Wenig Wissen, viel Interesse
Bei Jugendlichen - egal ob deutscher oder ausländischer Herkunft - ist wenig Wissen über den Holocaust vorhanden, sagt Yasmin Kassar von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. Wenn man das Thema "interaktiv" in den Unterricht einbaue, seien die Jugendlichen aber sehr interessiert und zeigten große Empathie für die Leiden der Juden in der NS-Zeit.
Dieter Kassel: Heute vor 65 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Der 27. Januar ist deshalb Gedenktag, Holocaust-Gedenktag. Das ist er in Deutschland seit 1996, weltweit ganz offiziell als UN-Gedenktag seit 2005, und das bedeutet, dass heute natürlich in vielen Ländern viele Veranstaltungen stattfinden, unter anderem auch in der Stadt Auschwitz in Polen. Da treffen sich nämlich die EU-Bildungsminister, um darüber zu reden, wie das Gedenken an diesen Tag, wie aber auch die Erinnerungen an dieses Kapitel der deutschen, aber ja auch der europäischen Geschichte in Schulen besser vermittelt werden. Das Interesse lässt nicht unbedingt nach, wenn man sich alle Umfragen genau anguckt, aber das Wissen, das lässt zum Teil ein bisschen nach.
Das lässt auch nach, so konnten wir das letzte Woche in der Wochenzeitung "Die Zeit" lesen, bei den Deutschen, die aus Migrantenfamilien stammen. Konkret gab es eine Umfrage unter der türkischstämmigen Bevölkerung, die unter anderem gezeigt hat, dass zwei Drittel dort nichts oder zumindest sehr wenig über den Holocaust und über diesen Teil der Geschichte wissen.
Im Studio bei mir sind heute Vormittag zwei Menschen, die beide versuchen, daran etwas zu ändern, in Berlin und teilweise mit einem Projekt auch bundesweit. Ich begrüße von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus hier im Studio zum einen Yasmin Kassar, schönen guten Morgen!
Yasmin Kassar: Guten Morgen!
Kassel: Und zum anderen Aycan Demirel.
Aycan Demirel: Guten Morgen!
Kassel: Sie sind auch von der Initiative, aber, weil wir auch darüber reden werden, erwähne ich das jetzt schon, Sie sind auch im Moment der Leiter eines bundesweiten Projekts mit dem schönen deutschen Verwaltungsnamen "Pädagogische Module gegen Antisemitismus bei muslimisch geprägten Jugendlichen". Der 27. Januar, für wie viele türkischstämmige Jugendliche oder auch arabischstämmige Jugendliche in Deutschland ist das überhaupt ein besonderer Tag, was wissen die über diesen Tag?
Demirel: Also Holocaust und Nationalsozialismus ist ja ein Teil des Geschichtsunterrichts, insofern wird hier in der Schule darüber gesprochen, das ist ja ein Teil des Rahmenlehrplans. In diesem Rahmen werden Jugendliche in den Schulen auch mit der deutschen Geschichte, mit dem Kapitel dieser Geschichte, der Schoah, auch konfrontiert. Und wie erfolgreich diese Begegnung in der Schule funktioniert, da kann man tatsächlich auch Skepsis äußern. Was wir aus unserer Praxis immer wieder merken, dass wenig Wissen über Schoah eigentlich vorherrscht.
Kassel: Frau Kasar, es ist ja ein Unterschied, Wissen und Interesse. Wenn Sie konkret in Schulen gehen, an welchen Tagen auch immer – heute tun Sie es natürlich besonders intensiv –, was treffen Sie dann da an, gerade bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund? Interessiert die das überhaupt?
Kassar: Also erst mal würde ich da nicht grundsätzlich differieren zwischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und herkunftsdeutschen Jugendlichen. Das Interesse ist eigentlich auf beiden Seiten eher gering. Meistens kommt dann, ja, schon wieder Holocaust, schon wieder Zweiter Weltkrieg. Und wenn wir dann anfangen, mit unseren Methoden – wir gehen da sehr interaktiv ran –, dann kann man schnell sehen, dass ein großes Interesse eigentlich vorherrscht an diesem Thema, wenig Wissen vorhanden ist – das ist immer eine Sache, die mich zum Beispiel sehr wundert.
