Wenn Ablenkung zum Dauerzustand wird
E-Mail-Wahnsinn: Das ist "der Zustand, dass mir mein E-Mail-Posteingang sagt, was ich als Nächstes zu tun habe, und nicht meine eigene Priorisierung oder mein gesunder Menschenverstand", sagt Anitra Eggler. Die Folge: Unkonzentriertheit und ein permanentes Reagieren statt eigenes Agieren.
Andreas Müller: Schätzungen zufolge werden täglich bis zu 200 Milliarden E-Mails verschickt. Auch wenn Großteil davon Spam ist, der von entsprechenden Filtern aussortiert wird, kommt immer noch eine Menge Information bei uns an. Und die kann bei den Menschen, die am Computer arbeiten, zu Ablenkung, Konzentrationsverlust und in der Folge zu Unproduktivität führen. E-Mail macht dumm, krank und arm – sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Anitra Eggler. Und sie wird uns jetzt sagen, warum das so ist. Schönen guten Morgen!
Anitra Eggler: Schönen guten Morgen! Ja ...
Müller: Sie nennen sich ja auch "Digitaltherapeutin", ein Begriff, der mir neu ist und neu war. Ist es tatsächlich so, dass wir diesen Beruf schon brauchen? Schildern Sie doch mal diese Krankheiten, die Sie therapieren müssen!
Eggler: Kommunikationskrankheit Nummer eins heutzutage in den Konzernen ist der E-Mail-Wahnsinn: der Zustand, dass mir mein E-Mail-Posteingang sagt, was ich als Nächstes zu tun habe, und nicht meine eigene Priorisierung oder mein gesunder Menschenverstand. Also, der Zustand, wenn die Menschen am Arbeitsplatz ihren Tag in der Mailbox verbringen, statt zu arbeiten, das ist für mich E-Mail-Wahnsinn, da könnte man fragen: Mailen Sie noch oder arbeiten Sie schon wieder?
Die zweite Krankheit, die ich an mir selber auch in den letzten Jahren an der Internetfront ausgemacht habe, ist das, was ich Sinnlos-Surf-Syndrom nenne: Unser Hang, unseren nächsten Gedanken zu googeln und uns dadurch dann 60, 70 Minuten später auf der 17.000. Web-Seite hinten links wieder zu finden, ganz zerstreut, und man fragt sich dann, Mensch, was wollte ich denn eigentlich vor einer Stunde? Und schon wieder ist eine Stunde vorbei, man hat was gesucht, hat sich ablenken lassen, ist wo ganz anders gelandet.
Also, Sinnlos-Surf-Syndrom ist die viele, viele Zeit, die wir in meinen Augen zu viel im Internet verbringen, ohne uns vorher zu überlegen, wie hole ich denn jetzt eigentlich ein Maximum aus dem Internet raus? Weil, schließlich ist es dafür da und das ist der Segen der Digitalisierung. In meinen Augen nutzen wir ihn zu wenig.
Müller: Was für Symptome finden Sie denn da, wenn Sie diese Krankheiten beobachten?
Eggler: Bei E-Mail-Wahnsinn merken Sie, dass die Leute zwanghaft nachsehen müssen, ob eine Nachricht eingegangen ist, auch wenn jetzt im Posteingang gar nichts zu sehen ist von einer Nachricht. Das heißt, wenn ich den Zustand erreiche, dass eigentlich keine neue E-Mail da ist, ich dann aber auf den "Empfangen"-Button drücke, und zwar so lange, bis eine neue Nachricht kommt, die vielleicht total unwichtig ist, aber weil ich selber gerade nicht mehr weiß, was ich als Nächstes tun soll, beantworte ich die Nachricht einfach, damit ich mich produktiv und geschäftig fühle.
Das ist dieser Zustand, wo Ablenkung zum Dauerzustand geworden ist, wo man sagt, okay, ich weiß gar nicht mehr, was ich als Nächstes machen soll, wenn ich nicht von meiner Arbeit abgelenkt werde.
Oder wenn man E-Mail als Chat-Programm missbraucht. Das heißt, wenn mein Kollege, der mit Stimme und Ohren ausgerüstet ist, gegenüber von mir sitzt, und anstatt ihn wirklich menschlich-persönlich zu fragen, ob er mit mir jetzt Mittagessen gehen will, schicke ich ihm eine E-Mail, und im schlimmsten Fall, wenn der nicht antwortet, rufe ich ihn dann noch an und sage, sag mal, hast du meine E-Mail nicht bekommen?
