Wenn die Augen zufallen
Der frühere stellvertretende Regierungssprecher Thomas Steg hat etliche Gipfel begleitet und aus nächster Nähe miterlebt, wie es ist, wenn Politiker bis zum Anschlag verhandeln. Um mit Dauerstress und Müdigkeit umzugehen, entwickelt jeder seine eigenen Strategien, so der Politikberater.
Jan-Christoph Kitzler: Von Bundeskanzlerin Angela Merkel heißt es ja, sie sei der Kameltyp. Sie kann viele Tage mit wenig Schlaf auskommen und am Wochenende muss sie dann manchmal auftanken und sich so richtig ausschlafen. Aber auch das musste wohl in den letzten Wochen häufiger ausfallen zu Gunsten der Euro-Rettung, und da stellt sich natürlich schon die Frage, wie man das alles durchhält und wie, angesichts dieses Dauerstresses, eigentlich noch vernünftige Entscheidungen zu Stande kommen. Darüber spreche ich jetzt mit dem Politikberater Thomas Steg, der auch schon viele, viele Gipfeltreffen miterlebt hat. Sieben Jahre lang war er stellvertretender Sprecher der Bundesregierung. Schönen guten Morgen, Herr Steg.
Thomas Steg: Schönen guten Morgen!
Kitzler: Zehn Stunden wurde am Sonntag in Brüssel verhandelt, bis vier Uhr morgens, und das war ja nicht alles. Eigentlich waren die letzten Wochen eine einzige Dauerkrisensitzung mit vielen Terminen, Telefonaten, Abstimmungen. Wie stecken das Politiker eigentlich weg, so eine Phase?
Steg: Ja ich glaube, es kann nur eine Phase sein, und da ist eine hohe Anspannung, eine hohe Konzentration. Aber es gibt dann eben auch Erfolgserlebnisse, und dann wirkt Politik auch wie eine Droge und setzt Adrenalin frei. Aber man kann das nicht unbegrenzt machen, das ist schon Raubbau, was die Spitzenpolitiker in solchen Wochen mit ihren eigenen Kräften und mit dem Körper betreiben.
Kitzler: Wenn man die Bilder aus Brüssel um vier Uhr morgens gesehen hat, dann Frankreichs Staatspräsident Sarkozy schon deutlich geschwankt, sogar ein wenig gelallt, die Kanzlerin machte noch einen recht wachen Eindruck. Was ist denn Merkels Geheimnis? Sie waren ja nahe dran.
Steg: Na ja, ich glaube, jeder muss für sich individuell so kleine Strategien entwickeln, ob man viel oder wenig Kaffee trinkt, ob man viel oder wenig isst. Und das beste ist, auch bei solchen Gipfeltreffen dann zwischendurch mal kleine Unterbrechungen, sich ein bisschen zu bewegen, die Runde aufzulösen, zu jemandem hinzugehen und ein Gespräch zu führen. Also da entwickelt jeder, glaube ich, im Laufe der Zeit seine eigene Gipfelstrategie, um so eine Nacht gut und einigermaßen frisch zu überstehen.
Kitzler: Es gibt ja einigermaßen entspannte Gipfel, bei denen haben die sogenannten Sherpas vorher schon alles vorbereitet, die Staats- und Regierungschefs müssen nur noch kurz um einen Runden Tisch zusammenkommen und dann ein Foto machen und eine Pressekonferenz geben. Diesmal war das ja offensichtlich nicht so. Wie viel passiert denn in solchen Krisennächten tatsächlich noch in den direkten Verhandlungen der Regierungschefs?
