Wenn das Eis schmilzt, kann es frostig werden

Von Thomas Schmidt |
Anrainerstaaten wie Kanada, Russland, Dänemark, Norwegen und auch die USA formulieren ihre Ansprüche auf das Gebiet um den Nordpol. Unter dem Eis werden enorme Rohstoffvorkommen vermutet: Fast ein Drittel der weltweiten Öl- und Erdgasreserven sollen dort liegen.
Joe Haven an der Südostküste der King-William-Insel am Rasmussen-Becken.

Hier in der Gegend fand Sir Jon Franklin sein tragisches Ende. Heute leben 1100 Menschen auf diesem Vorposten am Eismeer, fast ausschließlich Inuit. Einer der Stammesältesten ist George Porter, er ist fast 80 Jahre alt und solange er denken kann, hat er sich, jeden Winter, jeden Sommer, auf das Kommen und Gehen des Eises verlassen können. Aber der Kalender der Natur ist durcheinander geraten.

"Das Eis verschwand wie immer, aber zum ersten Mal ist es in diesem Jahr nicht zurückgekommen", klagt der Greis, er fürchtet, dass nun auch sein Lebenszyklus für immer zerstört wird. Es sind die Ureinwohner der Arktis, die zuerst und unmittelbar unter den klimatischen Verhältnissen leiden. Für sie schmilzt nicht nur das Eis – für sie verschwindet ein Lebensraum und eine ganze, tausendjährige Kultur:

"Die Inuit sitzen hier auf dem Gipfel der Welt, und hier leben wir unser Leben. Wir sind abhängig von der Verlässlichkeit und der Unversehrtheit unserer Umwelt und unseres Klimas – nicht nur um zu überleben, sondern um uns zu entfalten."

Sheila Watt-Cloutier ist eine international geachtete Inuit-Aktivistin, die sich seit Jahren für den Klimaschutz und die Menschenrechte einsetzt. 2007 gehörte sie zu den Kandidaten für den Friedens-Nobelpreis. Die Auswirkungen seien beträchtlich, sehr real und unmittelbar, sagt sie, und wohl keine Regierung, auch nicht die eigene, habe entschlossen genug gehandelt, um sich dieses Themas anzunehmen.

Tatsächlich warnen Umweltschützer schon lange vor den Folgen der Erderwärmung, aber erst seitdem die Auswirkungen des Klimawandels in der Arktis nun immer offenkundiger werden, wächst auch die Sorge bei Kanadas Regierung. Allein kann sie nichts ausrichten gegen die globale Erwärmung, deshalb sammelt sie Daten als Appell für ein längst überfälliges weltweites Umdenken. Auf einem zugefrorenen Fjord auf der Ellesmere Insel vor der Westküste Grönlands nehmen Wissenschaftler täglich Eisproben – es ist ein Protokoll des langsamen Verschwindens einer Naturlandschaft:

"Zwei Meter und acht Zentimeter."

Niemand kann hier oben in der Eiswüste sagen, ob dieser aktuelle Wert gut oder schlecht ist. Aber zusammen mit zigtausenden ähnlichen Daten anderer Messstellen ergibt sich ein dramatisches Bild: Die sommerliche Meereseisdecke in der Arktis erreichte 2010 einen der niedrigsten Werte der vergangenen 20 Jahre. Es sind Beobachtungen, die Wissenschaftler erschrecken:

"Es ist ein beispielloser Wandel, den wir ihn in den letzten Jahrhunderten, wahrscheinlich sogar in den vergangenen Jahrtausenden nicht gesehen haben."

