Wenn Landschaften erzählen

Von Uschi Götz |
Er macht sich so seine Gedanken über den Menschen, die Landschaft, die Geschichten. Und er schreibt sie auf - in der Nacht, wenn er keinen Schlaf findet. <papaya:link href="http://www.ev-kirche-langenargen.de/Tagebuch-eines-Landpfarrers.tel.0.html" text="Landpfarrer Fentzloffs Nacht-Tagebücher" title="Landpfarrer Fentzloffs Nacht-Tagebücher" target="_blank" /> sind im Internet nachlesbar. Und sie hinterlassen Wirkung, wie die Reaktionen der Leser darauf belegen.
"Die Begriffe sind Konsonanten und der See ist der Vokal"

"Entschuldigung …"

Fentzloff: "Nur noch einmal zum Verständnis: Sie stellen dann ja dann konkrete Fragen … Wir wählen für eine Landschaft beispielhaft Menschen …"

"Die Berge sind die Konsonanten und der See ist Vokal …"

"Ich glaube wirklich, dass dem Wasser eine ganz besondere Kraft zukommt. Das Wasser entspricht für mich dem Auge der Menschen; der See, der Bodensee ist für mich so etwas wie das Auge der Natur. Das Auge selber ist ja immer wässrig, wenn es nicht krank ist. Und auch der Bodensee hat so die Form eines großen Auges. Von daher habe ich immer das Gefühl, dass besonders das Wasser die Form ist, wo nicht wir die Betrachtenden sind, sondern wo wir betrachtet werden."

"Und das ist, was ich beim strömenden, fließenden Wasser ganz stark empfinde. Dass im Wasser die Natur uns betrachtet. Mich als Spaziergänger… dass ich da viel mehr Objekt bin als Subjekt."

"Die mir die Nacht schenkt"

Fentzloff: "Ich schlafe keine einzige Nacht durch in meinem Leben. Ich wache immer, jede Nacht, seit über 40 Jahren, mindestens 40 Jahren. So wie der Bodensee und die Alpen zusammengehören, gehören für mich Tag und Nacht zusammen. Und ich kann in der Nacht, besonders auch am Abend dieses in der sehr frühen Hölderlinschen Dichtung so sehr ausgeprägte Gefühl des Friedfertigen, wie sich das auf die Menschen herabsenkt abends sehr sehr stark nachempfinden, auch als …leiser werden, der Vogelstimmen, leiser werden der Geräusche. Das erleben wir hier im Dorf doch noch sehr intensiv im Unterschied zur Stadt."

"Ich habe keine Angst davor aufzuwachen und nicht schlafen zu können. Ich habe das so angenommen als eine besondere Berufung und freue mich auch tief an diesen festlichen Stunden, die mir die Nacht schenkt."

"Da entsteht das meiste literarische, denkerische meines Wesens. Da entsteht das eigentliche, da wird alles geboren."

"Gewitterschwarz die Alpen, dort die toten Götter ruhen auf steinerner Bettstatt."

"Es war schon eine kindliche Inspiration, die mich sehr tief geprägt hat und habe dann später Aristoteles gelesen und dann verstanden, dass Aristoteles genauso denkt, dass eine Landschaft, so wie sie einem erscheint, wie sie einem vor Augen tritt, dass die immer von einer schöpferischen Kraft gebildet wurde, wie von einem Bildhauer, oder das große Hamannsche Bild, das ich dann später in meinem Denken sehr beherbergt habe, dass die Landschaft einer Dichtung Gottes entspricht. Dass alles, was aufscheint, die Formationen, Wälder, Seen, Gebirge, dass das alles einer großen, poetischen Entfaltung entspricht, die aus einer göttlichen Kraft heraus kommt."

