Wenn das Leben aus dem Gleichgewicht gerät
Jakub, die Hauptfigur des Romans, ist Juraprofessor an der Danziger Universität. Er ist ein erfolgreicher Mensch, glücklich verheiratet und zufrieden mit seiner Arbeit. Bei einer Prüfung lässt er ein junges Mädchen durchfallen, das sich bei ihm beschwert. Zufällig erfährt er eines Tages, dass sie sich deshalb umgebracht habe. Plötzlich gerät Jakubs Leben aus dem Gleichgewicht.
Jakub, die Hauptfigur des Romans "Der goldene Pelikan", ähnelt dem Autor Stefan Chwin in vielen Dingen. Jakub wurde in Danzig geboren. Seine Eltern kamen als Vertriebene aus dem Osten - der Vater aus Wilna, die Mutter aus Warschau - und bezogen das Haus von vertriebenen Deutschen.
Jakub wächst behütet auf, studiert Philosophie und wird Hochschullehrer. Allerdings ist er wohl etwa 20 Jahre jünger als der 1949 geborene Autor, denn Jakubs Karriere beginnt erst, nachdem "das Imperium fiel und Jakubs Land, das lange Zeit nicht sein eigener Herr gewesen war, wieder selbständig wurde".
So heißt es im Prolog des Romans, der Jakubs Existenz im großen Rahmen der Zeitgeschichte, der Weltgeschichte, ja, der atemberaubenden Unwahrscheinlichkeit der Entstehung dieses einen, individuellen Lebens umreißt.
Stefan Chwin schlägt den ganz hohen Ton an und stellt die ganz großen Fragen: Was ist der Mensch? Was bedeutet sein Leben? Und wovon ist es abhängig? Vielleicht sind diese Fragen im postkommunistischen, nach-kollektivistischen Polen neu und ungewiss. Das Individuum ist alles. Aber was, wenn auch das Individuum nichts ist? Was passiert, wenn Schuld keine politische Kategorie mehr ist, sondern eine ganz persönliche Angelegenheit?
Die Geschichte, die dieser Eröffnung folgt, hat damit von vornherein den Charakter eines Gleichnisses. Sie krankt daran, etwas beweisen zu müssen. Der Roman und seine Figuren leben nicht. Sie sind Kopfgeburten. An Jakub wird ein Exempel statuiert.
Zunächst ist er ein erfolgreicher Mensch, glücklich verheiratet und zufrieden mit seiner Arbeit als Universitätsprofessor. Doch eine Kleinigkeit bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Bei einer Prüfung lässt er ein junges Mädchen durchfallen, das sich am nächsten Tag bei ihm beschwert: Er habe ihre Note wohl falsch eingetragen, so schlecht könne sie nicht abgeschnitten haben. Er lässt sie abblitzen und erfährt ein paar Monate später, eine junge Frau aus seiner Fakultät habe sich umgebracht, weil sie die Prüfung nicht bestanden habe.
Nun fühlt er sich schuldig und beginnt den Fall zu recherchieren - ohne Genaueres herauszufinden. Er geht zur Beichte, sucht Rat bei Priestern und beim Psychoanalytiker. Beide können ihn von seiner gefühlten Schuld nicht erlösen. Ein dramatischer Abstieg beginnt.
Chwin schickt seinen Helden buchstäblich durch die Hölle. Er geht nicht mehr zu seinen Vorlesungen und wird gekündigt. Die Frau verlässt ihn, weil sie seine Initiativlosigkeit nicht länger erträgt. Bald verliert er die Wohnung, wird obdachlos und landet bei den Pennern am Bahnhof, wo er sich mit einer Trinkerin anfreundet.
Dieser soziale Niedergang ist mit Hinweisen auf die neue kapitalistische Wirklichkeit durchsetzt, wo die Namen Rossmann, Horten und McDonalds wie Herrschaftszeichen aufleuchten. Chwin thematisiert mit die Abstiegsangst der Mittelschicht, die zu dieser neuen Wirklichkeit dazugehört.