Selber bin ich hier zur Schule gegangen, und ich habe oft mit dieser Thematik zu tun gehabt und auch immer eine sehr große Empathie für die Juden, was sie hier erlebt haben, das ganze Leid im Zuge des Holocaust, das sind so Sachen, die wir immer antreffen, und da würde ich nicht großartig differieren zwischen herkunftsdeutschen Jugendlichen und Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
Kassel: Wundert es Sie, weil mir ging es genauso, was Sie gerade gesagt haben, auch über Ihre eigenen Schulerfahrungen, man hat ja eigentlich, war bei mir auch so, im Geschichtsunterricht und in vielen anderen Fächern sehr viel darüber gehört. Was ist denn Ihre Erklärung dafür, dass Sie dann heute in Schulen kommen und teilweise doch zumindest am Anfang sehr erstaunt waren, wie wenig die dann wissen, die Schülerinnen und Schüler?
Kassar: Das ist, was Herr Demirel schon angesprochen hat, also wo ich Kritik üben könnte, auch an meinem Unterricht damals, dass das alles sehr trocken war. Also wissen Sie, das war ein Gespräch zwischen Lehrern und Schülern, eher Datenvermittlung, Faktenvermittlung, das war sehr trockener Unterricht, und das ist es teilweise heute noch. Und wenn wir dann mit den Jugendlichen mit einem lokalen Ansatz und mit einem biografischen Ansatz arbeiten, ja, das ist mehr interaktiv, da beteiligen sich die Jugendlichen mehr und da ist gleich mehr Interesse da und mehr Engagement, als wenn man diesen trockenen Geschichtsunterricht hat.
Kassel: Wie schwierig wird das Ganze denn, wenn man, das ist ja auch nötig, damit es nicht so trocken ist, wenn man nicht nur über die Vergangenheit redet, sondern über die Bedeutung für heute? Und da, denke ich, muss es ja fast doch einen Unterschied geben zwischen Herkunftsdeutschen und Deutschen mit Migrationshintergrund, so sie aus muslimischen Familien kommen, denn, Herr Demirel, welche Rolle spielt denn dann zum Beispiel der israelisch-palästinensische Konflikt, wenn man heute darüber redet, was für ein spezielles Verhältnis ja die Bundesrepublik zu Israel immer noch hat?
Demirel: Ja, das spielt tatsächlich eine große Rolle. Jugendliche, selbst wenn wir über Schoah in den Schulklassen reden, nehmen direkten Bezug auf den Nahostkonflikt und versuchen, ihre Interessen, das sie als ihre Interessen proklamieren, also die Sache der Palästinenser zur Sprache zu bringen, das Leid der Palästinenser und israelische Politik kritisieren und versuchen sozusagen, die Thematisierung von Nahostkonflikt in den Unterricht zu integrieren.
Kassel: Wir reden heute Vormittag im Deutschlandradio Kultur am Holocaust-Gedenktag, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, mit Aycan Demirel und Yasmin Kassar von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus über die Einstellungen, aber auch schlichtweg das Wissen über den Holocaust unter Jugendlichen in Deutschland mit Migrationshintergrund. Frau Kassar, wenn ich mir jetzt vorstelle, man muss ja immer unterscheiden, aber wenn wir jetzt zum Beispiel mal bei türkischstämmigen Jugendlichen bleiben, die vielleicht hier schon geboren sind, die vielleicht einen deutschen Pass haben oder beide, wenn sie noch so jung sind, das geht, die sind ja dann, das sagen die auch oft, türkische Deutsche, so nennen die sich ja zum Teil. Ist für die dieser Teil der deutschen Geschichte, der Nationalsozialismus, auch ein Teil ihrer eigenen Geschichte?
