Wenn eine Familie zerrissen wird

Der älteste Sohn wurde auf offener Straße ermordet.
Der älteste Sohn wurde auf offener Straße ermordet. © Stock.XCHNG / Nate Nolting
15.06.2010
Seitdem der älteste Sohn vor vier Jahren ermordet wurde, hängen die übrig gebliebenen Familienmitglieder in ihren Erinnerungsschleifen fest. Doch nun soll sich etwas ändern: Die Mutter konfrontiert den Mörder mit der Tat.
Vier Jahre ist es her, dass Jakob, der älteste Sohn der Familie Wilber, auf offener Straße ermordet wurde. Die schlimmste Zeit ist überstanden, doch noch immer wirkt die Katastrophe nach. Jeder der drei übrig gebliebenen Familienmitglieder hängt in seiner eigenen Erinnerungsschleife fest und hat den Kompass seines Lebens auf den Verlust ausgerichtet.

Doch etwas tut sich in den wenigen Tagen Ende August, von denen der Roman erzählt, während er das vergangene Geschehen in Rückblenden vergegenwärtigt.

Lothar, der Vater, war Pilot. Nach dem zufällig mit angehörten Satz eines Kollegen – "Ich an seiner Stelle würde den Mann umbringen" - begann er zu trinken. Mittlerweile ist er wieder trocken und nun im Begriff, eine eigene Segelflugschule zu eröffnen, auch um mit dem geliebten Erstgeborenen in Verbindung zu bleiben. Der war ein Draufgänger und teilte seine Leidenschaft fürs Fliegen.

Ruth, die Mutter, hat den Stewardessenberuf aufgegeben und arbeitet als Seelsorgerin bei einer Stiftung. Manchmal ist sie all die Zipperlein leid, die andere für ernsthafte Probleme halten.

Der zurückhaltende Merten weiß als einziger, dass sein Bruder in dunkle Geschäfte verwickelt war. Nach dem Abitur hat er so schnell wie möglich sein Elternhaus in einem Frankfurter Vorort verlassen und bewohnt eine kleine Mansarde in der Nähe der Alten Oper. Er jobbt in einem Café und möchte Fotograf werden. Und er versucht Miriam, seiner neuen Freundin, die Geschichte mit dem Mord zu verschweigen. Er hat es einfach satt, immer nur der kleine Bruder desjenigen zu sein, "dessen blutüberströmter Körper in allen Zeitungen zu sehen gewesen war."

Ruth verfolgt seit längerer Zeit eine absurd erscheinende Idee, die sie Lothar und Merten bei einem eigens dafür einberufenen Familientreffen mitteilen möchte: Sie will den Mörder ihres Sohnes, den sie bisher nie gesehen hat, im Gefängnis besuchen und mit seiner Tat konfrontieren. Das Schreckgespenst ihrer nächtlichen Alpträume soll endlich ein Gesicht bekommen.

"Sie haben meine Familie zerfetzt", wird sie ihm später, in einer der stärksten Szenen des Romans, sagen und ihm erklären, dass er ein Teil der Familie ist, die er zerstört hat. Die Offenlegung ihres Vorhabens aber geht schief. Vater und Sohn geraten vor den Augen der ahnungslosen Miriam in Streit, und sie bleibt mit ihrem Vorsatz allein.

Andreas Schäfer erzählt von einer Familie, die das Schlimmste überstanden hat, das man überstehen kann. Aber er will noch mehr. Er will dieser Familie die Normalität zurückgeben, auch wenn er weiß, wie unangemessen sich das anhört.

Es ist vor allem die fein austarierte und zugleich äußerst angespannte Sprache, die diesen virtuos mit Metaphern des Segelflugs spielenden Roman sicher durch die Turbulenzen seines Vorhabens trägt.

Auch wenn es manchmal ein wenig befremdlich wirkt, wie weit der Tod des Sohnes in den Hintergrund rückt, beeindruckt die klug gezügelte Energie, mit der Andreas Schäfer aufs Leben setzt, ohne es ständig zu thematisieren.

Am Ende des Romans ziehen Ruth und Lothar in ein neues Haus. Es sieht ganz nach einer Idylle aus, wenn er im Garten werkelt und sie mit der "gleichen Mischung aus Siegesgewissheit und Geduld" anlächelt, in die sie sich vor fast 30 Jahren verliebt hat.

Besprochen von Meike Feßmann

Andreas Schäfer: Wir vier
DuMont Buchverlag, Köln 2010
188 Seiten, 18,95 Euro