Wenn Liebessehnsucht zum Wahn auswächst
In einer Neuausgabe erscheint "Turgenjews Schatten" des irischen Autors William Trevor auf Deutsch. Im Buch geht es um eine irische Bauerntochter und ihre Sehnsucht nach der Liebe.
Am Ende des Romans trifft Mary Louise Dallon einen Pfarrer, dem sie ihre Geschichte erzählt. Mary ist ein freundliche Frau und bestimmt nicht verbittert, obwohl sie allen Grund dazu hätte. Der dann folgende Satz, mit dem William Trevor die Reaktion des Pfarrers beschreibt, ist typisch für ihn und seine ruhige, einfühlungsstarke Prosa. "Wenn er über das Leben dieser Frau nachdachte, könnte er eher seinen Glauben verlieren als durch alle seine leerstehenden Kirchen."
Trevor, geboren 1928, braucht keine schrillen Töne, keine äußeren Katastrophen, um den katastrophalen Verlauf eines Lebens sichtbar zu machen. 23 Romane und elf Erzählungsbände hat er bisher veröffentlicht und sich dabei nicht nur als getreuer Chronist der irischen Gesellschaft erwiesen, sondern stets auch als ein warmherziger Autor, der am Schicksal seiner Figuren Anteil nimmt.
Marys entscheidender Fehler war ihre Heirat. Sie war Anfang 20, eine naive Bauerntochter aus der irischen Provinz, als sie im Jahr 1956 einen deutlich älteren und unattraktiven Textilhändler Elmer Quarry aus der nahen Kleinstadt heiratete. Einfach deshalb, weil es eben so üblich war, weil ihre Familie arm und seine wohlhabend und weil die Auswahl innerhalb der protestantischen Minderheit recht begrenzt gewesen war.
Schon die Hochzeitsnacht ist in ihrer Mischung aus Peinlichkeit, Scham und Fremdheit entsetzlich, und es kommt weder hier noch in den folgenden Jahren je zu Berührungen oder anderen Formen von Nähe zwischen den beiden. Doch sie arrangieren sich mit ihrer Lage; Elmer ist durchaus verständnisvoll, ja fast fürsorglich. Während Mary sich immer weiter zurückzieht, beginnt er zu trinken, und wenn da nicht seine beiden unerträglichen, verlogenen und hetzenden Schwestern bei ihnen lebten, wäre vielleicht alles einigermaßen gut gegangen.
Doch so trifft Mary eines Tages ihren kränkelnden Vetter Robert, der sie von Kindheit an liebte und den nun auch sie immer schon geliebt zu haben glaubt. Sie küssen sich, er liest ihr Turgenjew vor, sie verbringen Nachmittage auf einem alten Friedhof. Dann stirbt er, und sie richtet sich endgültig in den Erinnerungen an diese Begegnung ein, zieht sich in ihre Dachkammer zurück, umgibt sich mit seinen Hinterlassenschaften und wird immer seltsamer, schweigsamer und unerreichbar.
Eine zweite Handlungsebene spielt mehr als 30 Jahre später. All diese Jahre hat Mary in einer psychiatrischen Anstalt verbracht, einem Frauenhaus, das nun aufgelöst werden soll. Sie wird von ihrem Mann abgeholt und zurückgebracht in das Haus, wo immer noch die schrecklichen Schwestern leben. Vielleicht ist diese Rückkehr das Schlimmste, was in diesem Roman geschieht, aber darüber spricht Trevor nicht. Man kann es sich denken. Seine Kunst der Andeutung besteht, das innere Erleben sichtbar zu machen, indem er kleinste Regungen beobachtet. Er interpretiert nicht, er sieht nur hin. Ein abwesender Blick, ein Zittern der Finger, mehr braucht er nicht, um Spannungen sichtbar zu machen.
"Turgenjews Schatten" ist eine Studie über durchaus nicht unübliche Eheverhältnisse und darüber, wie sich in der Verlorenheit eines Lebens die Liebessehnsucht einnistet und zum Wahn auswächst. Ganz nebenbei zeigt Trevor aber auch, wie sich die irische Gesellschaft zwischen den späten 50ern und den späten 80er-Jahren verändert hat, wenn er Mary nach so langer Zeit in eine ihr fremd gewordene Stadt zurückkehren lässt. Die Protestanten sitzen da nicht nur in leeren Kirchen, Rettung scheint es für sie überhaupt nur noch dann zu geben, wenn sie, wie Marys Schwester, einen Katholiken heiraten.
