist? Und da sieht man, dass das eben auch ein bisschen ins Leere dann dreht.
Müller: Es ist nicht exportfähig offensichtlich, wenn es aus Deutschland kommt.
Nicodemus: Überhaupt nicht.
Müller: Jörg Taszman, ich weiß von Ihnen, dass Sie sagen, es ist doch völlig egal, wie viele Leute einen Film angucken – wichtig ist, ist er gut oder nicht. Wie war es, gab es gute deutsche Filme?
Taszman: Also ich würde ganz kurz Katja ein ganz bisschen widersprechen wollen, was "Die kommenden Tage" angeht: Ich finde den nicht so misslungen, ich finde es eher nur bedenklich, dass das, was die Deutschen jetzt versuchen – nämlich Genrekino zu machen, also ein bisschen von diesen immer nur Komödien und dann ganz kleine Arthouse-Filme zu machen –, dass das dann nicht funktioniert, denke ich, das wird fatal sich auf den deutschen Film auswirken. Weil man ist in diesem Film schon ein gewisses Risiko eingegangen, wenn sich so ein Risiko nicht auszahlt, denke ich, wird die deutsche Kinobranche, die nicht sehr risikofreudig ist, das in Zukunft unterlassen. Ansonsten fand ich auch, dass der deutsche Film in diesem Jahr kein besonders gutes Jahr hatte, auch künstlerisch kein besonders gutes Jahr, auch international kein besonders gutes Jahr. Es ist auch kein Zufall, dass zum Beispiel bei den Golden-Globes-Nominierungen seit Jahren jetzt mal kein deutscher Film oder auch keine deutsche Produktion mit dabei ist. Die einzige Koproduktion, die mir einfällt, die mich sehr überzeugt hat, das war eigentlich eine Fernsehserie, nämlich "Carlos" von Olivier Assayas, das ist eine deutsch-französische Koproduktion über diesen Terroristen, der sozusagen den internationalen Terrorismus auch medial hoffähig gemacht hat.
Müller: Aber immerhin – Tom Tykwer ist in Cannes gelaufen, "Drei". Das ist doch ein Erfolg? Oder auch nicht. Er wurde ziemlich beschwiegen, glaube ich, oder?
Taszman: Der kommt noch raus. Also das ist jetzt noch zu früh, da kann man jetzt noch nichts sagen, weil der Tom Tykwer kommt als Weihnachtsfilm einen Tag vor dem Heiligen Abend, eine sehr spannende, wie ich finde, Geschichte, die übrigens keine ménage à trois ist, aber eben ein Geschlechterkampf-Film.
Nicodemus: Und ein großer Auftritt für Sophie Rois übrigens.
Müller: Also wenig Erfolgreiches aus Deutschland – liegt es vielleicht daran, dass wir keine 3D-Filme produzieren? 3D ist doch, wurde uns Anfang des Jahres gesagt, das große Ding, dahin wird alles gehen und da wird das große Geld verdient, Katja?
Nicodemus: Na ja, man muss schon sagen, also James Camerons "Avatar" hat wirklich in Deutschland in diesem Jahr einige Kinos vor dem Ruin bewahrt und hat wirklich dieses Kinojahr hochgerissen, und es ist doch einfach auch eine große Leistung. Und auch diese anderen 3D-Filme – ob man die mag oder nicht –, John Lasseter, das "Oben", das sind ja einfach sehr, sehr große, tolle, erfolgreiche Unterhaltungstanker, die muss es geben. Aber was interessant ist, dass sich einerseits das Kino so aufspaltet zwischen diesem gigantischen 3D-Event und auf der anderen Seite dieser inflationären Visualität des Digitalen, also Youtube, Internet und so weiter. Und dazwischen gibt es eigentlich im Moment nichts, da hat man das Gefühl, da muss sich das Kino noch mal neu erfinden. Zwischen diesem Event-Raum, der den Kinoraum ekstatisch feiert, und auf der anderen Seite diese digitalen, kleinen Filme, wo man das Gefühl hat, da muss es eigentlich noch mal was Neues geben, da muss es noch mal neue Vertriebs-, neue Distributionswege finden, um da noch mal eine andere Kreativität zu finden und das auch in die Kinoräume umzuleiten.
