Wenn der Sinn für Diskretion schwindet

Moderation: Dieter Kassel |
Die zunehmende staatliche Überwachung, allgemein lautes Handygequatsche und der Drang, sich in der Öffentlichkeit selbst zu präsentieren - all das sind für den Soziologen Wolfgang Sofsky Bedrohungen des Privaten. Doch Privatheit ist wichtig, glaubt Sofsky, damit wir unsere sozialen Kontakte differenzieren können und die Freiheit zur Auswahl haben.
Kassel: In einer Rundfunksendung über das Private zu reden, ist eigentlich nicht möglich, auch wenn das heutzutage in den Medien oft gar nicht mehr so scheint. Aber was öffentlich besprochen wird, das ist natürlich nicht privat, und deshalb wollen wir jetzt auch nicht über Privates reden, sondern über das Phänomen des Privaten und seine Bedrohung. Wir tun das mit dem Soziologen Wolfgang Sofsky. Er war Professor in Göttingen und Erfurt, lebt jetzt als freier Autor in Göttingen und hat gerade ein neues Buch veröffentlicht - ein Buch mit dem Titel "Verteidigung des Privaten". Schönen guten Tag, Herr Sofsky.

Wolfgang Sofsky: Hallo.

Kassel: Ihr Buch ist, das steckt ja schon im Titel, eine Verteidigungsschrift. Wer oder was greift denn das Private an?

Sofsky: Das sind eine ganze Reihe von Akteuren. Man kann vielleicht drei große Richtungen unterscheiden. Das eine ist die Ausdehnung staatlicher Übergriffe unter den Zeichen patriotischer Sicherheitsgesetzgebung. Das Zweite sind solche Maßnahmen, wo es um die Gängelei unseres Alltagslebens geht, also wo man uns Vorschriften machen will, was wir essen sollen und was nicht, wo und ob wir überhaupt rauchen sollen. Das ist sozusagen eine Gängelei unserer Alltagspraktiken. Und ein dritter Bereich ist ein kultureller Prozess, der zu einer Aushöhlung unseres Sinns für das Diskrete oder für Diskretion führt, die Aushöhlung des Sinns für das Geheimnis. Und zwar u.a. dadurch, dass Menschen sich angewöhnen, sehr offensiv sich selber zu präsentieren und ihre Zuschauer in peinliche Situationen hineinmanövrieren, und zwar, ohne dass sie es bemerken. Oder Formen der sozialen akustischen Umweltverschmutzung, das weiß jeder, wenn nicht respektiert wird zum Beispiel die Lautstärken, mit denen die einen die anderen bedrängen, in engeren Kabinen, durch lautes Geschwätz über das Handy.

Kassel: Lassen Sie uns über die dritte Gruppe der Bedrohung, so wie Sie das gerade aufgeteilt haben, doch vielleicht zuerst sprechen. Ist denn zum Beispiel, Sie haben das ja genannt selber auch gerade, ein Mensch, der in einem Zugabteil mir gegenübersitzt und laut mit dem Handy telefoniert, der gibt natürlich viel von seinem Privaten preis, aber ist das eine Bedrohung für meine Privatsphäre?

Sofsky: Ja, denn ich hab zunächst einmal einen Anspruch darauf, dass ich nicht jedes Gequatsche hören muss, und dass ich nicht zum Mitwisser gemacht werde für Informationen, die mich eigentlich erstens nichts angehen, mich aber zweitens auch gar nicht interessieren. Und wenn ich nicht die Möglichkeit habe wegzuhören und es einfach sozusagen in die Indifferenz zu verschieben, und das ist ja häufig bei dieser akustischen Umweltverschmutzung der Fall, dann ist das auch ein Angriff auf meine sozusagen sinnliche Hörsphäre.

Kassel: Lassen Sie uns über die beiden anderen Bereiche sprechen, die Sie erwähnt haben, wo Sie eine Bedrohung für das Private sehen. Nehmen wir den Bereich der öffentlichen Gängelung, wie Sie das genannt haben. Sie haben die zunehmenden Rauchverbote deutlich angesprochen, Sie haben, ja wie soll ich das nennen, Ernährungshinweise, deutliche Ernährungshinweise angesprochen. Das begegnet mir alles auch, und es ist etwas, was mich im Alltag zwar ärgert, aber ich sehe die Bedrohung des Privaten nicht. Denn wenn nun ein zuständiger Minister sagt, ich soll kein fettiges Fleisch mehr essen, dann bedeutet das doch nicht, dass ich das nicht mehr tun darf.

Sofsky: Zunächst mal. Aber was geht denn den Minister das an, was Sie für Fleisch essen? Was geht denn den Minister an, ob Sie in einem Restaurant sich mit anderen Gästen darüber verständigen, ob Sie rauchen oder nicht? Das geht den Minister überhaupt nichts an.