Steg: Dann wird alles verhandelt, weil es genau ein Punkt ist, an dem deutlich wird, dass die engsten Mitarbeiter nur Vorarbeiten leisten können, aber sie haben nicht das politische Mandat, sie haben sozusagen nicht Prokura, um endgültig Probleme zu lösen. Das können dann nur die Chefs mit ihrer Verantwortung, mit ihrer Rolle in der nationalen Politik selbst machen. Und da erlebt man dann Gipfeldiplomatie sozusagen hautnah, dann werden Krisengespräche geführt, dann muss nachverhandelt werden, dann gibt es noch mal diese oder jene Forderung, da eine Unterbrechung, Beichtstuhlgespräche mit zwei oder drei Leuten, und das ist dann richtig aufwendig.
Kitzler: Können sich Politiker in so einer Situation, in so harten Verhandlungen eigentlich überhaupt leisten zu zeigen, dass man erschöpft ist?
Steg: Na ja, man versucht das natürlich zu vermeiden, dass man zeigt, dass man erschöpft ist. Aber ich glaube, es ist doch nur zu menschlich, wenn das über mehrere Tage und jetzt in der Euro-Krise über mehrere Wochen geht, wenn man sich mal etwas verschlafen die Augen reibt, oder wenn die Augen einem mal zufallen, wenn ein Kollege zu länglichen Ausführungen anhebt. Ich glaube, das ist alles sehr verständlich. Und man darf ja nicht vergessen: die meisten Dinge bei solchen Gipfeltreffen finden hinter verschlossenen Türen statt, dann ist das auch schon in Ordnung.
Kitzler: Wie haben Sie das denn erlebt? Kommen, wenn alle so erschöpft sind, wenn alle am Limit sind, überhaupt noch vernünftige Entscheidungen zu Stande? Wie funktioniert das?
Steg: Ich kann mich an einen Gipfel erinnern, der war im März 1999 in Berlin, der war auch spannend über drei Tage, da ging es um den Kriegseinsatz auf dem Balkan und da ging es auch um die finanzielle Planung in der Europäischen Union, und da sind morgens um fünf noch die Verhandlungen abgeschlossen worden, und da hat, glaube ich, mancher dieser Strategen wirklich darauf gesetzt, dass er für sein Land, wenn es um europäische Gelder geht, mehr rausholen kann, wenn er sozusagen früh morgens, wenn die anderen schon leicht am wegschlummern sind, noch eine Forderung stellt und sagt, ich will noch ein paar Millionen mehr haben. Ob das immer klug ist, die Nächte durchzuverhandeln? Es gehört zum europäischen Ritual. Aber ob die Politik dadurch besser wird? Ich habe meine Zweifel.
Kitzler: Von Helmut Kohl gibt es ja dieses Gerücht, er habe sich oft einfach nur deshalb durchgesetzt, weil er das meiste Sitzfleisch hatte, weil er am längsten durchhalten konnte. Kann das auch ein taktisches Mittel sein, auch für Frau Merkel vielleicht?
Steg: Na ja, bestimmte Sachen müssen sich auch entwickeln und man muss darauf eingestellt sein. Wenn man sich zurückerinnert an die großen historischen Entscheidungen, an die, wenn man so will, Gabelungen der europäischen Politik, dann waren das immer Gipfel, die über mehrere Tage gedauert haben, und immer nächtliche Entscheidungen. Das geht dann nicht anders. Und da muss man dann schon motiviert hingehen, ausgeruht hingehen, konzentriert hingehen, und ich glaube, die deutschen Kanzler haben da immer sehr viele Fähigkeiten besessen.
Kitzler: Kann sich Angela Merkel jetzt nach diesem Gipfel-Marathon eigentlich mal kurz zurückziehen und sich mal richtig ausschlafen, oder ist das gar nicht drin in dieser Zeit?
Steg: Was heißt richtig ausschlafen? Man wird schon und sie wird auch schon zusehen, glaube ich, nach so einer extremen Anstrengung, dass man das einmal aufarbeitet und überlegt, ist jetzt alles bedacht. Es ist nur so, dass die Politik sehr kurzlebig ist, kurztaktig ist und sehr schnell ja ein neues Problem auftritt, ein neues Thema und sie unverändert gefordert ist. Also wenn ein Wochenende jetzt nach so einer Gipfelnacht ein bisschen ruhiger vergeht, dass man vielleicht mal einen Spaziergang machen kann und eine Stunde länger schlafen kann, in Ruhe frühstücken kann, dann hat man das Gefühl, das ist schon fast ein Königreich.