Müller: Dann sind wir in Hollywood: Viele kleine Produktionen, hätte ich fast gesagt, also für Hollywood-Verhältnisse relativ kleine Produktionen gab es in diesem Jahr, also die mittelstark finanzierten. Ist es so ein bisschen ... Wir sehen da, dass es natürlich eine wirtschaftliche Krise gibt, die auch bei Hollywood ganz klar zu spüren ist, aber da gibt es auch eine künstlerische Krise. Ist das festzustellen gewesen 2010?
Taszman: Na, ich finde ja, dass diese wirtschaftliche Krise nur eine Behauptung ist, um sich gesundzuschrumpfen, weil ja eigentlich Hollywood davon profitiert hat. Das ist ja so, dass in Krisen die Leute ins Kino gehen, und komischerweise hat Hollywood ganz abstrus darauf reagiert und die Produktionen zurückgefahren. Und was Katja schon gesagt hat: Einerseits wird in über 100 Millionen Filme unglaublich viel reingepumpt, 3D oder nicht 3D, und dann produzieren sie nur noch ganz kleine Filme, ein kleiner Film in Hollywood ist unter 10 Millionen. Was fehlt, ist diese Mittelklasse, was fehlt, ist diese Filme, wie das früher "Tootsie" zum Beispiel mit Dustin Hoffman war oder so, die eindeutig auf Stars, auf gute Charakterdarsteller setzen, auf gute Geschichten.
Müller: "The Tourist", wenn ich das mal einwerfen darf, 100 Millionen, mit zwei Superstars.
Taszman: Na ja, das war gewiss so ein Versuch, obwohl das ja nun nicht wirklich die Mittelklasse ist, da hat man ja schon versucht sozusagen, in der ersten Liga mitzuspielen. Mir persönlich hat der Film nicht so wahnsinnig gefallen, weil er nicht weiß, was er will, er ist weder ein Thriller, er ist weder eine Komödie, und er funktioniert erst recht nicht als Liebesfilm. Es ist ein nettes, hübsch fotografiertes Nichts, würde ich sagen. Ich würde da jetzt nicht so drauf einschlagen, wie das viele meiner Kollegen machen. Das ist nicht der schlechteste Film des Jahres, man kann ihn sich angucken, aber man hat ihn auch sofort wieder vergessen. Also das ist Popcorn-Kino.
Müller: Katja, wenn Hollywood nicht weiß, was es will – ist das die Chance für das europäische Kino?
Nicodemus: Ich weiß es nicht so genau. Wir brauchen auch Hollywood, und wenn sich Hollywood jetzt nicht bald auf die Couch legt, dann weiß man nicht, wo diese Krise hinführt, weil es ist ja doch ein enormer Impuls, an dem man sich abarbeitet. Aber wenn man jetzt mal kurz nach Frankreich guckt: In diesem Jahr in Frankreich gab es drei wirklich erfolgreiche Filme, "Von Menschen und Göttern", der gerade bei uns angelaufen ist, aktuelles Thema, religiöse Debatten und so weiter, "Potiche" mit Catherine Deneuve, ein tolles Starvehikel, Schmuckstück, kommt jetzt bald bei uns ins Kino, und eben die großen Unterhaltungsfilme von Luc Besson, und alle diese Filme sind auch hier zu sehen. Aber warum gucken wir uns zum Beispiel "Willkommen bei den Sch'tis" an, Millionen Deutsche, aber kaum jemand in Frankreich würde sich "Friendship!" angucken, weil es eben nicht so einen Mut zum Regionalen gibt, daraus wieder universelle Geschichten zu entwickeln, und das ist glaube ich das Problem, und das können die Franzosen.
Müller: Bei all dem bleibt unterm Strich festzuhalten, dass fürs Arthouse-Kino das Jahr 2010 nicht nur schlecht war, sondern es gibt Leute, die sagen, es war eine Katastrophe, was da passiert ist. Der Delphi-Verleih ist pleite gegangen im zurückliegenden Jahr. Ja, da kann man jetzt spekulieren: Warum funktioniert es nicht? Warum funktioniert dieses ambitionierte Kino bei uns nicht?