Doch in diese gesellschaftliche Oberfläche setzt er Bruchstücke der Geschichte ein: die Toten der polnischen Aufstände, das Flüchtlingsschiff "Wilhelm Gustloff" auf dem Grund des Meeres vor Danzig, die deutschen Spuren und die russischen Panzer. Chwin erzeugt ein Potpourri von Geschichte und Gegenwart mit Erinnerungssplittern "wie in einem kaputten Kaleidoskop".
Die Frage der Schuld, so scheint es, hängt in dieser Welt von der eigenen Empfindsamkeit ab. Polnischer Katholizismus schreibt sich in diesen merkwürdig aufgeladenen Roman ebenso ein wie griechische Mythologie. Man kann ihn als Hiob-Geschichte lesen, als Prüfung des Gerechten, der einmal falsch gehandelt hat oder als Neuformulierung des Orpheus-Mythos. Denn auch Jakub holt schließlich die Studentin, an deren Tod er schuldig zu sein glaubt, aus der Unterwelt zurück.
Es ist das eindrucksvollste Kapitel dieses Romans, in dem Chwin seinen Helden auf der Flucht vor einer rechten Schlägertruppe in die Danziger Unterwelt geraten lässt, wo die Toten der Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs auf Bänken sitzen und ihr Handgepäck im Wasser treibt - als sei seit 1945 noch kein Tag vergangen.
Dort findet er sie wieder, Natalia, die Wiedergeborene, die zu seiner Geliebten, zu seiner Krankenschwester, zu seiner Retterin wird. Das Ende dieser Professoren-Prosa ist katholischer Heiligen-Kitsch. Da verwandelt sich Jakub in einen lichtumfluteten Dulder, und über die beiden Liebenden heißt es in biblischen Tonfall:
"Sie nahmen einander an den Händen."
Die Kritik in Polen feierte den Roman als literarische Sensation. Das ist schwer nachzuvollziehen, sagt aber etwas aus über den gegenwärtigen Zustand der polnischen Gesellschaft zwischen Katholizismus und Kapitalismus.
Beide Pole fließen übrigens im Titel "Der goldene Pelikan" zusammen. Als Füllfederhalter ist der Pelikan ein westliches Markenprodukt. Mythologisch gesehen steht er für Christus, weil er angeblich seine Nachkommen so sorgfältig pflegt, dass er sie sogar mit dem eigenen Blut speist.
Stefan Cwin: Der goldene Pelikan. Roman. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgal. Hanser Verlag, München 2005, 300 Seiten, 19,90 Euro.
Jakub wächst behütet auf, studiert Philosophie und wird Hochschullehrer. Allerdings ist er wohl etwa 20 Jahre jünger als der 1949 geborene Autor, denn Jakubs Karriere beginnt erst, nachdem "das Imperium fiel und Jakubs Land, das lange Zeit nicht sein eigener Herr gewesen war, wieder selbständig wurde".
So heißt es im Prolog des Romans, der Jakubs Existenz im großen Rahmen der Zeitgeschichte, der Weltgeschichte, ja, der atemberaubenden Unwahrscheinlichkeit der Entstehung dieses einen, individuellen Lebens umreißt.
Stefan Chwin schlägt den ganz hohen Ton an und stellt die ganz großen Fragen: Was ist der Mensch? Was bedeutet sein Leben? Und wovon ist es abhängig? Vielleicht sind diese Fragen im postkommunistischen, nach-kollektivistischen Polen neu und ungewiss. Das Individuum ist alles. Aber was, wenn auch das Individuum nichts ist? Was passiert, wenn Schuld keine politische Kategorie mehr ist, sondern eine ganz persönliche Angelegenheit?
Die Geschichte, die dieser Eröffnung folgt, hat damit von vornherein den Charakter eines Gleichnisses. Sie krankt daran, etwas beweisen zu müssen. Der Roman und seine Figuren leben nicht. Sie sind Kopfgeburten. An Jakub wird ein Exempel statuiert.