Kitzler: Die Belastungen der Politiker angesichts der Krisendiplomatie, der Krisengipfel. Darüber sprach ich mit dem Politikberater Thomas Steg. Er war sieben Jahre lang auch stellvertretender Sprecher der Bundesregierung. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Steg: Bitte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Thomas Steg: Schönen guten Morgen!
Kitzler: Zehn Stunden wurde am Sonntag in Brüssel verhandelt, bis vier Uhr morgens, und das war ja nicht alles. Eigentlich waren die letzten Wochen eine einzige Dauerkrisensitzung mit vielen Terminen, Telefonaten, Abstimmungen. Wie stecken das Politiker eigentlich weg, so eine Phase?
Steg: Ja ich glaube, es kann nur eine Phase sein, und da ist eine hohe Anspannung, eine hohe Konzentration. Aber es gibt dann eben auch Erfolgserlebnisse, und dann wirkt Politik auch wie eine Droge und setzt Adrenalin frei. Aber man kann das nicht unbegrenzt machen, das ist schon Raubbau, was die Spitzenpolitiker in solchen Wochen mit ihren eigenen Kräften und mit dem Körper betreiben.
Kitzler: Wenn man die Bilder aus Brüssel um vier Uhr morgens gesehen hat, dann Frankreichs Staatspräsident Sarkozy schon deutlich geschwankt, sogar ein wenig gelallt, die Kanzlerin machte noch einen recht wachen Eindruck. Was ist denn Merkels Geheimnis? Sie waren ja nahe dran.
Steg: Na ja, ich glaube, jeder muss für sich individuell so kleine Strategien entwickeln, ob man viel oder wenig Kaffee trinkt, ob man viel oder wenig isst. Und das beste ist, auch bei solchen Gipfeltreffen dann zwischendurch mal kleine Unterbrechungen, sich ein bisschen zu bewegen, die Runde aufzulösen, zu jemandem hinzugehen und ein Gespräch zu führen. Also da entwickelt jeder, glaube ich, im Laufe der Zeit seine eigene Gipfelstrategie, um so eine Nacht gut und einigermaßen frisch zu überstehen.
Kitzler: Es gibt ja einigermaßen entspannte Gipfel, bei denen haben die sogenannten Sherpas vorher schon alles vorbereitet, die Staats- und Regierungschefs müssen nur noch kurz um einen Runden Tisch zusammenkommen und dann ein Foto machen und eine Pressekonferenz geben. Diesmal war das ja offensichtlich nicht so. Wie viel passiert denn in solchen Krisennächten tatsächlich noch in den direkten Verhandlungen der Regierungschefs?
Steg: Dann wird alles verhandelt, weil es genau ein Punkt ist, an dem deutlich wird, dass die engsten Mitarbeiter nur Vorarbeiten leisten können, aber sie haben nicht das politische Mandat, sie haben sozusagen nicht Prokura, um endgültig Probleme zu lösen. Das können dann nur die Chefs mit ihrer Verantwortung, mit ihrer Rolle in der nationalen Politik selbst machen. Und da erlebt man dann Gipfeldiplomatie sozusagen hautnah, dann werden Krisengespräche geführt, dann muss nachverhandelt werden, dann gibt es noch mal diese oder jene Forderung, da eine Unterbrechung, Beichtstuhlgespräche mit zwei oder drei Leuten, und das ist dann richtig aufwendig.
Kitzler: Können sich Politiker in so einer Situation, in so harten Verhandlungen eigentlich überhaupt leisten zu zeigen, dass man erschöpft ist?