Müller: Das klingt jetzt erst mal noch nicht so bedrohlich, finde ich jedenfalls. Bedrohlicher finde ich ja diese Information: Vor ein paar Jahren hat ein Konzentrationstest der Universität London gezeigt, dass die Teilnehmer, die mit E-Mails, SMS und Telefonaten bombardiert wurden, noch schlechter abschnitten als die Probanden, die vorher ordentlich Marihuana geraucht hatten! Das klingt relativ dramatisch. Und auch diese Information der University of California, dass Kopfarbeiter, wie es so schön heißt, sich alle elf Minuten ablenken lassen, Störfaktor Nummer eins die E-Mail, anschließend brauchen sie 25 Minuten, um wieder in die Konzentration, in die ursprüngliche Aufgabe zurückzukommen! Haben Sie ...
Eggler: Wenn sie nicht wieder abgelenkt wurden, weil, die elf Minuten kommen ja immer wieder!
Müller: Ja, gibt es da eigentlich Zahlen, was das sozusagen an ökonomischem Schaden anrichtet?
Eggler: Ja, die Unternehmensberatung Bassacs aus den USA hat schon 2008, noch vor der Smartphone-Welle, die dem Ganzen ja noch mal einen Turbo draufgesetzt hat, ausgerechnet, dass sich die Mitarbeiter am Tag zwei Stunden zehn Minuten ablenken lassen. Und die haben dann so einen Weltwirtschaftsschaden hochgerechnet in Höhe von 588 Milliarden US-Dollar pro Jahr.
Müller: Das ist nun das Problem der Firmen, kann man ja irgendwie auch dann, wenn man diese Zahl hört, ein bisschen verstehen. Was aber ist denn so schlimm daran, wenn man sich morgens zum Beispiel rasch mal mit dem Checken der Mails auf den Stand bringt, wenn man mal guckt am Frühstückstisch beim Laptop, was ist so los?
Eggler: Ich glaube, es ist erst dann schlimm, wenn man vorher nicht für sich definiert hat, was will denn ich heute von dem Tag, was sind meine Prioritäten, was sind die 20 Prozent der Aufgaben, die mir idealerweise 80 Prozent meines Arbeitsergebnisses bringen? Die Hälfte aller Leute checkt schon im Bett ihre E-Mails.
Das Problem mit dem E-Mails-Checken in der Frühe ist: Wenn ich mir von den E-Mails sagen lasse, was die Prioritäten von anderen sind, dann starte ich meinen Tag sofort in einem reaktiven Modus. Ich beginne zu reagieren, bevor ich mal anfange zu agieren. Ich habe das selber sehr oft erlebt, dass, wenn man diesen reaktiven Modus als Start in den Tag nimmt, dann bekommt man im Laufe des Tages nicht mehr die Chance zurückzukehren zu seinen eigenen Prioritäten.
Man sitzt dann um 18:00 Uhr, 19:00 nach einem Meeting-Marathon-Tag da und denkt sich, Mensch, jetzt kann ich eigentlich erst anfangen zu arbeiten, weil, ich habe mir heute nur von den Prioritäten anderer Leute sagen lassen, was ich als Nächstes tun soll. Und dann geht die Spirale auf der ständigen Erreichbarkeit, dass man anfängt, in der Nacht zu arbeiten, dass man am Wochenende arbeitet, dass man im Urlaub arbeitet, weil man ständig mit Kommunikation bombardiert wird und auch selber ständig kommuniziert. Und ich glaube, das ist langfristig für unsere Gesundheit nicht gut und es ist nicht gut für unsere Karriere und es ist nicht gut für unser Hirn.
Und ich plädiere dafür, dass die Unternehmen beginnen, diese falsche Götze der ständigen Erreichbarkeit vom Thron zu kippen und den Mitarbeitern das Gefühl geben: Es ist unerwünscht, dass außerhalb der Geschäftszeiten dauerkommuniziert wird, und auch im Urlaub sollte niemand erreichbar sein, weil, keiner von uns ist Notarzt!
Müller: E-Mail macht dumm, krank und arm, sagt die Kommunikationsmanagerin Anitra Eggler, die zu Gast im "Radiofeuilleton" ist. Ich frage mich aber, was ist eigentlich so schlimm daran, abgelenkt zu werden? Denn eins ist doch klar: Die Digitalisierung unseres Lebens, der Lebens- und Arbeitswelten, hat zu einer gewaltigen Mehrbelastung des Einzelnen geführt. Einer macht plötzlich den Job von dreien. Da lässt man sich doch eigentlich gerne mal ablenken?
