Wenn der Chor zur zweiten Familie wird

Von Bettina Ritter |
Sie singen Pop, Chanson, aber auch Jazz-Evergreens, und das seit einem Vierteljahrhundert: Die Mitglieder des Berliner Chores "Die Taktlosen" halten einander schon lange die Treue - und haben in dieser Zeit vieles gemeinsam erlebt.
"Sofa No. 2 ist eine Hommage an ein Sofa von Frank Zappa. Das ist skurril genug. Und ich hatte plötzlich die Idee, man könnte alles, was hintereinander weg gesungen wird, übereinanderschichten als großen Kanon, und übereinander gibt es einen Riesen-Sound. Es ist, weil es so besonders ist, im Herzstück unseres Programms."

Meinhard Ansohn, der Chorleiter der "Taktlosen". Vor ihm haben sich seine 48 Sängerinnen und Sänger – die meisten Mitte 50, in Bequem-Schuhen, Fleece-Pullis und Jeans - zu einem merkwürdigen Bild gruppiert. Links eine kniende Frau, die weit ausgebreiteten Arme mit Tüchern umwickelt, deren Enden von anderen Frauen gehalten werden. Von rechts schmeißt eine Dame, die lässig-lasziv in den Armen eines Mannes liegt, mit weißen Papierschnipseln.

"Es sind eben nicht nur die, die klassische Chöre singen."

Lindi Jänisch ist eines der Gründungsmitglieder der "Taktlosen". Seit 25 Jahren singt die Lehrerin hier den Alt.

"Genau das hat mich dazu bewogen, diesen Chor zu gründen und zu sagen, ich will endlich mal diese Songs singen oder Madrigale, die ich mag. Wir singen deutschsprachig, 'Haben Sie schon mal im Dunkeln geküsst' oder die Lieder unserer Jugend, die Beatles, auch experimentelle Sachen, was mich auch wirklich bewegt."

Die "Taktlosen" singen aus Freude am Singen. Und nicht nur einmal pro Woche bei den Proben. Auch nach dem Üben, in der Kneipe, bei Feiern oder auf Reisen, zum Beispiel zum Partner-Chor in Köln oder nach Italien, erinnert sich der Bass Gerhard Wagner.

"Ich erinnere so eine Situation in der Toskana auf einem Hügel mit einem abgeernteten Strohfeld und vorne zwei Steineichen, wo wir abends nach dem Essen einfach das, was kommt, extemporiert haben, so Stegreiflieder, die präsent sind. Und dann bei Abendstimmung, mit einem aufgehenden Mond, das hat wirklich etwas Bezauberndes."

Zum Repertoire gehören auch Stücke, auf die der Chorleiter Meinhard Ansohn einen deutschen Text dichtet. "La isla bonita" wird zu "Madonna im Radio", Sades "Smooth operator" zu "Du bist nicht jeder".

Pop, Chanson, Schlager, aber auch Jazz-Evergreens gehören zum Fundus der "Taktlosen". Gut 200 Songs haben sie parat – auswendig.

"Unser Repertoire ist eigentlich unser Leben. Immer wenn jemand Geburtstag hat, gibt's ein Wunschlied, und der wünscht sich das aus dem Repertoire. Und dadurch bleibt es. Und dadurch, dass es bleibt, hält es uns auch zusammen. Und da geht man auch nicht raus, und da kommt man auch nicht so schnell rein."

Womit Chorleiter Meinhard Ansohn die größte Besonderheit der "Taktlosen" anspricht: Kaum Fluktuation. Viele der Mitglieder – die meisten Mitte 50 oder älter – sind seit mehr als 20 Jahren dabei, nicht wenige seit der Gründung vor 25 Jahren. Da der Chor nicht größer als 50 Mitglieder werden soll, kommen kaum neue Sänger dazu. Denn: Keiner möchte gehen.

"Sie werden keinen finden, der erst ein Jahr dabei ist. Und die, die schon zehn Jahre dabei sind, die nennen sich die jungen Taktlosen, und die treffen sich manchmal zum Nachlernen älterer Stücke. Das ist wirklich skurril. Und die sind auch schon 50, 60 Jahre alt, die jungen Taktlosen."

Gegründet haben sich die "Taktlosen" 1986 als Eltern- und Lehrer-Chor. Meinhard Ansohn, der im Hauptberuf Musiklehrer ist, hatte ein Jahr zuvor einen Schülerchor ins Leben gerufen. Weil immer mehr Erwachsene auch singen wollten, gab es bald noch einen Chor. Und der ungewöhnliche Name war auch schnell gefunden.
"Der ist einfach irgendwann mal entstanden durch einzelne Sprüche, och, du hast schon wieder nicht den Takt gehalten. Ja, wir sind die Taktlosen, so ist es irgendwann entstanden."

Vieles haben die Taktlosen in 25 Jahren gemeinsam erlebt: Hochzeiten, Trennungen, Geburten, aber auch ernste Krankheiten und sogar den Tod dreier Mitglieder. Allessandra Luda kann sich ihr Leben ohne den Chor gar nicht mehr vorstellen.

"Weil das die nettesten Leute sind, die es gibt, und wir schon so lange zusammen sind, und zusammen alt werden und ganz vieles Schönes und manchmal Trauriges zusammen erlebt haben, und das ist eigentlich wie eine zweite Familie."

Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC) stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.