Der Papst-Effekt bleibt aus
Missbrauchs-Skandal führt zu schlechtem Ruf führt zu Nachwuchssorgen. So einfach sind Zusammenhänge manchmal. Im katholisch geprägten Argentinien werden die Priesterseminare leerer. Nicht mal in der Heimat des Papstes hat die Kirche Zulauf.
Eine katholische Kirchengemeinde in Argentiniens Hauptstadt: Der junge Pfarrvikar Patricio Etchepareborda feiert die Samstagabend-Messe. Später wird er erzählen, dass er sich schon mit zwölf Jahren zum Priester berufen fühlte, als er eine Schule des Maristen-Ordens besuchte. Ordiniert wurde Padre Patricio vom früheren Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Bergoglio, dem heutigen Papst Franziskus.
2011 war das, und gemeinsam mit Patricio Etchepareborda erhielten in jenem Jahr zehn andere junge Männer die Priesterweihe. Inzwischen aber ist die Zahl neuer Priester in Buenos Aires auf drei bis fünf pro Jahr gesunken.
Immer weniger Priester werden berufen
Padre Patricio: "Als ich ins Priesterseminar von Buenos Aires eingetreten bin, waren wir mehr als hundert – heute studieren dort kaum mehr als sechzig Pfarramts-Anwärter. Dass der Papst von hier stammt, hat nicht zu mehr Berufungen in Argentinien geführt."
Während in Asien und Afrika die Zahl der Seminarschüler und Priester in den vergangenen Jahren gestiegen ist, sind im traditionell katholischen Lateinamerika - ähnlich wie in Europa - immer weniger junge Frauen und Männer dazu bereit, ihr Leben komplett der Kirche zu widmen. Alejandro Giorgi ist Weihbischof von Buenos Aires und zuständig für das Thema Berufungen.
Giorgi: "Wir haben keine sehr überzeugende Erklärung für unser Nachwuchsproblem. Manche hatten tatsächlich einen Franziskus-Effekt in den Priesterseminaren erwartet, doch der ist ausgeblieben. Es erfüllt uns mit großer Sorge, dass in Argentinien und vielen anderen Ländern Lateinamerikas seit mehr als einem Jahrzehnt die Berufungen zurückgehen."
Teil einer größeren Krise
Besonders vom Nachwuchsmangel betroffen sind Ordensgemeinschaften. Vor allem immer weniger Frauen seien gewillt, die Gelübde abzulegen und sich den männlichen Machtstrukturen in der katholischen Kirche unterzuordnen, sagt der argentinische Religionssoziologe Fortunato Mallimaci. Als Grund für die Personalprobleme der Institution nennt er die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaften.
Mallimaci: "Argentinien etwa hat eine sehr weltliche Gesellschaft, wo jeder individuell nach Sinn sucht und seinen Glauben bestimmt. Die Religion ist nur einer von vielen Faktoren und längst nicht mehr der wichtigste."
Kein Zweifel: Die Berufungskrise ist Teil einer größeren Krise der Kirche in Lateinamerika. Nicht nur praktizieren immer weniger Katholiken ihren Glauben – es wandern auch immer mehr Gläubige zum Protestantismus ab. Laut einer aktuellen Umfrage gehören inzwischen fast zwanzig Prozent der Lateinamerikaner evangelikalen Kirchen an, während der Anteil bekennender Katholiken von achtzig Prozent Mitte der 1990er-Jahre auf heute knapp sechzig Prozent gesunken ist.
Junge Leute kehren der Kirche den Rücken
Angesichts der Vielzahl spiritueller und weltlicher Alternativangebote fällt es der katholischen Kirche immer schwerer, junge Menschen anzusprechen. Bischof Alejandro Giorgi, in Buenos Aires auch für die Jugendpastoral verantwortlich, räumt das ohne Umschweife ein.
Giorgi: "In Argentinien haben die jungen Leute den Kirchengemeinden den Rücken gekehrt. Vor der Jugendsynode in Rom baten wir Jugendliche, Fragebögen auszufüllen. Ihre Antworten zeigen uns: Wir als Kirche müssen auf sie zugehen. Die Jugend verwirklicht ihre Ideale heute woanders – in NGOs, bei solidarischen Aktionen oder in der Politik. Die Kirche hat bislang keine neuen Räume geschaffen, um junge Leute anzusprechen."
Joaquin Pousadela: "Weniger Jugendliche in den Gemeinden, das bedeutet natürlich auch: Weniger Leute, die sich für den absoluten Weg des Priestertums entscheiden."
So der Seminarschüler Joaquín Pousadela. Über den Zölibat, das Keuschheitsgelübde von Priestern und Ordensmitgliedern, das viele für den Rückgang der Berufungen verantwortlich machen, sollte die Kirche seiner Meinung nach debattieren.
Ist der Zölibat noch zeitgemäß?
Pousadela: "Diese Haltung wünsche ich mir von der Kirche: Dass sie Entscheidungen überprüft, die irgendwann einmal getroffen wurden, und überlegt, ob sie noch zeitgemäß sind. Davor sollten wir keine Angst haben."
Für den Religionssoziologen Fortunato Mallimaci ist die Debatte über den Zölibat zwar überfällig, er glaubt aber nicht, dass eine katholische Kirche, in der Priester heiraten dürfen, keine Nachwuchsprobleme mehr hätte.
Mallimaci: "Den Zölibat hat es nicht immer gegeben, man könnte ihn auch wieder abschaffen. Ich kann mir vorstellen, dass die Kirche die Priester irgendwann frei entscheiden lässt. Aber damit würde das Problem der fehlenden Berufungen nicht gelöst! Auch der Protestantismus hat schließlich Nachwuchssorgen! Mir scheint, dass die Ursachen tiefer liegen und auch etwas mit den Macht- und Autoritätsstrukturen der katholischen Kirche zu tun haben."
Missbrauch schürt Misstrauen
In Argentiniens Nachbarland Chile steckt der Katholizismus in einer besonders tiefen Krise: Die Skandale um sexuellen Missbrauch durch Geistliche und die jahrzehntelange Vertuschung haben das Vertrauen in die Kirche schwer beschädigt. Deutlich weniger junge Menschen als früher wollen der Institution angehören. So ist die Zahl der Seminarschüler in den vergangenen fünfzehn Jahren um fast ein Drittel gesunken.
Um den Attraktivitätsverlust aufzuhalten, fordern Kritiker wie der bekannte Fernsehjournalist Bernardo de la Maza tiefgreifende Reformen in der Universalkirche: Die Zulassung von Frauen zum Priestertum und die Abschaffung des Zölibats.
De la Maza: "Die Seminare wären keine Zufluchtsorte für Perverse mehr. Und die guten Priester, von denen es in Chile Tausende gibt, würden in ihren Gemeinden wieder respektiert."
Fürs erste muss der Katholizismus in Lateinamerika mit den Folgen der Berufungskrise fertigwerden. Nicht nur die geistliche, sondern auch die soziale Arbeit der Kirche, die in krisengebeutelten Gesellschaften eine wichtige Rolle spielt, muss auf weniger Schultern verteilt werden. Und für die schwierige Mission, junge Leute zurückzuerobern, bleibt vielen Priestern kaum Zeit.