Eggler: Die Dauerablenkung führt – und das belegen sehr viele Studien aus der Hirnforschung – dazu, dass unser Gehirn süchtig wird nach Ablenkung. Wenn wir nicht mehr konzentriert sein können, ist es, glaube ich, wirklich ein ernst zu nehmendes Problem. Weil, wenn wir nicht mehr konzentriert arbeiten können, dann können wir auch nicht mehr konzentriert ein Buch lesen. Wenn wir unsere Fähigkeit zur Konzentration verlieren und Ablenkung unser Dauerzustand wird, dann tut es unserer Intelligenz nicht gut, es verdummt uns gleichzeitig auch im Privatleben.
Wenn wir ständig abgelenkt sind, ständig an unserem Handy rumdaddeln müssen, während wir eigentlich jetzt mit dem Menschen da sitzen, den wir lieben, und uns unterhalten können, dann glaube ich, dass unsere Beziehung darunter sehr stark leidet. Also, Worte wie Smartphone, Facebook und Handy zieren inzwischen jede vierte Scheidungsklage in den USA, und ich glaube, zu Recht: Wer dauerabgelenkt ist, macht nichts mehr richtig!
Müller: In Ihrem Buch führen Sie diverse Suchtsymptome auf, haben Sie ja auch gerade hier eins schon erwähnt. Aber erwischt das nicht auch Leute, die ohnehin anfällig sind, die, wenn sie jetzt nicht per Mail, Game oder et cetera Befriedigung finden, Spieler oder Drogensüchtige wären?
Eggler: Ein Teil der Zielgruppe sicher. Ein anderer Teil, der erlebt dies Symptome aber im ganz normalen Büroalltag. Weil durch die Geschwindigkeit der Innovationen in den letzten zehn Jahren wir alle da so mitgeschwemmt wurden, ohne uns mal Zeit zu nehmen, zu sagen: Wir konfiguriere ich jetzt denn die Geräte zu meinem Nutzen? Ich bin immer wieder darüber entsetzt, in großen Konzernen wissen ganz viele Menschen teilweise nicht, wie sie Regeln und Filter in ihrem E-Mail-Programm konfigurieren können, um diese Informationsflut einzudämmen!
Viele Menschen wissen nicht, wie sie die erweiterte Suche und erweiterte Suchfunktionen bei Google nutzen können, damit sie einfach effizienter suchen! Viele Menschen nehmen sich nicht mal die Zeit, bei ihrem Handy zu gucken, wie schalte ich denn die automatische Worterkennung aus, dass aus nett nicht plötzlich fett wird! Und das sind Menschen, die sind überdurchschnittlich intelligent, haben sich nicht die Zeit genommen und lassen sich von den Geräten bedienen und bedienen nicht mehr die Geräte.
Müller: Wie kann man diesem Phänomen beikommen? Denn es ist eins klar: Unsere Arbeitswelt ist extrem durch Computer, Smartphones geprägt, die Erwartungshaltung ist groß, wer nicht erreichbar ist, gilt ja beinahe schon als Drückeberger. Kann man als Einzelner eigentlich aufbegehren, sich dagegen stemmen, ohne gleich seinen Job zu riskieren?
Eggler: Die Menschen müssen aufstehen und müssen sich wehren und müssen ihren Chefs erklären, dass dauernde Erreichbarkeit die Qualität ihrer Arbeit und am Ende des Tages das Jahresergebnis nicht verbessert, dass sie produktiver und leistungsfähiger sind, wenn sie wirklich mal abschalten. Die großen Konzerne wie VW zum Beispiel, die haben das inzwischen begriffen. Bei denen ist der Leidensdruck sehr groß, die schalten den E-Mail-Server eine halbe Stunde nach Dienstschluss bei den Tarifmitarbeitern inzwischen ab, weil sie gesehen haben, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen durch diese Dauererreichbarkeit und durch die Forderung der Dauererreichbarkeit steigt.
Ich glaube, wie man auch im Industriezeitalter als Unternehmen irgendwann kapiert hat, es ist unsere unternehmerische Verantwortung, mit der Umweltverschmutzung umzugehen und für Arbeitsplatzsicherheit in unserer Produktionsstätte zu sorgen, so, glaube ich, gehört es heute zur unternehmerischen Verantwortung zu sagen, wie vereinbaren wir eine neue Kommunikationskultur, die nicht die Dauererreichbarkeit und das permanente Multitasking als Karrieretugend zum Inhalt hat.
