Wenn Bauern zu Städtern werden

Von Markus Rimmele |
Es ist eine Folge der neuen Mobilität und sie ist von oben gewollt: in China strömen die Menschen vom Land in die Städte. Derzeit hat die nächste Phase der Urbanisierung begonnen: Das platte Land ist an der Reihe - wie die südwestchinesische Provinz Guizhou. Auch dort hat Chinas Bauboom Einzug gehalten.
Sieben Stunden lang dauert die Fahrt vom Flughafen. Anfangs führt der Weg noch über eine Autobahn, danach über eine zweispurige Schnellstraße. Die letzten drei Stunden dann: Serpentinen ohne Leitplanken, hoch und runter durch tief zerklüftetes Land, vorbei an Reisterrassen.

Herabgestürzte Steinbrocken liegen auf der Straße, Ziegenherden versperren den Weg. Es geht über einen Bergpass. Der liegt eingehüllt in dichtem Wolkennebel. Kein Zweifel: Das ist eine der ganz entlegenen Regionen in China: Die Provinz Guizhou, bekannt als rückständiges Armenhaus des Landes. Um so größer dann die Überraschung bei der Ankunft im Zielort Weining.

Rohbauten ragen 20, 30 Stockwerke in den Himmel. Bagger, Kräne, Abraumfahrzeuge bestimmen das Straßenbild an den Stadträndern.

Wang Chunhua: "Unser Stadtplanungsprogramm fing 2010 an und wird 2030 vollendet sein. Die derzeit bebaute Fläche ist zwölfeinhalb Quadratkilometer groß. Im Jahr 2020 werden es schon 20 Quadratkilometer sein, und 2030 57 Quadratkilometer, also fast das sechsfache von heute. Das ist dann inklusive der Neustadt und den Industrieparks."

Wang Chunhua ist der Stadtplaner von Weining. Mit leuchtenden Augen steht er im Haus der Stadtverwaltung vor einem Wandplan. Darauf sind bunte Flächen zu sehen. Eine kleine gelbe in der Mitte, das ist die heutige Kernstadt. Drumherum liegen grüne, rote, blaue Flächen, um ein Vielfaches größer als die gelbe. Das sind die Neubaugebiete. Wang Chunhua liebt Zahlen.

Wang Chunhua: "Weining hat heute eine Bevölkerung von 128.000 Menschen. Wenn sich die Stadt entwickelt, werden Arbeiter herbeiströmen. Für 2015 rechnen wir schon mit 200.000 Bewohnern, 2020 mit 300.000 und 2030 mit einer halben Million. Vor allem zwei Gruppen werden herkommen: Leute aus den umliegenden Dörfern und Leute, die durch unsere Investitionsprojekte angezogen werden."

Das Glück der Menschen - vor allem darum gehe es doch bei den Planungen, sagt Wang in einem Anflug von Rührung und zeigt auf den neuen Bahnhof. Der ist schon fertig. Und da oben: Das ist die neue Schnellstraße in die Bezirkshauptstadt Bijie. Eröffnung zum Ende des Jahres. Dann dauert die Fahrt nur noch zwei Stunden, nicht mehr viereinhalb wie heute.

Und jetzt los zur Besichtigung, ab ins neue Industriegebiet Nord, sagt Herr Wang. Zunächst geht es durch eine fruchtbare Hügellandschaft. Hier wachsen Kartoffeln, Tabak und Buchweizen auf den Feldern.

Plötzlich eine Mondlandschaft – abgetragene Hügel, planierte Flächen. Eine schier endlose klaffende Wunde aus aufgewühlter roter Erde im grünen Land. Bagger und LKWs jagen die Erschließungspisten entlang. Hier steht kein Baum mehr, kein Strauch. Fabriken gibt es aber auch noch keine. Eine große Leere. Nur ein kleines Besucherzentrum wartet auf Gäste.