Das sagt Walt Meier vom Schnee- und Eisdatenzentrum in Boulder im US-Bundesstaat Colorado. Die US-Raumfahrtbehörde NASA hat anhand von Satellitenbildern ermittelt, dass die Arktis allein zwischen 2004 und 2005 14 Prozent ihres "ewigen Eises" verloren hat – eine Fläche so groß, wie wenn Deutschland gleich zwei Mal von der Weltkarte verschwunden wäre. Kein Ökosystem leidet damit so sehr unter den Folgen des Klimawandels wie die Nordpolarregion. In den vergangenen Jahrzehnten ist die durchschnittliche Temperatur dort etwa doppelt so stark angestiegen wie im Rest der Welt. Mit dem schmelzenden Eis verliert die Arktis nicht nur einen einmaligen Lebensraum – sie verliert auch ihren natürlichen Schutz:

"Als sie noch mit Eis bedeckt war, trauten sich natürlich nur sehr wenige Schiffe in dieses Gebiet, die Gewässer waren sehr schwierig, vielfach praktisch unpassierbar."

Sagt Pierre Leblanc, er hat als Oberst in den kanadischen Streitkräften gedient, von 1995 bis 2000 war er Chef der kanadischen Truppen in der Polarregion. Heute, so Leblanc, kommt jeder in die Arktis.

Iqaluit auf der Baffininsel nördlich der Hudson Bay. In der kleinen Station der kanadischen Küstenwache herrscht Hochbetrieb.

"Ein chinesisches Forschungsschiff, ein russischer Kreuzfahrer…"

Der Wachhabende Jean-Pierre Lehnert hat alle Hände voll zu tun mit dem boomenden Schiffsverkehr am Eingang der Nordwest-Passage:

"Zweiundfünfzig Schiffe in diesem Jahr – noch nie hatten wir so viel Verkehr in der Arktis."

Lange wird dieser Rekord nicht halten: Bleibt die Nordwest-Passage bei fortschreitender Erderwärmung immer länger eisfrei, könnte sie zu einer Rennstrecke für Containerfrachter, Öltanker und Kreuzfahrtschiffe werden. Die Reise vom Atlantik zum Pazifik durch die Arktis ist 7.000 Kilometer und zwei Wochen kürzer als durch den Panama-Kanal in Mittelamerika, da lockt das große Geschäft. Für Kanada wäre der Boom allerdings mit einem beachtlichen Sicherheitsrisiko verbunden – das Land beansprucht die Nordwest-Passage als Binnengewässer, ist aber zu deren Schutz in der wenig erschlossenen Arktis kaum in der Lage. Wie hilflos Kanadas Küstenwache schon heute ist, beschreibt Jean Pierre Lehnert an einem Beispiel aus dem Sommer 2007, als plötzlich aus dem Nebel ein deutsches Kreuzfahrtschiff vor Iqaluit auftauchte. Lehnert erzählt:

"Niemand wusste, dass die 'Bremen' kommen würde, wir hatten nichts davon gehört und dann war sie mit einem Mal da, wie ein Geisterschiff brach sie plötzlich durch den Frühnebel."

Viel tun konnte er nicht, er hat ein paar Fotos gemacht, als Beleg für seine Vorgesetzten. Keine große Sache, niemand muss sich vor harmlosen Touristen fürchten, aber der Zwischenfall zeigt, wie schutzlos Kanadas Nordflanke gegenwärtig ist:

"Unser größtes Problem ist zur Zeit, dass wir nicht wissen, was in der Arktis passiert, weil wir nicht über die nötigen Einsatzmittel verfügen – weder im All, noch am Boden."

Das sagt Sicherheitsexperte Pierre Leblanc. Die schrumpfende Polkappe ist durchaus nicht nur Anlass zur Sorge – unter dem Eis locken gigantische Bodenschätze, die durch die stetige Erwärmung nun erreichbar erscheinen und nicht nur bei Kanada, sondern auch bei den Nachbarn am Nordpol brennende Begehrlichkeiten wecken. Es geht um 30 Prozent aller bislang unentdeckten, aber technisch förderbaren Öl- und Erdgasvorkommen weltweit, aber damit sind die arktischen Verlockungen längst nicht ausgeschöpft: Der Ursprung des nordischen Gesteins ähnelt geologischen Strukturen, die der Welt auch anderswo wahre Schatzkammern beschert haben:

"Die gleichen Formationen finden wir in Südafrika, Brasilien oder im Süden der Provinz Ontario. Da kommt ein Großteil der Metalle weltweit her, das heißt: Geologisch hat das Territorium der Arktis ein großes Potenzial."