Fentzloff: "Sonntag, 27. Januar 2013: Von Morgenrottauben durchflattert die frühe Stunde. Wie sehr freuen und Kastanie sich auf die Feier um den Altar! Der Eindruck alles warte auf den Schneefall gottesdienstlichen Geläuts. Der schwere Tierleib der Dörfer möchte hochstemmen sich, in winterliche Wiesen, die aufgebreiteten Arme des Herrn, hineinstürmen. Wir müssen verstehen, dass die ganze Kreatur sich sehnt nach Gottes Wort, nach den Gaben von Wasser, Brot und Wein; dass der Holundergreis in seinem dünnen Mäntelchen sich der sonntäglichen Stunde entgegenfriert wie auch der einzige Grashalm auf der asphaltierten Erde des Schulhofs, genauso wie die Erinnerung an einen Falter, der einen Monat lang über den Rissen einer Betonfassade getaumelt. In allen Dingen weben Sehnsucht und Gesicht. Inmitten der unermesslichen Fülle des Frosts blühen Weihrauch heißen Tees und Gedanken, einer festtäglichen Deutung abgerungen nietzscheanischer Sätze über der nackten Tischplatte. "Ehrgeiz ist der Tod des Denkens" (Wittgenstein)."

"Sind ja auch komisch die Geräusche der modernen Welt ….bin nicht so begeistert. Was ich machen kann, ich kann es ausstecken. Jetzt ist wenigstens das aus. Nein?! Wieso ist das nicht aus. Komisch. Jetzt ist es tot."

Fentzloff, Tagebuch : "Über Orte, Städte und Dörfer handelnd im deutschen Südwesten: der Eindruck oft, es ermangele diesen an Poesie. Es sei alles vorhanden und die Häuser glühten geradezu - so hoch das Fieber des Besitztums. Indes ganze Straßenzüge, Kirchen , Museen, Kanzleien, Herbergen, Kaufhäuser - seelenlos. Allein der aufgelassene Hof einer im Zerfall begriffenen Fabrik atmet Poesie; Poesie der mit Brettern vernagelten Fenster; Poesie der Container voller Schutt; die bunt angepinselten Türen einer Pizzeria der Armen; Poesie vorstädtischen Schnees, welcher sich auf die Wunden gelegt des Asphalts. Verzweiflung über verloren gegangene Arbeitsplätze. Zerbrochenes Lenkrad eines Lastwagens, der vermeintlich viele Winter Sibiriens durchlitten. Landschaften, an denen man vorüberfährt, die man links liegen lässt, die einem kleinen kalten Mond gehören, sind wie aufgehaltene Hände eines Bettlers. Ach, Krug der Poesie, Krug tiefen (erschütterten) Glaubens. "Man war darüber einig, daß die wirklichen Erscheinungen im Leben oft viel wunderbarer sich gestalteten, als alles, was die regste Fantasie zu erfinden trachte." (E.T.A. Hoffmann)"

"Komisch die Geräusche der modernen Welt"

Fentzloff: "Die Berge sind für mich eine große, graue Mauer, etwas Fremdes, ein Thron, der über mir steht und wenn meine Seele irgendwie eine Schulung hat, demütig zu sein ohne unterwürfig zu sein, ich bin ja ein anarchistischer Mensch, aber so gegenüber den Mächten, die wir sowieso nicht beeinflussen können, dann empfinde ich es den Alpen gegenüber. Das Kennenlernen der Alpen als wir vor 21 Jahren hierher gezogen sind, war eines der großen Ereignisse meines Lebens."

"Also ich habe keine Sehnsucht Gipfel zu erklimmen. Ich gehe lieber über Flächen, hohe Flächen und gehe auch viel lieber am Fuße der Berge."

"Ich spüre schon ein nordischer Mensch zu sein. Dass ich diesseits der Alpen geboren worden bin…. sehr grüblerisch, schwermütig, langsam, wandernd zu sein. Die Italiener wandern nicht so gerne. Und wir Nordeuropäer, ich sage jetzt mal nicht Mitteleuropäer, sondern Süd- und Nordeuropa… die zwei großen Kontinente Europas…, wir sind Wanderer, wir Nordeuropäer, wir wandern. Wir sind von dieser Unruhe ergriffen."