Steg: Na ja, man versucht das natürlich zu vermeiden, dass man zeigt, dass man erschöpft ist. Aber ich glaube, es ist doch nur zu menschlich, wenn das über mehrere Tage und jetzt in der Euro-Krise über mehrere Wochen geht, wenn man sich mal etwas verschlafen die Augen reibt, oder wenn die Augen einem mal zufallen, wenn ein Kollege zu länglichen Ausführungen anhebt. Ich glaube, das ist alles sehr verständlich. Und man darf ja nicht vergessen: die meisten Dinge bei solchen Gipfeltreffen finden hinter verschlossenen Türen statt, dann ist das auch schon in Ordnung.
Kitzler: Wie haben Sie das denn erlebt? Kommen, wenn alle so erschöpft sind, wenn alle am Limit sind, überhaupt noch vernünftige Entscheidungen zu Stande? Wie funktioniert das?
Steg: Ich kann mich an einen Gipfel erinnern, der war im März 1999 in Berlin, der war auch spannend über drei Tage, da ging es um den Kriegseinsatz auf dem Balkan und da ging es auch um die finanzielle Planung in der Europäischen Union, und da sind morgens um fünf noch die Verhandlungen abgeschlossen worden, und da hat, glaube ich, mancher dieser Strategen wirklich darauf gesetzt, dass er für sein Land, wenn es um europäische Gelder geht, mehr rausholen kann, wenn er sozusagen früh morgens, wenn die anderen schon leicht am wegschlummern sind, noch eine Forderung stellt und sagt, ich will noch ein paar Millionen mehr haben. Ob das immer klug ist, die Nächte durchzuverhandeln? Es gehört zum europäischen Ritual. Aber ob die Politik dadurch besser wird? Ich habe meine Zweifel.
Kitzler: Von Helmut Kohl gibt es ja dieses Gerücht, er habe sich oft einfach nur deshalb durchgesetzt, weil er das meiste Sitzfleisch hatte, weil er am längsten durchhalten konnte. Kann das auch ein taktisches Mittel sein, auch für Frau Merkel vielleicht?
Steg: Na ja, bestimmte Sachen müssen sich auch entwickeln und man muss darauf eingestellt sein. Wenn man sich zurückerinnert an die großen historischen Entscheidungen, an die, wenn man so will, Gabelungen der europäischen Politik, dann waren das immer Gipfel, die über mehrere Tage gedauert haben, und immer nächtliche Entscheidungen. Das geht dann nicht anders. Und da muss man dann schon motiviert hingehen, ausgeruht hingehen, konzentriert hingehen, und ich glaube, die deutschen Kanzler haben da immer sehr viele Fähigkeiten besessen.
Kitzler: Kann sich Angela Merkel jetzt nach diesem Gipfel-Marathon eigentlich mal kurz zurückziehen und sich mal richtig ausschlafen, oder ist das gar nicht drin in dieser Zeit?
Steg: Was heißt richtig ausschlafen? Man wird schon und sie wird auch schon zusehen, glaube ich, nach so einer extremen Anstrengung, dass man das einmal aufarbeitet und überlegt, ist jetzt alles bedacht. Es ist nur so, dass die Politik sehr kurzlebig ist, kurztaktig ist und sehr schnell ja ein neues Problem auftritt, ein neues Thema und sie unverändert gefordert ist. Also wenn ein Wochenende jetzt nach so einer Gipfelnacht ein bisschen ruhiger vergeht, dass man vielleicht mal einen Spaziergang machen kann und eine Stunde länger schlafen kann, in Ruhe frühstücken kann, dann hat man das Gefühl, das ist schon fast ein Königreich.
Kitzler: Die Belastungen der Politiker angesichts der Krisendiplomatie, der Krisengipfel. Darüber sprach ich mit dem Politikberater Thomas Steg. Er war sieben Jahre lang auch stellvertretender Sprecher der Bundesregierung. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Steg: Bitte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.