Wenn das Denken an die Leine gelegt wird
Wie wird das Alltagsbewusstsein geprägt? Roland Barthes beschreibt in "Mythen des Alltags" Konsumartikel und Kulturereignisse, Filmstars oder Ferienziele in Zeitungsessays und analysiert ihre Bedeutung für Denkmuster verschiedener Gesellschaftsschichten.
"Ein Auto wie der neue Citroen taucht auf wie ein magisches Objekt, schimmernd und nahtlos, mit gleißenden Fensterscheiben, als wäre es vom Himmel gefallen."
Mit diesem Hinweis auf die geradezu überirdische "Erscheinung" der hydraulisch gefederten und in eleganter Stromlinienform ausgeführten Citroen-Limousine machte Roland Barthes sich 1957 einen Namen. Als "Mythen des Alltags" hat der Philosoph Konsumartikel und Kulturereignisse, Filmstars oder Ferienziele in Zeitungsessays nicht nur kurzweilig beschrieben, sondern in ihrer Bedeutung für Denkmuster und Verständigungsmodelle verschiedener Gesellschaftsschichten anspielungsreich analysiert.
Das Citroen-Modell etwa trug die schlichte Typenbezeichnung "DS", französisch ausgesprochen "déesse", also die Göttin! Das waren Funde, Trouvaillen, mit denen der Semiologe, der Sprach- und Zeichenwissenschaftler Barthes seine Texte spickte, wenn er Werbespots der Waschmittelwerbung, das Gesicht der Garbo, die Reiseführer des "Guide Bleu" oder Fotos der epochemachenden Ausstellung "Family of Man" unter der semantischen Lupe genussvoll hin und her wendete.
Durchaus kein abseitiges Vergnügen eines abgehobenen Intellektuellen, denn die Selbstinszenierung des bärtigen Abbé Pierre als Heiliger der Bettler und Obdachlosen, Erfolgsstorys der Tour-de-France-Sieger oder auch die von Paris-Match publizierten "Schockphotos" einer Hinrichtung von Kommunisten in Guatemala - das alles hatte eminent politische Bedeutung, prägte das Alltagsbewusstsein. Und das analysierte Barthes nicht vom Schreibtisch aus, sondern etwa beim Besuch populärer Vergnügungslokale im Montmartre:
"Ich bin oft zum Catchen gegangen. Und habe bemerkt, dass dieses angeblich sportliche Spektakel sich vollkommen mit der Commedia dell’ Arte deckt: Ein gegebenes Szenario, in dem jeder Catcher nur vorbestimmte Handlungen improvisiert, die jeweilige Moral der Geschichte. Also Bilder des Kampfes mit archaischen Figuren wie der Gerechtigkeit, dem Triumph, der Niederlage und der Folter. ""
Die Ära der Historiengemälde allerdings, der nur mit klassischer Bildung auszudeutenden Allegorien war 1957, bei Erscheinen der "Mythologies" längst passé. Foto und Film hatten das Zepter übernommen. Und Roland Barthes scheint damals schon geahnt und gespürt zu haben, was heute als Binsenweisheit bereits wieder übersehen wird: dass nicht mehr die Realität Fotografien hervorbringt, sondern erst die Bilder, die medialen Zeichen, etwas zum Ereignis machen. In seinem sezierenden Blick auf "Die Römer im Film", "Einsteins Gehirn" oder eine - damals noch nicht durch TV-Kochshows, sondern nur durch Illustrierte verbreitete "Ornamentale Küche" wird deutlich, wie die "Mythen des Alltags" sich durchsetzen, zu scheinbar beliebig wechselnden, gerade deshalb übermächtigen Klischees und Stereotypen gerinnen.