"Ich bin ein leidenschaftlicher Wanderer. Aber viel mehr geprägt hat mich der Blick, hier vom deutschen Ufer aus zu dieser großen, grauen Mauer, wo ich meiner Endlichkeit und Sterblichkeit mir so sehr bewusst geworden bin und auch gespürt habe, dass wir einfach auf geistig höhere Kräfte verwiesen sind, dass wir aus uns selber heraus nicht leben können, dass Leben etwas ist, wofür wir keine Sprache haben. Das kommt mir beim Anblick der Berge. Also ganz anders als beim See. Der auch wenn er aufgepeitscht ist, mir immer das Gefühl gibt, da wacht jemand über mich. Da schenkt mir jemand seine wunderbare Palette seiner Grautöne. Ich liebe grau, das ist meine Lieblingsfarbe. Das lernt man am See."

"Auf der anderen Seite der Alpen ist viel mehr so ein Sitzen, Ruhen, ist nicht diese Unruhe. Da drüben ist der Reim, diese italienische Sprache mit der man ganz leicht den Reim machen kann, allein durch die Zeit, durch die Endungen der Verben. Das Deutsche ist keine Reimsprache. Im Deutschen ist der Reim oft sehr gewollt. Und die Klopstock, Hölderlinsche Anknüpfung an dieses Pindarsche Versmaß, das antike Pindarsche Versmaß, hat den eigentlichen Charakter der deutschen Seele, der württembergischen, schwäbischen Seele offenbart. Wir sind mehr experimenteller und mehr im Rhythmus als im Reim. Wir sind mehr pulsierend und die vom Reim geprägten Sprachen, die sind mehr ruhig, sitzen, feiern, genießen und wir sind Wanderer: experimentelle Geister, unruhig, wir brechen auf wir bauen, wir reißen ein … Württemberg ist kein Reim, sondern Württemberg ist Rhythmus."

"Wir sind Wanderer"

Fentzloff, Tagebuch: "Ich schwimme lange zwischen den Felsvorsprüngen der Nacht einer spirituellen Schweiz entgegen. Das Wasser ist von nächtlichem Blau, es ist warm und die Wellen haben nach den Stürmen des frühen Abends sich beruhigt. So gerne würde ich die ganze Nacht hindurch meinen Gedanken nachschwimmen, die längst im Schweizer Gebirge sich verloren. Oft verlassen meine Gedanken mich, oft gehen sie weg von mir wie ein schmutziges Hemd, das nicht bei mir bleiben darf. Oft fliehen sie aus meiner Gegenwart wie schwarze Hunde. Wie aber leben ohne Nachdenken? Dann ziehe ich neue Gedanken heran, hege und pflege sie, wässere sie. Während Wüstensonnen ihre Hitze auf die Heranwachsenden werfen. Und wieder werden sie mich verlassen, meine Gedanken, werden in die Fremde ziehen, sich anderen Seelen und Köpfen anvertrauen, das ist das Schönste des Nachdenkens, dass Gedanken niemanden gehören. Dass sie weggehen unabhängig von uns leben in die geistige Substanz des Kosmos sich hineinverwandeln."

"Ja, das ist ein altes Pfarrhaus von 1890, ein Jugendstilhaus, direkt neben der Kirche, einer kleinen Jugendstilkirche, umstanden von den besten Freunden meines Lebens , den alten Bäumen, meine Wächter, die um mich her stehen. Das sind meine Engel, diese Linden und Eichen und Eiben und Ulmen, die um das Pfarrhaus herum stehen. Uralt … groß, gebeugt und so weise und die so viel gesehen haben an Schicksalen, Tränen, Glück, Hochzeitspaare, Särge … alles gesehen …"

"Die ganze Materie als solches hat ohne jeden Zweifel, die Gabe Ereignisse fotografisch zu registrieren und zu archivieren. Auch menschliches Denken und Empfinden. Man spürt, dass hier Hölderlin gegangen ist, das spürt man, man spürt, dass Robert Walser auf der anderen Seite des Sees gegangen ist, das spürt man. Die Erde weiß das und die Erde erzählt davon. Und man spürt, dass hier Kindergräber sind. Alles. Dieses große Leid der Menschen, viele Tote, die ich bestattet habe, viele viele. Man spürt das und die Erde weiß das. Die weiß, wie die jungen Paare, wenn sie nachts unter der Linde sitzen und sich zum ersten Mal im Leben küssen, das weiß die Erde alles: das ganze Glück und das ganze Leid."