Müller: E-Mail macht dumm, krank und arm, sagt Anitra Eggler. Ihr Buch zum Thema ist bei orell füssli erschienen und kostet 19,95 Euro. Haben Sie vielen Dank!
Eggler: Gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Anitra Eggler: Schönen guten Morgen! Ja ...
Müller: Sie nennen sich ja auch "Digitaltherapeutin", ein Begriff, der mir neu ist und neu war. Ist es tatsächlich so, dass wir diesen Beruf schon brauchen? Schildern Sie doch mal diese Krankheiten, die Sie therapieren müssen!
Eggler: Kommunikationskrankheit Nummer eins heutzutage in den Konzernen ist der E-Mail-Wahnsinn: der Zustand, dass mir mein E-Mail-Posteingang sagt, was ich als Nächstes zu tun habe, und nicht meine eigene Priorisierung oder mein gesunder Menschenverstand. Also, der Zustand, wenn die Menschen am Arbeitsplatz ihren Tag in der Mailbox verbringen, statt zu arbeiten, das ist für mich E-Mail-Wahnsinn, da könnte man fragen: Mailen Sie noch oder arbeiten Sie schon wieder?
Die zweite Krankheit, die ich an mir selber auch in den letzten Jahren an der Internetfront ausgemacht habe, ist das, was ich Sinnlos-Surf-Syndrom nenne: Unser Hang, unseren nächsten Gedanken zu googeln und uns dadurch dann 60, 70 Minuten später auf der 17.000. Web-Seite hinten links wieder zu finden, ganz zerstreut, und man fragt sich dann, Mensch, was wollte ich denn eigentlich vor einer Stunde? Und schon wieder ist eine Stunde vorbei, man hat was gesucht, hat sich ablenken lassen, ist wo ganz anders gelandet.
Also, Sinnlos-Surf-Syndrom ist die viele, viele Zeit, die wir in meinen Augen zu viel im Internet verbringen, ohne uns vorher zu überlegen, wie hole ich denn jetzt eigentlich ein Maximum aus dem Internet raus? Weil, schließlich ist es dafür da und das ist der Segen der Digitalisierung. In meinen Augen nutzen wir ihn zu wenig.
Müller: Was für Symptome finden Sie denn da, wenn Sie diese Krankheiten beobachten?
Eggler: Bei E-Mail-Wahnsinn merken Sie, dass die Leute zwanghaft nachsehen müssen, ob eine Nachricht eingegangen ist, auch wenn jetzt im Posteingang gar nichts zu sehen ist von einer Nachricht. Das heißt, wenn ich den Zustand erreiche, dass eigentlich keine neue E-Mail da ist, ich dann aber auf den "Empfangen"-Button drücke, und zwar so lange, bis eine neue Nachricht kommt, die vielleicht total unwichtig ist, aber weil ich selber gerade nicht mehr weiß, was ich als Nächstes tun soll, beantworte ich die Nachricht einfach, damit ich mich produktiv und geschäftig fühle.
Das ist dieser Zustand, wo Ablenkung zum Dauerzustand geworden ist, wo man sagt, okay, ich weiß gar nicht mehr, was ich als Nächstes machen soll, wenn ich nicht von meiner Arbeit abgelenkt werde.
Oder wenn man E-Mail als Chat-Programm missbraucht. Das heißt, wenn mein Kollege, der mit Stimme und Ohren ausgerüstet ist, gegenüber von mir sitzt, und anstatt ihn wirklich menschlich-persönlich zu fragen, ob er mit mir jetzt Mittagessen gehen will, schicke ich ihm eine E-Mail, und im schlimmsten Fall, wenn der nicht antwortet, rufe ich ihn dann noch an und sage, sag mal, hast du meine E-Mail nicht bekommen?
Müller: Das klingt jetzt erst mal noch nicht so bedrohlich, finde ich jedenfalls. Bedrohlicher finde ich ja diese Information: Vor ein paar Jahren hat ein Konzentrationstest der Universität London gezeigt, dass die Teilnehmer, die mit E-Mails, SMS und Telefonaten bombardiert wurden, noch schlechter abschnitten als die Probanden, die vorher ordentlich Marihuana geraucht hatten! Das klingt relativ dramatisch. Und auch diese Information der University of California, dass Kopfarbeiter, wie es so schön heißt, sich alle elf Minuten ablenken lassen, Störfaktor Nummer eins die E-Mail, anschließend brauchen sie 25 Minuten, um wieder in die Konzentration, in die ursprüngliche Aufgabe zurückzukommen! Haben Sie ...