Im Inneren steht ein Architektur-Modell – groß wie ein Schwimmbecken. Es zeigt die Mondlandschaft draußen, wie sie in ein paar Jahren aussehen soll. Fabrik neben Fabrik, dazwischen ein paar Wohnblöcke. Hier wird klar, warum 60 Prozent des Betons der Welt in China hergestellt wird. Ma Guanzun ist verantwortlich für die Projektplanung.

Ma Guanzun: "Hier sehen wir das Modell des ganzen Gebietes. Es ist 50 Quadratkilometer groß, davon sind 30 Quadratkilometer zur Bebauung vorgesehen. Die grünen Hügel da sollen erhalten bleiben. Wir haben vor einem Jahr mit dem Bau begonnen, 2021 soll alles fertig sein. Im Moment bauen wir die Infrastruktur. Große Fabriken werden ihr eigenes Stück Land haben, die kleinen kommen in den Wachstums-Park dort hinten. Und hier kommen alle Fabriken der Lebensmittelverarbeitung hin. Buchweizen, Kartoffeln, Tee, chinesische Medizinkräuter. In 10 Jahren wird es hier 100 Fabriken geben mit einem Gesamtumsatz von 10 Milliarden Yuan, 1,2 Milliarden Euro."

Weining wirkt wie eine planerische Modellstadt, ein Sonderfall. Doch das täuscht. Weining ist einfach nur der Hauptort eines Landkreises im westlichsten Zipfel einer Gebirgsprovinz. Von solchen Kreishauptstädten gibt es fast 3000 in China. Was in Weining passiert, geschieht hundert- und tausendfach im ganzen Land. Das Städtewachstum an der Küste hat sich verlangsamt. Die großen Ballungsräume stoßen an ihre Kapazitätsgrenzen. Chinas neue Welle der Urbanisierung rollt nun durch die lange vernachlässigten Regionen, erfasst kleine und mittlere Provinzstädte. Sie sollen in den kommenden Jahren Massen von Bauern aufnehmen, die ihre Dörfer verlassen.

In den nächsten zwei Jahrzehnten werden laut Prognosen bis zu vierhundert Millionen Menschen vom chinesischen Land in die Städte ziehen. Das heißt jedes Jahr müssen 10-20 Millionen Menschen urbanisiert werden. Das entspricht der Größe Pekings. China war über die JahrTausende hinweg ein agrarisch geprägtes Land. Im Zeitraffer ändert es nun seinen Charakter und wird städtisch.

Li Jingyou: "Die Urbanisierung verläuft schnell. Zur Zeit lebt etwa die Hälfte der Chinesen in Städten. Vor 30 Jahren waren es nur 30 Prozent. In 20 Jahren, so Schätzungen, werden es 80 Prozent sein. Die überschüssige Landbevölkerung zieht in die Städte und hebt so ihren Lebensstandard an. So wie in Deutschland vor 100 Jahren. In China geht das nur schneller. Alles in allem dauert es vielleicht 50 Jahre."

80 Prozent Stadtbevölkerung, das ist das Ziel. Li Jingyou macht die Planung dafür. Er ist Stadtplaner an der Shanghaier Tongji-Universität und gleichzeitig der Chef einer Stadtplanungsfirma mit 300 Mitarbeitern. Pro Jahr verwirklicht er mit seinen Leuten bis zu 200 Urbanisierungsprojekte in ganz China.

Auch die Stadterweiterung von Weining ist hier auf dem Reißbrett entstanden. Auftraggeber sind Stadtregierungen im ganzen Land. In der Regel muss Li Jingyou klotzen - der schieren Projektgröße wegen. Ein ganz üblicher Auftrag ist etwa die Planung eines neuen Stadtteils auf der grünen Wiese. Größe: 20 Quadratkilometer, 200.000 Menschen.