Gordon McKay arbeitet für die Regierung von Nunavut, der kanadischen Inuit-Provinz. Es geht um Zinn, Mangan, Nickel, Blei und Platin, aber auch um Diamanten und vor allem um Gold. Und dessen kommerzielle Reize lassen keinen Weg zu weit, und keine Wartezeit zu lang erscheinen. Ein Beispiel ist die Gegend von Baker Lake, einer Siedlung etwa 300 Kilometer westlich der Hudson Bay. Dort war man nach langer Goldsuche endlich fündig geworden. Aber es dauerte fast 20 Jahre, bis der erste Barren gegossen werden konnte:

"Das Goldprojekt war ursprünglich Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre entdeckt worden, das gibt einen kleinen Eindruck, wie lange es dauert, um ein solches Minenprojekt zu entwickeln,."

Seit Januar 2010 wird das Vorkommen ausgebeutet, und die Geduld hat sich für die Betreiber gelohnt: Man rechnet mit einer Jahresproduktion von 350.000 Unzen – mehr als 10 Tonnen. Angesichts der ständig steigenden Goldpreise ein Millionengeschäft.

An der Nordspitze der Ellesmere Insel, gut 800 Kilometer südlich vom Nordpol.

Am nördlichsten Zipfel Kanadas lösen Wissenschaftler eine kleine Explosion aus. Hier oben, wo die Temperaturen im Winter unter die minus-50-Grad-Grenze sinken, haben sie in monatelanger harter Arbeit seismische Aufzeichnungsgeräte im Eis und im betonharten Permafrostboden versenkt. Sie zeichnen das Echo der Schallwellen des Explosionsknalls auf, die die verschiedenen Gesteins- und Ablagerungsschichten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten durchdringen und so ein detailliertes Bild der Bodenbeschaffenheit liefern.

"Wir sind als Wissenschaftler ausgebildet worden und jetzt hat die Wissenschaft einen durchaus praktischen Aspekt – wir tun etwas für Kanada."

Dr. Ruth Jackson ist Meeres-Geologin, und der Aspekt, von dem sie spricht, ist nicht nur praktisch, sondern von hohem nationalem Interesse. Experten wie sie sollen eine Antwort liefern auf die Frage: Wem gehört die Arktis. Gegenwärtig ist der geographische Nordpol nicht im Besitz eines Staates, denn er ist zu weit vom Festland entfernt. Auch der Arktische Seeboden ist gemäß einer UN-Konvention staatsfreies Gebiet.

Aber das soll aus Sicht der Anrainer nicht so bleiben: Vier Staaten haben eine Ausweitung ihrer Festlandsockelaußengrenze beantragt – neben Kanada noch Russland, Norwegen und Dänemark. Sie berufen sich dabei auf die Seerechtskonvention der Vereinten Nationen. Danach kann das Gebiet eines Landes auf dem Meeresboden erweitert werden, wenn ein Staat belegen kann, dass unterseeische Gesteinsformationen eine geologische Fortsetzung des eigenen Festlandsockels sind. Dr. Jackson meint:

"Aus Sicht der Kanadier sei dies eine einmalige Gelegenheit."

Tatsächlich würde sich das Staatsgebiet Kanadas um 360.000 Quadratkilometer vergrößern, sollte die UN die Ansprüche anerkennen – eine Fläche so groß wie die Provinzen Alberta, Saskatchewan und Manitoba zusammen. Aber um das durchzusetzen, muss Kanada zunächst einmal tausende Quadratkilometer des arktischen Nordens unter schwierigsten Witterungsbedingungen vermessen und kartieren:

"Wir wissen weniger über die Arktis als über die Rückseite des Mondes."

Jacob Verhoef ist Direktor des Geologischen Dienstes Kanada. Ein Defizit, das es schnellstens auszugleichen gilt, denn nur so kann man wohl die Expansions-Gelüste der Nachbarn – hauptsächlich Russlands und der USA – mit einem rechtlichen Riegel ausbremsen.