Kassar: Leider noch nicht so, wie wir uns das oft wünschen. Das hat viele Gründe, zum einen, weil die Jugendlichen selbst immer ihre türkische Identität, jetzt zum Beispiel bei türkischen Jugendlichen, oder bei arabischen Jugendlichen ihre arabische Identität, sehr herausbauen. Zum Beispiel, wenn man einen Jugendlichen fragt, mit türkischem Hintergrund, ja, als was fühlst du dich, was bist du, dann kommt sofort: Ja, ich bin Türke. Obwohl sie, wie Sie schon gesagt haben, oft den deutschen Pass haben, hier aufgewachsen sind, zur Schule gegangen sind, ja, die Türkei nur als Urlaubsland kennen, kommt dann ganz oft der Rückzug auf die türkische Identität.
Das ist zum Beispiel ein Grund, weswegen die türkischen Jugendlichen ja nicht so den Bezug haben zum Nationalsozialismus wie zum Beispiel ein herkunftsdeutscher Schüler mit einer deutschen Oma, die vielleicht zu der Zeit gelebt hat, oder einem Opa, der im Zweiten Weltkrieg gekämpft hat, also da sind schon Unterschiede zu sehen, ja.
Kassel: Wie sehen denn eigentlich diese Jugendlichen, also die mit Migrationshintergrund, den Umgang der Deutschen, der, ich habe mich jetzt auch an das Wort gewöhnt, Herkunftsdeutschen mit diesem Teil der Geschichte? Wir haben ja, als Sie, Frau Kassar, auch über den Unterricht gesprochen haben, auch zugeben müssen, das ist ein bisschen auch, ich sag es mal ganz polemisch, vertrocknet in der Art und Weise, wie damit umgegangen wird. Und auch wenn man die Fernsehberichte darüber sieht, heute gibt es, ich habe gar nicht nachgeguckt, bestimmt wieder viele im Abendprogramm. Da sagen ja auch manche so abends und heimlich privat auch als Deutsche, ich kann es nicht mehr hören, es gibt auch andere Themen auf der Welt. Ist das eine Einstellung, die Sie da auch antreffen in den Schulen?
Demirel: Ich denke ja, das sieht man ja auch bei der "Zeit"-Studie. Die Beschäftigung mit der deutschen Geschichte, wie die Deutschen damit umgehen, wird ja meistens als Schwäche bezeichnet, beziehungsweise von außen gezwungen. Und diesen Einstellungsmustern tatsächlich begegnen wir auch oft. Das heißt, die Deutschen müssen mit ihrer Geschichte sich auseinandersetzen, weil das von außen auch so gewollt ist, das heißt, anderen mächtigen, ich weiß es nicht, ob gemeint Juden oder Amerikaner, die sozusagen Deutschen da diesen Zwang auferlegen. Und diesen Deutungsmustern begegnen wir tatsächlich oft. Das heißt, die Deutschen durch ihre Geschichte, durch die Verantwortung, die die Geschichte hergibt, müssen sich damit auseinandersetzen, das wird auch von außen ihnen aufgezwungen. Das ist auch eines der gängigen Muster tatsächlich.
Kassel: Ist das auch ein Problem vielleicht gerade, bleiben wir mal wieder bei den türkischstämmigen Jugendlichen, wenn man sich anguckt, wie ein doch auch demokratisches und säkulares Land wie die Türkei Geschichte vermittelt. Wir kennen ja diesen seit Jahren schwelenden Konflikt auch mit der EU, daran hängt ja sogar die Frage einer möglichen Mitgliedschaft, die Aufarbeitung des Mordes an den Armeniern. Und dann merkt man ja, wenn man auch über diesen Einzelfall hinausgeht, das ist schon noch diese Geschichte der Heldentaten, gibt es aber auch woanders, gibt es in Frankreich auch oder sonst wo auf der Welt, dass Geschichte vermittelt wird als eine Abfolge von Siegen, von großen Errungenschaften, von berühmten Menschen.
Ist das vielleicht manchmal ein Problem für türkischstämmige Jugendliche, für andere, diese deutsche Geschichtsschreibung zu sehen, weil wir ja doch, die Herkunftsdeutschen, immer gerne darauf hinweisen, was alles schlimm war und was wir alles nicht gekonnt haben.
Demirel: Das kann ich tatsächlich nicht so bestätigen, weil Jugendliche eigentlich über die türkische Geschichte, osmanische Geschichte kaum was wissen. Insofern, dieser Stolz in Bezug auf die Geschichte hat auch keinen richtigen Hintergrund, weil sie ja schlicht weder in der Schule sonst Vermittlung dieser Geschichte haben können.