Li Jingyou: "Die Stadtregierungen geben uns normalerweise nicht die genauen Ausmaße vor. Die erarbeiten wir gemeinsam. Sie sagen uns nur, dass sie es groß haben möchten. Und sie sagen, was für Investitionen sie vorhaben und wie viele Jobs entstehen sollen. Dann fahren wir da hin, schauen uns die Geografie an und überlegen, wo was hinkommt, Ost, West, Nord, Süd. Wenn wir eine Neustadt planen, müssen wir die alte Stadt berücksichtigen und sehen, wo Raum für Entwicklung ist. So läuft das."
Und so entstehen Großstädte von der Stange. Hochhaussiedlungen. Architektonisch gleichen sie einander meist wie ein Ei dem anderen, vom sibirisch kalten Nordosten bis hinunter auf die Tropeninsel Hainan.

Besuch bei den Menschen, um die es bei dem Ganzen eigentlich geht – die Dorfbewohner, die zu Stadtbewohnern werden sollen. Da die örtlichen Behörden in Weining ausländische Reporter nicht eine Sekunde aus den Augen lassen, müssen wir in den Nachbarlandkreis ausweichen. Das Dorf Machang besteht aus rund 100 Häusern, die an einem steilen Hang kleben.

Ein Lehmweg führt mitten hindurch. Die Dorftoilette im Zentrum verströmt einen intensiven Geruch. Offiziell hat Machang mehr als 1000 Einwohner. Doch es ist leer hier. Die meisten anzutreffenden Nachbarn sind alt. Was der 71-jährige Bauer Yan Xuanning erzählt, ist typisch.

Yan Xuanning: "Meine vier Kinder sind alle weg. Der älteste ist gestorben. Einer arbeitet hier in der nächsten Stadt. Der andere arbeitet in Shenzhen unten bei Hongkong. Und meine Tochter ist verheiratet. Es ist doch natürlich, dass die Jungen in die Stadt gehen. Da verdienen sie doch viel leichter Geld als hier auf dem Dorf."

Seine Söhne in der Stadt verdienen 3-4000 Yuan im Monat, erzählt Yan Xuanning, 350-500 Euro. Er und seine Frau zusammen bringen es in der Landwirtschaft nur auf rund 100 Euro monatlich.

Gänse spazieren über den Dorfweg. Die Bewohner schauen neugierig und freundlich. Fremde verirren sich selten hierher. Außer alten Leuten leben noch Kinder im Dorf. Deren Eltern sind in der Stadt beim Arbeiten. Die Kleinen werden oft von den Großeltern aufgezogen. Plötzlich ist da doch ein junger Mann. Zhao Changlin, 23 Jahre alt. Er lebt im Dorf - aber nur vorübergehend.

Zhao Changlin: "Junge Leute hier gehen in große Städte wie Shenzhen zum Arbeiten. Ich war auch für zwei Jahre unten in der Provinz Guangdong, habe da als Textildrucker in einer Kleiderfabrik gearbeitet. Ich bin nur zurückgekommen, um zu heiraten. Sobald ich etwas gespart habe, will ich zurück in die Stadt. Jeder will in der Stadt leben. Die Lebensbedingungen und die Bildungschancen dort sind viel besser als auf dem Dorf. Das ist gut für unser Kind."

Zhao Changlins junge Frau steht lächelnd mit einem kleinen Baby auf dem Arm daneben und nickt. Was aus ihrem Dorf einmal werden soll, wenn alle wegziehen, weiß sie nicht. Ein paar Leute werden schon bleiben, und manche kommen ja vielleicht auch zurück, sagt sie schulterzuckend.

Die nächstliegende Großstadt von Machang aus ist Liupanshui. Die Stadt ist größer als Weining. Ansonsten aber bietet sie das gleiche Bild: Neue Wohntürme, Shoppingmalls, Sportzentren, Straßen. Wer hier die zugezogenen Dorfbewohner sucht, sollte die schicken Neubauviertel allerdings meiden. Denn ein Bauer kann sich die Preise der neuen Wohnungen kaum leisten. 40.000 Euro kostet ein günstiges 100-Quadratmeter-Apartment. Die Zuzügler leben meist dicht gedrängt in den alten Häusern. So wie Tang Donglian.