Kassel: Aber der Minister ist beispielsweise als Gesundheitsminister zuständig für Gesundheit, also kann er doch öffentlich erklären, was er für Ernährung für richtig hält. Ich habe doch in einer Demokratie das Recht zu sagen, ich halte es nicht für richtig, oder sogar zu sagen, ich halte es für richtig, aber trotzdem halte ich mich nicht dran.

Sofsky: Es beschränkt sich ja nicht darauf, dass ein Minister eine Meinung äußert, sondern es werden Gesetze und Verordnungen erlassen und Strafen an Normenverstöße gebunden. Und das kann Sie teuer zu stehen kommen irgendwann. Wer gegen das Rauchverbot verstößt, wird demnächst eine ganze Menge zahlen müssen. Im Übrigen, wenn ich diese private Bemerkung sagen darf, ich rauche selber nicht. Aber ich denke, die Gesellschaft kann selber dafür sorgen, wie sie das managt. Und wir brauchen dazu keine staatlichen Vorschriften und auch keine staatlich verordneten Strafen.

Kassel: Wie erklären Sie sich einen - vielleicht sehen Sie ihn nicht, ich gebe aber zu, ich sehe ihn - einen Mangel an Bereitschaft, gegen so etwas zu protestieren, gegen so etwas zu kämpfen? Nehmen wir mal ein simples Beispiel, nehmen wir die 80er Jahre und die Volkszählung damals. Ein relativ harmloser Vorgang im Vergleich zu dem, was heute mit dem Kampf gegen den Terror geplant ist und gemacht wird. Aber da hat's einen Aufschrei. Das war nicht nur eine Volksbefragung, daraus wurde dann eine Volksbewegung gegen dieselbe. Heute ist in Bezug auf das, was man so allgemein Datenschutz nennt, der Bürger - mein Eindruck - bereit, mehr hinzunehmen, aus welchen Gründen auch immer. Und das, was Sie sagen, dass Dinge wie das Rauchverbot, wie Ernährungshinweise und anderes, dass das eine staatliche Gängelung ist, die zu sehr problematischen Situationen führen kann irgendwann - ich habe den Eindruck, viele Menschen teilen Ihre Meinung da nicht. Woran liegt das?

Sofsky: Zunächst muss man ja sagen, dass dieselbe Generation, die seinerzeit gegen diese relativ harmlose Volkszählung aufgestanden ist, gleichzeitig damit beschäftigt war, das Private selber zu entwerten. Damals hieß die Parole, alles Private sei öffentlich. Hier wurde alles eingeebnet. Natürlich haben nur die wenigsten das wirklich radikal umgesetzt, aber es gab so etwas wie eine Umwertung oder eine Abwertung des angeblich bürgerlichen und philiströsen Privaten.

Kassel: Aber entschuldigen Sie, das sind ja zwei verschiedene Dinge. Die wollten ihr Privatleben nicht mehr vor ihrem Nachbarn geheim halten. Aber wenn es darum geht, dass wie bei einer Volkszählung der Staat Daten sammelt, dann war das ja plötzlich wieder eine ganz andere Sache. Und das hat ja Leute intellektuell und emotional sehr bewegt damals.

Sofsky: Richtig. Ich wollte nur drauf hinweisen, dass, wenn es um die Geschichte des Sinnes für das Private geht, damals eine sehr widersprüchliche Konstellation war. Man hatte einen antistaatlichen Affekt und man hat gleichzeitig im sozialen Bereich das Private entwertet. Das waren dieselben Personen.

Kassel: Wenn ich Ihre These zuspitzen darf, die Sie gerade in Bezug auf diese Generation formuliert haben und auf dieses Entprivatisieren des Privaten in mancherlei Hinsicht, heißt das, wenn ich im Zug jetzt den lauten Handy-Telefonierer vor mir habe, wenn jemand mich schwer erkältet deutlicher anhustet, als er sich das noch in den 60ern getraut hätte, das ist eine Spätfolge der 68er Revolution?

Sofsky: Nein, diese Kampagne mache ich gar nicht mit.

Kassel: Deshalb frage ich.

Sofsky: Nein, das würde ich nicht sagen, zumal diese 68er Generation in dieser Form, wie sie immer konstruiert wird, gab's ja sowieso nicht. Es ist ein relativ breiter Prozess, der sich da abspielt und der sich nicht nur auf diese Generation beschränkt.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit dem Soziologen Wolfgang Sofsky über sein neues Buch "Verteidigung des Privaten". Wir kommen an einem natürlich nicht vorbei, Herr Sofsky, nämlich an der Bedrohung durch weltweiten Terror, durch vor allen Dingen islamistischen Terror und insbesondere an den Ideen zur Bekämpfung dieses Terrors von Wolfgang Schäuble. Der will die Online-Durchsuchung von privaten Computern unbedingt haben, er will Daten sammeln, immer mehr öffentliche Orte auch in Deutschland werden mit Kameras überwacht. Da stellt sich aber nun wieder dieses große Problem der Abwägung, dass das ein Eingriff in die Privatsphäre sein kann, wird niemand bestreiten. Aber viele werden natürlich sagen, es ist ein notwendiger Eingriff, es sind notwendige Einschränkungen, weil lieber ein bisschen weniger Privatleben als rein physisch aufgrund eines Anschlags gar kein Leben mehr.