Kassel: Das wäre jetzt eigentlich schon das nächste Thema, nämlich die Frage, wie die türkische und dann vielleicht auch irgendwann die syrische und sonstige Geschichte an den Schulen vermittelt wird. Zum Schluss, ich muss mich ja noch mal bedanken, dass Sie heute Morgen überhaupt zu uns gekommen sind, weil natürlich ein solcher Tag wie der heutige Gedenktag, für Sie ein enorm voller Tag ist. Was werden Sie heute speziell an den Schulen denn alles machen, wie viel Schulen sind es ungefähr? Ich denke, mehrere heute?
Kassar: Ja, sind es mehrere. Wir werden zum einen am Oberstufenzentrum in Steglitz ein Unterrichtsmodul anwenden, zwei um genau zu sein – eins zum Nahostkonflikt, wo wir mit den Jugendlichen arbeiten werden, und ein anderes Modul zum jüdischen Leben in Kreuzberg, das ist dieses Modul, was ich erwähnt hatte, mit dem lokalen und biografischen Ansatz.
Aycan und ich werden nach diesem Interview zur Fachschule für Sozialpädagogik gehen und unser Modul zum islamistischen Antisemitismus anwenden, sehr interessant, da geht es um die These, die von Islamisten propagiert wird, der ewigen Feindschaft zwischen Juden und Muslimen.
Und dann werden wir mit Jugendlichen Geschichten erarbeiten, und zwar Geschichten über jüdische und muslimische Geschichten, also aktuell und in der Vergangenheit, dass die Jugendlichen ein anderes Bild kriegen, dass diese These der Feindschaft aufgebrochen wird und dass die Jugendlichen auch wissen, dass es durchaus positive Erfahrungen gibt von Juden im islamischen Kulturraum.
Kassel: Kommen eigentlich die Schulen, nicht nur am heutigen Tag, generell bei Ihrer Arbeit, die Schulen auf Sie zu oder müssen Sie sich doch drum kümmern, dass die überhaupt erst merken, dass es solche Angebote gibt?
Demirel: Wir machen ja in der Regel Modellprojekte, insofern müssen wir nicht viel Schulakquise machen. In der Regel melden sich die Schulen, also wie in diesem Fall haben die Schulen sich bei uns gemeldet und wir bieten dann, wenn wir Kapazitäten haben, diese Anwendungen an.
Kassel: Danke Ihnen, Aycan Demirel und Yasmin Kassar von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus vor einem anstrengenden Tag noch bei uns, danke fürs Kommen!
Demirel: Danke!
Kassar: Danke schön!
Das lässt auch nach, so konnten wir das letzte Woche in der Wochenzeitung "Die Zeit" lesen, bei den Deutschen, die aus Migrantenfamilien stammen. Konkret gab es eine Umfrage unter der türkischstämmigen Bevölkerung, die unter anderem gezeigt hat, dass zwei Drittel dort nichts oder zumindest sehr wenig über den Holocaust und über diesen Teil der Geschichte wissen.
Im Studio bei mir sind heute Vormittag zwei Menschen, die beide versuchen, daran etwas zu ändern, in Berlin und teilweise mit einem Projekt auch bundesweit. Ich begrüße von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus hier im Studio zum einen Yasmin Kassar, schönen guten Morgen!
Yasmin Kassar: Guten Morgen!
Kassel: Und zum anderen Aycan Demirel.
Aycan Demirel: Guten Morgen!
Kassel: Sie sind auch von der Initiative, aber, weil wir auch darüber reden werden, erwähne ich das jetzt schon, Sie sind auch im Moment der Leiter eines bundesweiten Projekts mit dem schönen deutschen Verwaltungsnamen "Pädagogische Module gegen Antisemitismus bei muslimisch geprägten Jugendlichen". Der 27. Januar, für wie viele türkischstämmige Jugendliche oder auch arabischstämmige Jugendliche in Deutschland ist das überhaupt ein besonderer Tag, was wissen die über diesen Tag?