Taszman: Das hängt sehr viel mit dem Verhalten des deutschen Zuschauers zusammen, also ich werde ja ganz oft gefragt, empfiehl mir doch mal einen Film, und dann kommt als Nebensatz immer gleich hinterher, der darf aber nicht traurig sein, der darf aber nicht anstrengend sein, der darf aber nicht politisch sein. Was übrig bleibt, sind irgendwelche Wohlfühlfilme, und es gibt ja mittlerweile auch schon den bösen Begriff des Kuschel-Arthouse. Also selbst im Arthouse-Bereich wollen die Leute eigentlich nur noch unterhalten werden. Sie wollen überhaupt nicht mehr mit Sorgen konfrontiert werden, und das ist in Deutschland anders als in anderen Ländern, also da ist man in anderen Ländern mehr bereit, sich auch auf andere Welten und auch auf Probleme und Konflikte einzulassen.
Müller: Wir reden seit Jahren über den großen Erfolg US-amerikanischer Fernsehserien, die wir dann auf DVD konsumieren, was heißt wir, einige Hunderttausend. Nun gab es einen Versuch in Deutschland, die Kritiker sind ausgeflippt über Dominik Grafs "Im Angesicht des Verbrechens". Und dann heißt es, ja, im Fernsehen war es dann doch wieder ein Flop, immerhin – bei ARTE wurde die Quote verdoppelt damals, aber in der ARD lief es nicht so richtig. Katja, brauchen wir vielleicht neue Schulen für neues Sehen? Was ist denn schiefgegangen, warum wird ein so grandioses Produkt nicht akzeptiert, nicht angenommen?
Nicodemus: Wir brauchen nicht unbedingt neue Schule für neues Sehen, sondern wir brauchen mutige öffentlich-rechtliche Sender, die Sendeplätze für solche tollen Projekte anwärmen. Wenn man ein solches Wagnis auf einem Sendeplatz zeigt, wo sonst irgendwie Tatort-Wiederholungen laufen, geguckt von Leuten um die 60 und 110, also gefühlt jetzt, dann muss man sich auch nicht wundern. Also man muss sozusagen auch einen pädagogischen Ansatz vom Fernsehen verlangen, das ist meine Haltung da. Ich würde es nicht sozusagen nur den Kritikern vorwerfen, dass die sich da irgendwas einbilden.
Taszman: Und ich würde sagen, also dieses Flop-Gerede, das muss man ein bisschen näher untersuchen. Ich finde jetzt, zwei Millionen Zuschauer für die Serie von Dominik Graf ist kein Flop.
Nicodemus: Welcher deutsche Film hat das übrigens, ja?
Taszman: Genau, und da muss man eben auch fragen, die Quote ist nicht runtergegangen, also es war ja nicht so, dass der bei fünf Millionen angefangen und dann bei einer Million versandet ist, sondern die Quote blieb konstant. Man kann davon ausgehen, dass die wenigen - in Anführungszeichen - Zuschauer, die das gesehen haben, relativ zufrieden mit dieser Serie waren, aber ich gebe Katja vollkommen recht: Das ist ganz schlecht versendet worden, und dann, bevor der letzte Teil war, kam schon die DVD raus. Also das ist auch eine sehr seltsame Art und Weise, mit einem Produkt umzugehen, und man hat einfach auch nicht die großen Litfasssäulen gesehen, wie es jeder Privatsender für seine TV-Serien wirbt.
Müller: Dennoch, Dominik Graf blieb ja hoffnungsvoll und sagte, na ja, vielleicht gibt es ja doch eine Fortsetzung, weil die Kritiker so begeistert waren. Unsere beiden Kritiker Katja Nicodemus und Jörg Taszman waren nicht so sehr begeistert vom Kinojahr 2010, aber wir wissen: 2011 wird ganz bestimmt viel, viel besser, auf jeden Fall, was die Zahlen angeht, mit großen Blockbustern wie "Harry Potter" oder auch "Die Piraten der Karibik". Vielen Dank Ihnen beiden fürs Kommen!