Die 40-Jährige betreibt einen kleinen zur Straße hin offenen Laden für Küchen- und Haushaltswaren. Sie gehört zur Gruppe der modernen Nomaden in China. Seit mehr als 20 Jahren zieht sie im Land umher.

Tang Donglian: "Ursprünglich komme ich aus der Provinz Hunan. Von da bin ich mit 17 weggezogen, war dann mehr als zwanzig Jahre als Arbeiterin in Guangdong. Jetzt sind wir hierher gekommen und haben den Laden aufgemacht. Wenn wir es irgendwie schaffen, gehen wir nicht zurück aufs Land. Natürlich wollen wir in der Stadt bleiben. Aber das hängt davon ab, wie das Geschäft läuft."

China will zwar in der Theorie Bauern zu Städtern machen. Die Landbewohner drängen auch tatsächlich in die urbanen Zentren. Doch die Stadtplanung heute geht am Bedarf der Zuzügler vorbei, sagt Du Juan. Sie forscht über Chinas Stadtentwicklung an der Universität Hongkong und hat oft Kontakt zu lokalen Planungsbehörden.

Du Juan: "Da ist dieser Glaube: Man muss nur eine moderne Stadt bauen mit Straßen, Industrie, Parks, dann zieht man eine gebildete Schicht von Leuten an. Die denken nicht: Wir bauen hier eine Stadt von Weltklasse, um am Ende Bauern anzulocken. Die Stadtplanung verfolgt hier eine utopische Vision von idealen Bürgern. Dabei sind die Leute, die dort wirklich hinziehen, Arbeiter und ehemalige Bauern."

Der Wunsch sich abzuheben ist groß bei den Stadtregierungen. Da entstehen Ökoparks, Hightech-Zonen und Luxus-Apartments - alles auf die Zukunft gebaut. Doch es fehlt an erschwinglichem Wohnraum. Die Kommunen finanzieren sich heute vor allem durch Landverkäufe, sagt Du Juan. Je teurer das Land verkauft wird, an Luxus-Immobilienentwickler oder Industriebetriebe, desto besser für die Stadtkasse und den ein oder anderen korrupten Beamten.

Zurück in Weining. Auch hier kann keiner der Regierungsvertreter eine schlüssige Antwort darauf geben, wo denn genau die vielen erwarteten Zuzügler mit wenig Geld einmal wohnen sollen. Tatsächlich scheinen die Stadtoberen nur mit wohlhabenden Neubürgern zu rechnen.

Stolz führen sie die Besucher zum neusten Apartment- Komplex, noch ein Rohbau. Olympic Plaza heißt er. Im eleganten Verkaufspavillon empfängt Frau Luo die Interessenten, die gleich darauf aufmerksam macht, dass die Wohnungspreise hier nicht ganz billig seien.

Frau Luo: "Ein großer Teil unserer Kunden sind Regierungsbeamte. Die anderen sind Lehrer, weil sich das Bildungssystem stark entwickelt."

Staatsdiener. Die haben heute das Geld in China. Doch wie viele davon kann es in Weining geben? Wer wird einmal die vielen teuer gebauten Apartment-Blocks bewohnen?

Die gleiche Frage stellt sich im neuen Industriegebiet. Ganze zwei Fabriken sind bislang entstanden – auf dreißig planierten Quadratkilometern. Wie viele neue Fabriken werden in China und der Welt noch gebraucht? Spekulations- und Bauruinen drohen, sagt selbst der Stadtplaner Li Jingyou.

Li Jingyou: "Unsere Hauptaufgabe ist immer zu verhindern, dass die Lokalregierungen völlig verrückte Sachen planen. Die wollen es immer noch größer, wollen immer noch mehr Investitionen anziehen, das Lebensumfeld noch schöner machen. Das treibt den Landpreis nach oben. Doch am Ende will vielleicht keiner kommen. Die Regierungen setzen zu stark auf das Tempo der Entwicklung."