Demirel: Also Holocaust und Nationalsozialismus ist ja ein Teil des Geschichtsunterrichts, insofern wird hier in der Schule darüber gesprochen, das ist ja ein Teil des Rahmenlehrplans. In diesem Rahmen werden Jugendliche in den Schulen auch mit der deutschen Geschichte, mit dem Kapitel dieser Geschichte, der Schoah, auch konfrontiert. Und wie erfolgreich diese Begegnung in der Schule funktioniert, da kann man tatsächlich auch Skepsis äußern. Was wir aus unserer Praxis immer wieder merken, dass wenig Wissen über Schoah eigentlich vorherrscht.
Kassel: Frau Kasar, es ist ja ein Unterschied, Wissen und Interesse. Wenn Sie konkret in Schulen gehen, an welchen Tagen auch immer – heute tun Sie es natürlich besonders intensiv –, was treffen Sie dann da an, gerade bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund? Interessiert die das überhaupt?
Kassar: Also erst mal würde ich da nicht grundsätzlich differieren zwischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und herkunftsdeutschen Jugendlichen. Das Interesse ist eigentlich auf beiden Seiten eher gering. Meistens kommt dann, ja, schon wieder Holocaust, schon wieder Zweiter Weltkrieg. Und wenn wir dann anfangen, mit unseren Methoden – wir gehen da sehr interaktiv ran –, dann kann man schnell sehen, dass ein großes Interesse eigentlich vorherrscht an diesem Thema, wenig Wissen vorhanden ist – das ist immer eine Sache, die mich zum Beispiel sehr wundert.
Selber bin ich hier zur Schule gegangen, und ich habe oft mit dieser Thematik zu tun gehabt und auch immer eine sehr große Empathie für die Juden, was sie hier erlebt haben, das ganze Leid im Zuge des Holocaust, das sind so Sachen, die wir immer antreffen, und da würde ich nicht großartig differieren zwischen herkunftsdeutschen Jugendlichen und Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
Kassel: Wundert es Sie, weil mir ging es genauso, was Sie gerade gesagt haben, auch über Ihre eigenen Schulerfahrungen, man hat ja eigentlich, war bei mir auch so, im Geschichtsunterricht und in vielen anderen Fächern sehr viel darüber gehört. Was ist denn Ihre Erklärung dafür, dass Sie dann heute in Schulen kommen und teilweise doch zumindest am Anfang sehr erstaunt waren, wie wenig die dann wissen, die Schülerinnen und Schüler?
Kassar: Das ist, was Herr Demirel schon angesprochen hat, also wo ich Kritik üben könnte, auch an meinem Unterricht damals, dass das alles sehr trocken war. Also wissen Sie, das war ein Gespräch zwischen Lehrern und Schülern, eher Datenvermittlung, Faktenvermittlung, das war sehr trockener Unterricht, und das ist es teilweise heute noch. Und wenn wir dann mit den Jugendlichen mit einem lokalen Ansatz und mit einem biografischen Ansatz arbeiten, ja, das ist mehr interaktiv, da beteiligen sich die Jugendlichen mehr und da ist gleich mehr Interesse da und mehr Engagement, als wenn man diesen trockenen Geschichtsunterricht hat.
Kassel: Wie schwierig wird das Ganze denn, wenn man, das ist ja auch nötig, damit es nicht so trocken ist, wenn man nicht nur über die Vergangenheit redet, sondern über die Bedeutung für heute? Und da, denke ich, muss es ja fast doch einen Unterschied geben zwischen Herkunftsdeutschen und Deutschen mit Migrationshintergrund, so sie aus muslimischen Familien kommen, denn, Herr Demirel, welche Rolle spielt denn dann zum Beispiel der israelisch-palästinensische Konflikt, wenn man heute darüber redet, was für ein spezielles Verhältnis ja die Bundesrepublik zu Israel immer noch hat?
Demirel: Ja, das spielt tatsächlich eine große Rolle. Jugendliche, selbst wenn wir über Schoah in den Schulklassen reden, nehmen direkten Bezug auf den Nahostkonflikt und versuchen, ihre Interessen, das sie als ihre Interessen proklamieren, also die Sache der Palästinenser zur Sprache zu bringen, das Leid der Palästinenser und israelische Politik kritisieren und versuchen sozusagen, die Thematisierung von Nahostkonflikt in den Unterricht zu integrieren.