"Wenn man von oben auf den Erdball guckt, dann kann man tatsächlich sehen, wie nahe sich die Arktis-Anrainer sind: Ein kleines Meer umringt von fünf Staaten."

Und alle haben Ansprüche, allen voran die USA und Russland. Die amerikanischen Interessen richten sich dabei auf die ölreiche Beaufortsee in der Westarktis, die Russen wollen den ganzen Nordpol: Sie haben im Juli 2007 demonstrativ eine russische Flagge aus rostfreiem Titan nahe des Pols in exakt 4.261 Meter Tiefe in den Meeresgrund gepflanzt.

"Die Fahne hat keinerlei Einfluss auf die UN-Konvention, sagt Jackson. Es geht tatsächlich nicht um Medienspektakel, sondern um harte Fakten."

Und die sucht das Team von Ruth Jackson im Lomonossow-Rücken, einem unterseeischen Gebirge, das sich von der kanadischen Ellesmere Insel über 1800 Kilometer bis nach Sibirien erstreckt. Kanada will beweisen, dass dieser Rücken eine natürliche Fortsetzung seines Staatsgebietes ist, und, so glaubt man jedenfalls auf kanadischer Seite, die Chancen stehen gut:

Bis 2013 hat die Regierung in Ottawa Zeit, um ihre Ansprüche bei den Vereinten Nationen in New York zu belegen. Dann will man sich nicht nur gegen die Russen, sondern auch gegen die Amerikaner durchsetzen. Der Ton bleibt höflich, aber in der Sache stehen die Zeichen weniger auf Konsens als auf Konfrontation. Und die geht deutlich weiter als der fachliche Disput zwischen Wissenschaftlern – es geht auch um die Demonstration militärischer Macht: Russland stellt demnächst einen Eisbrecher mit Nuklear-Antrieb und 15 neue Atom-U-Boote in Dienst, ähnliche Pläne haben die USA mit zwölf neuen Booten. Norwegen hat Fregatten speziell für den Nordmeereinsatz bestellt, Dänemark Patrouillenboote und Kanada einen neuen Eisbrecher. Die Arktis wird damit zunehmend zum Schauplatz einer wachsenden Militärpräsenz.

Frobisher Bay, an Bord der kanadischen Fregatte "Toronto”.

Eine kleine Ehrenformation ist auf dem Oberdeck des Kriegsschiffes angetreten zur Begrüßung für den hohen Gast: Kanadas Verteidigungsminister Peter McKay ist bei Manövertruppen am Rand des Polarkreises zu Besuch.

"Die raue Wirklichkeit ist: Das arktische Eis öffnet sich, das führt zu bestimmten Herausforderungen. Kanadier sind freundliche Menschen, trotzdem werden wir unser Hoheitsgebiet verteidigen."

Verteidigungsminister Peter McKay verbreitet Entschlossenheit. Dabei ist die Region ja keineswegs menschenleer - rund 25.000 Inuit leben hier, auch sie fühlen sich als Kanadier. Aber sie haben in der Frage der Souveränität des Nordens mit der Regierung in Ottawa nicht immer gute Erfahrungen gemacht. Um den Anspruch auf die Region am Pol zu unterstreichen, hatte Kanada Anfang der 50er Jahre Dutzende Ureinwohner-Familien aus ihrem angestammten Lebensraum im Norden der Provinz Quebec als menschliches Faustpfand unter Zwang in die Arktis umgesiedelt. Viele, die einfach in der unwirtlichen Einöde ausgesetzt worden waren, sind verhungert oder sind an Krankheiten zugrunde gegangen.

Einige Jahrzehnte später sind fast alle Überlebenden dieser Menschenrechtsverletzung in ihre ursprüngliche Heimat zurückgekehrt. Die kanadische Regierung hat ihnen für das Unrecht eine Entschädigung von insgesamt zehn Millionen Dollar gezahlt – auf eine offizielle Entschuldigung mussten sie 60 Jahre lang warten. Sheila Watt-Cloutier, die Inuit-Aktivistin sagt: Man kann nur dann auf ein Land Anspruch erheben, wenn man die Menschen respektiert, die dort leben.