Zunächst ist er ein erfolgreicher Mensch, glücklich verheiratet und zufrieden mit seiner Arbeit als Universitätsprofessor. Doch eine Kleinigkeit bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Bei einer Prüfung lässt er ein junges Mädchen durchfallen, das sich am nächsten Tag bei ihm beschwert: Er habe ihre Note wohl falsch eingetragen, so schlecht könne sie nicht abgeschnitten haben. Er lässt sie abblitzen und erfährt ein paar Monate später, eine junge Frau aus seiner Fakultät habe sich umgebracht, weil sie die Prüfung nicht bestanden habe.
Nun fühlt er sich schuldig und beginnt den Fall zu recherchieren - ohne Genaueres herauszufinden. Er geht zur Beichte, sucht Rat bei Priestern und beim Psychoanalytiker. Beide können ihn von seiner gefühlten Schuld nicht erlösen. Ein dramatischer Abstieg beginnt.
Chwin schickt seinen Helden buchstäblich durch die Hölle. Er geht nicht mehr zu seinen Vorlesungen und wird gekündigt. Die Frau verlässt ihn, weil sie seine Initiativlosigkeit nicht länger erträgt. Bald verliert er die Wohnung, wird obdachlos und landet bei den Pennern am Bahnhof, wo er sich mit einer Trinkerin anfreundet.
Dieser soziale Niedergang ist mit Hinweisen auf die neue kapitalistische Wirklichkeit durchsetzt, wo die Namen Rossmann, Horten und McDonalds wie Herrschaftszeichen aufleuchten. Chwin thematisiert mit die Abstiegsangst der Mittelschicht, die zu dieser neuen Wirklichkeit dazugehört.
Doch in diese gesellschaftliche Oberfläche setzt er Bruchstücke der Geschichte ein: die Toten der polnischen Aufstände, das Flüchtlingsschiff "Wilhelm Gustloff" auf dem Grund des Meeres vor Danzig, die deutschen Spuren und die russischen Panzer. Chwin erzeugt ein Potpourri von Geschichte und Gegenwart mit Erinnerungssplittern "wie in einem kaputten Kaleidoskop".
Die Frage der Schuld, so scheint es, hängt in dieser Welt von der eigenen Empfindsamkeit ab. Polnischer Katholizismus schreibt sich in diesen merkwürdig aufgeladenen Roman ebenso ein wie griechische Mythologie. Man kann ihn als Hiob-Geschichte lesen, als Prüfung des Gerechten, der einmal falsch gehandelt hat oder als Neuformulierung des Orpheus-Mythos. Denn auch Jakub holt schließlich die Studentin, an deren Tod er schuldig zu sein glaubt, aus der Unterwelt zurück.
Es ist das eindrucksvollste Kapitel dieses Romans, in dem Chwin seinen Helden auf der Flucht vor einer rechten Schlägertruppe in die Danziger Unterwelt geraten lässt, wo die Toten der Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs auf Bänken sitzen und ihr Handgepäck im Wasser treibt - als sei seit 1945 noch kein Tag vergangen.
Dort findet er sie wieder, Natalia, die Wiedergeborene, die zu seiner Geliebten, zu seiner Krankenschwester, zu seiner Retterin wird. Das Ende dieser Professoren-Prosa ist katholischer Heiligen-Kitsch. Da verwandelt sich Jakub in einen lichtumfluteten Dulder, und über die beiden Liebenden heißt es in biblischen Tonfall:
"Sie nahmen einander an den Händen."
Die Kritik in Polen feierte den Roman als literarische Sensation. Das ist schwer nachzuvollziehen, sagt aber etwas aus über den gegenwärtigen Zustand der polnischen Gesellschaft zwischen Katholizismus und Kapitalismus.
Beide Pole fließen übrigens im Titel "Der goldene Pelikan" zusammen. Als Füllfederhalter ist der Pelikan ein westliches Markenprodukt. Mythologisch gesehen steht er für Christus, weil er angeblich seine Nachkommen so sorgfältig pflegt, dass er sie sogar mit dem eigenen Blut speist.
Stefan Cwin: Der goldene Pelikan. Roman. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgal. Hanser Verlag, München 2005, 300 Seiten, 19,90 Euro.