Kassel: Wir reden heute Vormittag im Deutschlandradio Kultur am Holocaust-Gedenktag, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, mit Aycan Demirel und Yasmin Kassar von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus über die Einstellungen, aber auch schlichtweg das Wissen über den Holocaust unter Jugendlichen in Deutschland mit Migrationshintergrund. Frau Kassar, wenn ich mir jetzt vorstelle, man muss ja immer unterscheiden, aber wenn wir jetzt zum Beispiel mal bei türkischstämmigen Jugendlichen bleiben, die vielleicht hier schon geboren sind, die vielleicht einen deutschen Pass haben oder beide, wenn sie noch so jung sind, das geht, die sind ja dann, das sagen die auch oft, türkische Deutsche, so nennen die sich ja zum Teil. Ist für die dieser Teil der deutschen Geschichte, der Nationalsozialismus, auch ein Teil ihrer eigenen Geschichte?
Kassar: Leider noch nicht so, wie wir uns das oft wünschen. Das hat viele Gründe, zum einen, weil die Jugendlichen selbst immer ihre türkische Identität, jetzt zum Beispiel bei türkischen Jugendlichen, oder bei arabischen Jugendlichen ihre arabische Identität, sehr herausbauen. Zum Beispiel, wenn man einen Jugendlichen fragt, mit türkischem Hintergrund, ja, als was fühlst du dich, was bist du, dann kommt sofort: Ja, ich bin Türke. Obwohl sie, wie Sie schon gesagt haben, oft den deutschen Pass haben, hier aufgewachsen sind, zur Schule gegangen sind, ja, die Türkei nur als Urlaubsland kennen, kommt dann ganz oft der Rückzug auf die türkische Identität.
Das ist zum Beispiel ein Grund, weswegen die türkischen Jugendlichen ja nicht so den Bezug haben zum Nationalsozialismus wie zum Beispiel ein herkunftsdeutscher Schüler mit einer deutschen Oma, die vielleicht zu der Zeit gelebt hat, oder einem Opa, der im Zweiten Weltkrieg gekämpft hat, also da sind schon Unterschiede zu sehen, ja.
Kassel: Wie sehen denn eigentlich diese Jugendlichen, also die mit Migrationshintergrund, den Umgang der Deutschen, der, ich habe mich jetzt auch an das Wort gewöhnt, Herkunftsdeutschen mit diesem Teil der Geschichte? Wir haben ja, als Sie, Frau Kassar, auch über den Unterricht gesprochen haben, auch zugeben müssen, das ist ein bisschen auch, ich sag es mal ganz polemisch, vertrocknet in der Art und Weise, wie damit umgegangen wird. Und auch wenn man die Fernsehberichte darüber sieht, heute gibt es, ich habe gar nicht nachgeguckt, bestimmt wieder viele im Abendprogramm. Da sagen ja auch manche so abends und heimlich privat auch als Deutsche, ich kann es nicht mehr hören, es gibt auch andere Themen auf der Welt. Ist das eine Einstellung, die Sie da auch antreffen in den Schulen?
Demirel: Ich denke ja, das sieht man ja auch bei der "Zeit"-Studie. Die Beschäftigung mit der deutschen Geschichte, wie die Deutschen damit umgehen, wird ja meistens als Schwäche bezeichnet, beziehungsweise von außen gezwungen. Und diesen Einstellungsmustern tatsächlich begegnen wir auch oft. Das heißt, die Deutschen müssen mit ihrer Geschichte sich auseinandersetzen, weil das von außen auch so gewollt ist, das heißt, anderen mächtigen, ich weiß es nicht, ob gemeint Juden oder Amerikaner, die sozusagen Deutschen da diesen Zwang auferlegen. Und diesen Deutungsmustern begegnen wir tatsächlich oft. Das heißt, die Deutschen durch ihre Geschichte, durch die Verantwortung, die die Geschichte hergibt, müssen sich damit auseinandersetzen, das wird auch von außen ihnen aufgezwungen. Das ist auch eines der gängigen Muster tatsächlich.