Eggler: Wenn sie nicht wieder abgelenkt wurden, weil, die elf Minuten kommen ja immer wieder!
Müller: Ja, gibt es da eigentlich Zahlen, was das sozusagen an ökonomischem Schaden anrichtet?
Eggler: Ja, die Unternehmensberatung Bassacs aus den USA hat schon 2008, noch vor der Smartphone-Welle, die dem Ganzen ja noch mal einen Turbo draufgesetzt hat, ausgerechnet, dass sich die Mitarbeiter am Tag zwei Stunden zehn Minuten ablenken lassen. Und die haben dann so einen Weltwirtschaftsschaden hochgerechnet in Höhe von 588 Milliarden US-Dollar pro Jahr.
Müller: Das ist nun das Problem der Firmen, kann man ja irgendwie auch dann, wenn man diese Zahl hört, ein bisschen verstehen. Was aber ist denn so schlimm daran, wenn man sich morgens zum Beispiel rasch mal mit dem Checken der Mails auf den Stand bringt, wenn man mal guckt am Frühstückstisch beim Laptop, was ist so los?
Eggler: Ich glaube, es ist erst dann schlimm, wenn man vorher nicht für sich definiert hat, was will denn ich heute von dem Tag, was sind meine Prioritäten, was sind die 20 Prozent der Aufgaben, die mir idealerweise 80 Prozent meines Arbeitsergebnisses bringen? Die Hälfte aller Leute checkt schon im Bett ihre E-Mails.
Das Problem mit dem E-Mails-Checken in der Frühe ist: Wenn ich mir von den E-Mails sagen lasse, was die Prioritäten von anderen sind, dann starte ich meinen Tag sofort in einem reaktiven Modus. Ich beginne zu reagieren, bevor ich mal anfange zu agieren. Ich habe das selber sehr oft erlebt, dass, wenn man diesen reaktiven Modus als Start in den Tag nimmt, dann bekommt man im Laufe des Tages nicht mehr die Chance zurückzukehren zu seinen eigenen Prioritäten.
Man sitzt dann um 18:00 Uhr, 19:00 nach einem Meeting-Marathon-Tag da und denkt sich, Mensch, jetzt kann ich eigentlich erst anfangen zu arbeiten, weil, ich habe mir heute nur von den Prioritäten anderer Leute sagen lassen, was ich als Nächstes tun soll. Und dann geht die Spirale auf der ständigen Erreichbarkeit, dass man anfängt, in der Nacht zu arbeiten, dass man am Wochenende arbeitet, dass man im Urlaub arbeitet, weil man ständig mit Kommunikation bombardiert wird und auch selber ständig kommuniziert. Und ich glaube, das ist langfristig für unsere Gesundheit nicht gut und es ist nicht gut für unsere Karriere und es ist nicht gut für unser Hirn.
Und ich plädiere dafür, dass die Unternehmen beginnen, diese falsche Götze der ständigen Erreichbarkeit vom Thron zu kippen und den Mitarbeitern das Gefühl geben: Es ist unerwünscht, dass außerhalb der Geschäftszeiten dauerkommuniziert wird, und auch im Urlaub sollte niemand erreichbar sein, weil, keiner von uns ist Notarzt!
Müller: E-Mail macht dumm, krank und arm, sagt die Kommunikationsmanagerin Anitra Eggler, die zu Gast im "Radiofeuilleton" ist. Ich frage mich aber, was ist eigentlich so schlimm daran, abgelenkt zu werden? Denn eins ist doch klar: Die Digitalisierung unseres Lebens, der Lebens- und Arbeitswelten, hat zu einer gewaltigen Mehrbelastung des Einzelnen geführt. Einer macht plötzlich den Job von dreien. Da lässt man sich doch eigentlich gerne mal ablenken?