"Das ist so das Gefühl"

"Obwohl ich in diesem alte Haus sitze und die Welt betrachte, habe ich das Gefühl in einem Zelt zu leben und ausgesetzt zu sein, Nomade zu sein. Mein Geist ist nomadisch, ist nicht an eine bestimmte Örtlichkeit gebunden. Ich habe immer das Gefühl im ganzen Kosmos unterwegs zu sein. Von daher reise ich auch relativ wenig, weil für mich ein Schritt auf der Dachterrasse so wie eine Reise nach Singapur ist."
"Ich habe sogar das Gefühl, dass ich hier am Rande von Deutschland, am See unter der Mauer der Alpen, am Fuß der Argen, dass ich da zentraler lebe, als wenn ich in New York bin oder in Berlin oder in Stuttgart. Das ist so das Gefühl, dass die Zeit, die Epoche, die Art und Weise der Rhythmen, die diese Epoche prägt, die Art und Weise, wie das Blut wallt, dass sich das hier , wo die Länder zusammentreffen: Österreich, Deutschland, Schweiz, Frankreich, dass ich das viel viel intensiver empfinde. Das ist keine Wertung, sondern das ist ein Gefühl, das mich immer wieder beschleicht. Ich komme von Berlin und empfinde Berlin viel tiefer als Provinz als wie hier. Was eigentlich lächerlich ist, ja. Aber ich habe wirklich das Gefühl, da wo die Länder sich berühren, dass da die Geschichten … Konstanz… das Konstanzer Konzil, dann die Schweiz, die Habsburger, dass das hier ganz stark wie kontinentale Platten aufeinanderprallt. Und wenn man von der Erde auch diese seismischen Kräfte spürt, weiß man, dass man hier tatsächlich auf einem Stückchen Erde steht, wo man so im Zentrum des 21. Jahrhunderts ist."

Fentzloff, Tagebuch: "Montag 5. September 2010. Das Säntismassiv steht grau verwaschen in der Abendflucht, riesige Fähre, die die Toten in das Italien Goethes brächte. Auch haben wir aufgehört vor den Toten Stille zu sein, ihrem Schreiten nachzulauschen. Außer Stande, die Nähe, der Tod zu spüren, haben wir die Hütten der Trauer bezogen, wohnen wir ausschließlich nur noch in der Trauer. In vielerlei Hinsicht ließe sich behaupten, die Kunst dieser Tage sei kein Gespräch mehr mit den Toten. Wann, hat dieses unser Elend begonnen, dass wir vor dem Tod stehen, wie vor Tierkäfigen wie im Zoo? Ein uns fremdes nur noch angaffen? Ein gefährliches, wildes –dem gegenüber zu treten, die Begegnung zu suchen als Unmöglichkeit sich erwiesen?"

"Das kann ich nicht erklären … der Tod ist für mich ein großes Gebirge. Kein Meer, sondern ein Gebirge. Und der Tod ist für mich, wie ich schon immer gesagt habe, die Schweiz. (lacht) Natürlich nicht die reale, aber die imaginäre, das heißt, eine außerordentlich demokratische, republikanische, das Fremde duldende, das Versöhnende… der Tod ist für mich eine revolutionäre, radikale, anarchistische… Landschaft, die irgendwo mit Gebirge zu tun hat und es ist mild. Es ist das, was auf der anderen Seite der Alpen weht, das Leise, das Sanfte, allversöhnender Wind."