Kassel: Ist das auch ein Problem vielleicht gerade, bleiben wir mal wieder bei den türkischstämmigen Jugendlichen, wenn man sich anguckt, wie ein doch auch demokratisches und säkulares Land wie die Türkei Geschichte vermittelt. Wir kennen ja diesen seit Jahren schwelenden Konflikt auch mit der EU, daran hängt ja sogar die Frage einer möglichen Mitgliedschaft, die Aufarbeitung des Mordes an den Armeniern. Und dann merkt man ja, wenn man auch über diesen Einzelfall hinausgeht, das ist schon noch diese Geschichte der Heldentaten, gibt es aber auch woanders, gibt es in Frankreich auch oder sonst wo auf der Welt, dass Geschichte vermittelt wird als eine Abfolge von Siegen, von großen Errungenschaften, von berühmten Menschen.
Ist das vielleicht manchmal ein Problem für türkischstämmige Jugendliche, für andere, diese deutsche Geschichtsschreibung zu sehen, weil wir ja doch, die Herkunftsdeutschen, immer gerne darauf hinweisen, was alles schlimm war und was wir alles nicht gekonnt haben.
Demirel: Das kann ich tatsächlich nicht so bestätigen, weil Jugendliche eigentlich über die türkische Geschichte, osmanische Geschichte kaum was wissen. Insofern, dieser Stolz in Bezug auf die Geschichte hat auch keinen richtigen Hintergrund, weil sie ja schlicht weder in der Schule sonst Vermittlung dieser Geschichte haben können.
Kassel: Das wäre jetzt eigentlich schon das nächste Thema, nämlich die Frage, wie die türkische und dann vielleicht auch irgendwann die syrische und sonstige Geschichte an den Schulen vermittelt wird. Zum Schluss, ich muss mich ja noch mal bedanken, dass Sie heute Morgen überhaupt zu uns gekommen sind, weil natürlich ein solcher Tag wie der heutige Gedenktag, für Sie ein enorm voller Tag ist. Was werden Sie heute speziell an den Schulen denn alles machen, wie viel Schulen sind es ungefähr? Ich denke, mehrere heute?
Kassar: Ja, sind es mehrere. Wir werden zum einen am Oberstufenzentrum in Steglitz ein Unterrichtsmodul anwenden, zwei um genau zu sein – eins zum Nahostkonflikt, wo wir mit den Jugendlichen arbeiten werden, und ein anderes Modul zum jüdischen Leben in Kreuzberg, das ist dieses Modul, was ich erwähnt hatte, mit dem lokalen und biografischen Ansatz.
Aycan und ich werden nach diesem Interview zur Fachschule für Sozialpädagogik gehen und unser Modul zum islamistischen Antisemitismus anwenden, sehr interessant, da geht es um die These, die von Islamisten propagiert wird, der ewigen Feindschaft zwischen Juden und Muslimen.
Und dann werden wir mit Jugendlichen Geschichten erarbeiten, und zwar Geschichten über jüdische und muslimische Geschichten, also aktuell und in der Vergangenheit, dass die Jugendlichen ein anderes Bild kriegen, dass diese These der Feindschaft aufgebrochen wird und dass die Jugendlichen auch wissen, dass es durchaus positive Erfahrungen gibt von Juden im islamischen Kulturraum.
Kassel: Kommen eigentlich die Schulen, nicht nur am heutigen Tag, generell bei Ihrer Arbeit, die Schulen auf Sie zu oder müssen Sie sich doch drum kümmern, dass die überhaupt erst merken, dass es solche Angebote gibt?
Demirel: Wir machen ja in der Regel Modellprojekte, insofern müssen wir nicht viel Schulakquise machen. In der Regel melden sich die Schulen, also wie in diesem Fall haben die Schulen sich bei uns gemeldet und wir bieten dann, wenn wir Kapazitäten haben, diese Anwendungen an.
Kassel: Danke Ihnen, Aycan Demirel und Yasmin Kassar von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus vor einem anstrengenden Tag noch bei uns, danke fürs Kommen!
Demirel: Danke!
Kassar: Danke schön!