Angesichts dieser Fülle von Fall-Beispielen konnte Barthes auf eingängige Medien- oder Manipulationstheorien, auch auf platte Ideologiekritik verzichten. Das theoretische Nachwort, auf Deutsch erstmals 1964 in einem schmalen Suhrkamp-Bändchen abgedruckt, erweist sich denn auch, da jetzt nach über 50 Jahren endlich die komplette Übersetzung erscheint, als wenig ergiebig. Denn in seinen Kurzessays folgt der Mythenanalytiker eben keinem festen Schema, umkreist die jeweiligen Gegenstände mit Texten, von denen Chantal Thomas, eine seiner Studentinnen, sagt:
""Sie sind komponiert wie eine musikalische Notation; als Wahrheit, die aber nie endgültig scheint. Für mich war es beunruhigend, aufregend. Das Mitreißende seiner Lehre lag darin, dass er auf etwas hinwies und sich dann zurückzog, einem jedes Gefühl der Sicherheit nahm."
In seiner neuen Übersetzung trifft Horst Brühmann genau diese Intention, frischt die immerhin ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Alltagsdiagnosen für unsere Zeit auf, ohne ihren Gehalt durch modischen Jargon zu verfälschen. Und an Aktualität hat ein Text wie Roland Barthes Auseinandersetzung mit dem Populisten Pierre Poujade nur gewonnen: Was der Suhrkamp Verlag 1964 dem deutschen Leser vorenthielt, kann nun als Kommentar zur gegenwärtigen Debatte um Integration oder Islamfeindlichkeit gelesen werden. Zur Unfähigkeit, sich den Anderen, das Andere überhaupt vorzustellen, gesellt sich bei den Populisten eine fatale Selbstsicherheit, ähnlich der eines strengen Vaters, der sein quengelnd fragendes Kind anherrscht: "Warum? Darum! Basta!".
Diese quasi magischen Zirkelschlüsse, die selbst auf sprachliche Differenzierung verzichtenden Tautologien, das Pochen auf unabweisbare, weil ja "schwarz auf weiß gedruckte" Statistiken, all das wirkt nach Barthes’ Beobachtung wie ein Hundehalter, der plötzlich an der Leine zerrt: Das Denken darf nicht zu viel Auslauf bekommen. Höchste Zeit also, mit dem Parcours durch die "Mythen des Alltags" zu beginnen - ohne festes Ziel vor Augen, denn dieses Buch ist ein Tummelplatz für Kreuz- und Querleser.
Roland Barthes: Mythen des Alltags
Aus dem Französischen von Horst Brühmann
Suhrkamp Verlag, 326 Seiten.
Mit diesem Hinweis auf die geradezu überirdische "Erscheinung" der hydraulisch gefederten und in eleganter Stromlinienform ausgeführten Citroen-Limousine machte Roland Barthes sich 1957 einen Namen. Als "Mythen des Alltags" hat der Philosoph Konsumartikel und Kulturereignisse, Filmstars oder Ferienziele in Zeitungsessays nicht nur kurzweilig beschrieben, sondern in ihrer Bedeutung für Denkmuster und Verständigungsmodelle verschiedener Gesellschaftsschichten anspielungsreich analysiert.
Das Citroen-Modell etwa trug die schlichte Typenbezeichnung "DS", französisch ausgesprochen "déesse", also die Göttin! Das waren Funde, Trouvaillen, mit denen der Semiologe, der Sprach- und Zeichenwissenschaftler Barthes seine Texte spickte, wenn er Werbespots der Waschmittelwerbung, das Gesicht der Garbo, die Reiseführer des "Guide Bleu" oder Fotos der epochemachenden Ausstellung "Family of Man" unter der semantischen Lupe genussvoll hin und her wendete.