Eggler: Die Dauerablenkung führt – und das belegen sehr viele Studien aus der Hirnforschung – dazu, dass unser Gehirn süchtig wird nach Ablenkung. Wenn wir nicht mehr konzentriert sein können, ist es, glaube ich, wirklich ein ernst zu nehmendes Problem. Weil, wenn wir nicht mehr konzentriert arbeiten können, dann können wir auch nicht mehr konzentriert ein Buch lesen. Wenn wir unsere Fähigkeit zur Konzentration verlieren und Ablenkung unser Dauerzustand wird, dann tut es unserer Intelligenz nicht gut, es verdummt uns gleichzeitig auch im Privatleben.
Wenn wir ständig abgelenkt sind, ständig an unserem Handy rumdaddeln müssen, während wir eigentlich jetzt mit dem Menschen da sitzen, den wir lieben, und uns unterhalten können, dann glaube ich, dass unsere Beziehung darunter sehr stark leidet. Also, Worte wie Smartphone, Facebook und Handy zieren inzwischen jede vierte Scheidungsklage in den USA, und ich glaube, zu Recht: Wer dauerabgelenkt ist, macht nichts mehr richtig!
Müller: In Ihrem Buch führen Sie diverse Suchtsymptome auf, haben Sie ja auch gerade hier eins schon erwähnt. Aber erwischt das nicht auch Leute, die ohnehin anfällig sind, die, wenn sie jetzt nicht per Mail, Game oder et cetera Befriedigung finden, Spieler oder Drogensüchtige wären?
Eggler: Ein Teil der Zielgruppe sicher. Ein anderer Teil, der erlebt dies Symptome aber im ganz normalen Büroalltag. Weil durch die Geschwindigkeit der Innovationen in den letzten zehn Jahren wir alle da so mitgeschwemmt wurden, ohne uns mal Zeit zu nehmen, zu sagen: Wir konfiguriere ich jetzt denn die Geräte zu meinem Nutzen? Ich bin immer wieder darüber entsetzt, in großen Konzernen wissen ganz viele Menschen teilweise nicht, wie sie Regeln und Filter in ihrem E-Mail-Programm konfigurieren können, um diese Informationsflut einzudämmen!
Viele Menschen wissen nicht, wie sie die erweiterte Suche und erweiterte Suchfunktionen bei Google nutzen können, damit sie einfach effizienter suchen! Viele Menschen nehmen sich nicht mal die Zeit, bei ihrem Handy zu gucken, wie schalte ich denn die automatische Worterkennung aus, dass aus nett nicht plötzlich fett wird! Und das sind Menschen, die sind überdurchschnittlich intelligent, haben sich nicht die Zeit genommen und lassen sich von den Geräten bedienen und bedienen nicht mehr die Geräte.
Müller: Wie kann man diesem Phänomen beikommen? Denn es ist eins klar: Unsere Arbeitswelt ist extrem durch Computer, Smartphones geprägt, die Erwartungshaltung ist groß, wer nicht erreichbar ist, gilt ja beinahe schon als Drückeberger. Kann man als Einzelner eigentlich aufbegehren, sich dagegen stemmen, ohne gleich seinen Job zu riskieren?
Eggler: Die Menschen müssen aufstehen und müssen sich wehren und müssen ihren Chefs erklären, dass dauernde Erreichbarkeit die Qualität ihrer Arbeit und am Ende des Tages das Jahresergebnis nicht verbessert, dass sie produktiver und leistungsfähiger sind, wenn sie wirklich mal abschalten. Die großen Konzerne wie VW zum Beispiel, die haben das inzwischen begriffen. Bei denen ist der Leidensdruck sehr groß, die schalten den E-Mail-Server eine halbe Stunde nach Dienstschluss bei den Tarifmitarbeitern inzwischen ab, weil sie gesehen haben, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen durch diese Dauererreichbarkeit und durch die Forderung der Dauererreichbarkeit steigt.
Ich glaube, wie man auch im Industriezeitalter als Unternehmen irgendwann kapiert hat, es ist unsere unternehmerische Verantwortung, mit der Umweltverschmutzung umzugehen und für Arbeitsplatzsicherheit in unserer Produktionsstätte zu sorgen, so, glaube ich, gehört es heute zur unternehmerischen Verantwortung zu sagen, wie vereinbaren wir eine neue Kommunikationskultur, die nicht die Dauererreichbarkeit und das permanente Multitasking als Karrieretugend zum Inhalt hat.
Müller: E-Mail macht dumm, krank und arm, sagt Anitra Eggler. Ihr Buch zum Thema ist bei orell füssli erschienen und kostet 19,95 Euro. Haben Sie vielen Dank!
Eggler: Gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.