Sofsky: Ich würde ja sagen, dass viele dieser Maßnahmen völlig ineffektiv wären, wenn sie angewendet würden. Man hat die Kampagne für die Online-Überwachung u.a. dadurch begründet, dass man 14 Personen identifiziert hat, die aus Taliban-Lagern aus Pakistan nach Deutschland zurückgekehrt sind und von denen man Böses erwartet. Ich bestreite nicht, dass diese Figuren zu Untaten vielleicht fähig sind und sie vielleicht sogar planen. Nur man hat sie im Visier, und die Behörden, die sie überwachen, beschweren sich darüber, dass sie nicht genügend Beweise haben und dass sie der Observation leid seien.

Das haben Geheimdienste übrigens schon immer gesagt, wenn nichts passiert und sie immer weiter überwachen, dann beschweren sie sich darüber, dass das ein sinnloses Tun sei. Also will man sozusagen die Überwachung technisieren und das Personal dafür einsparen.

Dafür müssen wir diskutieren eine Maßnahme, die niemanden mehr davor schützt, dass sein digitaler Schreibtisch ausgespäht wird, abgesehen jetzt von technischen Schwierigkeiten, die das mit sich bringt. Aber das halte ich für einen völlig unverhältnismäßigen Vorschlag, der gar nicht viel mehr Sicherheit bringen wird. Denn wer es wirklich darauf angelegt hat, einen Anschlag zu verüben, und er weiß, dass seine digitale Kommunikation überwacht wird, der wird zu alten Formen der Nachrichtenübermittlung zurückkehren. Die Tupamaros hatten keine Laptops und konnten damals in Uruguay in den 70er Jahren eine ganze Reihe von bösen Anschlägen machen.

Und das große Problem ist, man will technologische Prävention und weigert sich, die "Human Intelligence" einzusetzen, nämlich in die Szenen und in die Milieuszenen infiltrieren. Dazu sind unsere Geheimdienste nicht bereit und nicht in der Lage. Und dafür wollen sie auch kein Geld mobilisieren. Aber das sind die Verfahren, die klassischen Verfahren, mit denen man an die nötigen Informationen kommt.

Kassel: Lassen Sie uns ein Fazit ziehen, Herr Sofsky. Sie schreiben ja über diese verschiedenen Bereiche, durch die Sie das Private bedroht finden, in Ihrem Buch unterschiedliche Dinge. Und es findet sich, ich darf das mal zitieren, u.a. auch der Satz, wie jeder Satz aus einem Buch aus dem Zusammenhang gerissen, aber doch beeindruckend der Satz: "Die Mauer gehört zu den wichtigsten Erfindungen der Menschheit." Sie schreiben auch: "Nur wenn private Angelegenheiten den Menschen selbst überlassen bleiben, kann sich eine Vielfalt von Lebensformen entwickeln." Mir ist das und anderes nachvollziehbar, aber gibt es nicht auch irgendwo eine Grenze, gibt es nicht irgendwo das Problem, dass zuviel Privatheit für das Individuum irgendwann auch mal in Verfolgungswahn und Ähnliches umschlagen kann?

Sofsky: Ich glaube nicht, dass das unser Problem ist. Privatheit hat u.a. den guten Sinn, dass wir unsere sozialen Kontakte differenzieren können. Wir können auswählen zwischen Menschen, denen wir vertrauen, denen wir etwas zeigen, denen wir etwas offenbaren - nennen wir das mal unsere Freunde. Und wir können sie unterscheiden von den Fremden, denen wir das nicht mitteilen möchten, mit denen wir nur einen höflichen Umgang im besten Falle pflegen wollen und mehr nicht, die uns nicht weiter interessieren. Es ist ja erlaubt, sich in einer Gesellschaft auch für andere nicht zu interessieren.

Und die dritte Kategorie, die man zu dieser Differenzierung hinzuzählen muss, das sind die Feinde, denen man ohnehin nichts mitteilen will von dem, was einen selbst betrifft. Also Privatheit eröffnet uns die Möglichkeit zu kommen und zu gehen, uns anzunähern, uns wieder zurückzuziehen. Das ist von Verfolgungswahn weit entfernt.