Durchaus kein abseitiges Vergnügen eines abgehobenen Intellektuellen, denn die Selbstinszenierung des bärtigen Abbé Pierre als Heiliger der Bettler und Obdachlosen, Erfolgsstorys der Tour-de-France-Sieger oder auch die von Paris-Match publizierten "Schockphotos" einer Hinrichtung von Kommunisten in Guatemala - das alles hatte eminent politische Bedeutung, prägte das Alltagsbewusstsein. Und das analysierte Barthes nicht vom Schreibtisch aus, sondern etwa beim Besuch populärer Vergnügungslokale im Montmartre:
"Ich bin oft zum Catchen gegangen. Und habe bemerkt, dass dieses angeblich sportliche Spektakel sich vollkommen mit der Commedia dell’ Arte deckt: Ein gegebenes Szenario, in dem jeder Catcher nur vorbestimmte Handlungen improvisiert, die jeweilige Moral der Geschichte. Also Bilder des Kampfes mit archaischen Figuren wie der Gerechtigkeit, dem Triumph, der Niederlage und der Folter. ""
Die Ära der Historiengemälde allerdings, der nur mit klassischer Bildung auszudeutenden Allegorien war 1957, bei Erscheinen der "Mythologies" längst passé. Foto und Film hatten das Zepter übernommen. Und Roland Barthes scheint damals schon geahnt und gespürt zu haben, was heute als Binsenweisheit bereits wieder übersehen wird: dass nicht mehr die Realität Fotografien hervorbringt, sondern erst die Bilder, die medialen Zeichen, etwas zum Ereignis machen. In seinem sezierenden Blick auf "Die Römer im Film", "Einsteins Gehirn" oder eine - damals noch nicht durch TV-Kochshows, sondern nur durch Illustrierte verbreitete "Ornamentale Küche" wird deutlich, wie die "Mythen des Alltags" sich durchsetzen, zu scheinbar beliebig wechselnden, gerade deshalb übermächtigen Klischees und Stereotypen gerinnen.
Angesichts dieser Fülle von Fall-Beispielen konnte Barthes auf eingängige Medien- oder Manipulationstheorien, auch auf platte Ideologiekritik verzichten. Das theoretische Nachwort, auf Deutsch erstmals 1964 in einem schmalen Suhrkamp-Bändchen abgedruckt, erweist sich denn auch, da jetzt nach über 50 Jahren endlich die komplette Übersetzung erscheint, als wenig ergiebig. Denn in seinen Kurzessays folgt der Mythenanalytiker eben keinem festen Schema, umkreist die jeweiligen Gegenstände mit Texten, von denen Chantal Thomas, eine seiner Studentinnen, sagt:
""Sie sind komponiert wie eine musikalische Notation; als Wahrheit, die aber nie endgültig scheint. Für mich war es beunruhigend, aufregend. Das Mitreißende seiner Lehre lag darin, dass er auf etwas hinwies und sich dann zurückzog, einem jedes Gefühl der Sicherheit nahm."
In seiner neuen Übersetzung trifft Horst Brühmann genau diese Intention, frischt die immerhin ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Alltagsdiagnosen für unsere Zeit auf, ohne ihren Gehalt durch modischen Jargon zu verfälschen. Und an Aktualität hat ein Text wie Roland Barthes Auseinandersetzung mit dem Populisten Pierre Poujade nur gewonnen: Was der Suhrkamp Verlag 1964 dem deutschen Leser vorenthielt, kann nun als Kommentar zur gegenwärtigen Debatte um Integration oder Islamfeindlichkeit gelesen werden. Zur Unfähigkeit, sich den Anderen, das Andere überhaupt vorzustellen, gesellt sich bei den Populisten eine fatale Selbstsicherheit, ähnlich der eines strengen Vaters, der sein quengelnd fragendes Kind anherrscht: "Warum? Darum! Basta!".
Diese quasi magischen Zirkelschlüsse, die selbst auf sprachliche Differenzierung verzichtenden Tautologien, das Pochen auf unabweisbare, weil ja "schwarz auf weiß gedruckte" Statistiken, all das wirkt nach Barthes’ Beobachtung wie ein Hundehalter, der plötzlich an der Leine zerrt: Das Denken darf nicht zu viel Auslauf bekommen. Höchste Zeit also, mit dem Parcours durch die "Mythen des Alltags" zu beginnen - ohne festes Ziel vor Augen, denn dieses Buch ist ein Tummelplatz für Kreuz- und Querleser.
Roland Barthes: Mythen des Alltags
Aus dem Französischen von Horst Brühmann
Suhrkamp Verlag, 326 Seiten.