"Turgenjews Schatten" ist in Deutschland schon einmal, Anfang der 90er-Jahre, erschienen, war aber lange Zeit vergriffen. Die Aufmerksamkeit, die er verdient, hat William Trevor hierzulande noch nicht erhalten. Seine Bücher erschienen verstreut in verschiedenen Verlagen. Nun finden sie nach und nach bei Hoffmann & Campe zusammen. So wird endlich ein großes Werk sichtbar.
Besprochen von Jörg Magenau
William Trevor: Turgenjews Schatten
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel
Hoffmann & Campe, Hamburg 2011
284 Seiten, 19,99 Euro
Mehr Rezensionen von William Trevor auf dradio.de
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Marys entscheidender Fehler war ihre Heirat. Sie war Anfang 20, eine naive Bauerntochter aus der irischen Provinz, als sie im Jahr 1956 einen deutlich älteren und unattraktiven Textilhändler Elmer Quarry aus der nahen Kleinstadt heiratete. Einfach deshalb, weil es eben so üblich war, weil ihre Familie arm und seine wohlhabend und weil die Auswahl innerhalb der protestantischen Minderheit recht begrenzt gewesen war.
Schon die Hochzeitsnacht ist in ihrer Mischung aus Peinlichkeit, Scham und Fremdheit entsetzlich, und es kommt weder hier noch in den folgenden Jahren je zu Berührungen oder anderen Formen von Nähe zwischen den beiden. Doch sie arrangieren sich mit ihrer Lage; Elmer ist durchaus verständnisvoll, ja fast fürsorglich. Während Mary sich immer weiter zurückzieht, beginnt er zu trinken, und wenn da nicht seine beiden unerträglichen, verlogenen und hetzenden Schwestern bei ihnen lebten, wäre vielleicht alles einigermaßen gut gegangen.
Doch so trifft Mary eines Tages ihren kränkelnden Vetter Robert, der sie von Kindheit an liebte und den nun auch sie immer schon geliebt zu haben glaubt. Sie küssen sich, er liest ihr Turgenjew vor, sie verbringen Nachmittage auf einem alten Friedhof. Dann stirbt er, und sie richtet sich endgültig in den Erinnerungen an diese Begegnung ein, zieht sich in ihre Dachkammer zurück, umgibt sich mit seinen Hinterlassenschaften und wird immer seltsamer, schweigsamer und unerreichbar.
Eine zweite Handlungsebene spielt mehr als 30 Jahre später. All diese Jahre hat Mary in einer psychiatrischen Anstalt verbracht, einem Frauenhaus, das nun aufgelöst werden soll. Sie wird von ihrem Mann abgeholt und zurückgebracht in das Haus, wo immer noch die schrecklichen Schwestern leben. Vielleicht ist diese Rückkehr das Schlimmste, was in diesem Roman geschieht, aber darüber spricht Trevor nicht. Man kann es sich denken. Seine Kunst der Andeutung besteht, das innere Erleben sichtbar zu machen, indem er kleinste Regungen beobachtet. Er interpretiert nicht, er sieht nur hin. Ein abwesender Blick, ein Zittern der Finger, mehr braucht er nicht, um Spannungen sichtbar zu machen.
"Turgenjews Schatten" ist eine Studie über durchaus nicht unübliche Eheverhältnisse und darüber, wie sich in der Verlorenheit eines Lebens die Liebessehnsucht einnistet und zum Wahn auswächst. Ganz nebenbei zeigt Trevor aber auch, wie sich die irische Gesellschaft zwischen den späten 50ern und den späten 80er-Jahren verändert hat, wenn er Mary nach so langer Zeit in eine ihr fremd gewordene Stadt zurückkehren lässt. Die Protestanten sitzen da nicht nur in leeren Kirchen, Rettung scheint es für sie überhaupt nur noch dann zu geben, wenn sie, wie Marys Schwester, einen Katholiken heiraten.
"Turgenjews Schatten" ist in Deutschland schon einmal, Anfang der 90er-Jahre, erschienen, war aber lange Zeit vergriffen. Die Aufmerksamkeit, die er verdient, hat William Trevor hierzulande noch nicht erhalten. Seine Bücher erschienen verstreut in verschiedenen Verlagen. Nun finden sie nach und nach bei Hoffmann & Campe zusammen. So wird endlich ein großes Werk sichtbar.
Besprochen von Jörg Magenau
William Trevor: Turgenjews Schatten
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel
Hoffmann & Campe, Hamburg 2011
284 Seiten, 19,99 Euro
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