Wenn Literatur nur auf Literatur verweist
Dreimal dieselbe Begebenheit - eine Zugfahrt von Budapest nach Wien - von drei Autoren zu unterschiedlichen Zeiten erzählt. Den Anfang macht Imre Kertész, Peter Esterházy nimmt den Faden auf, baut Sätze von Kertész ein und Ingo Schulze nimmt die Reise nur zum Anlass, um auf die anderen beiden zu verweisen. Poststrukturalismus auf die unterhaltsame Art.
Wenn das Wort nicht so schrecklich wäre, müsste es hier auf der Hand liegen: Es geht in diesem schmalen Bändchen um einen klassischen Fall von "Intertextualität". Das ist ein akademischer Begriff, der im Zuge der poststrukturalistischen Modewellen aufkam und das Augenmerk auf ein besonderes Phänomen in der Literaturgeschichte lenken wollte. Jeder literarische Text bezieht sich danach per se auf andere, bereits geschriebene Texte, ob ausdrücklich oder versteckt.
Das ausgeklügelte Spiel mit literarischen Vorlagen war seit jeher ein beliebter schriftstellerischer Brauch, aber er hat in den letzten Jahrzehnten tatsächlich spürbar zugenommen, die Gegenwartsliteratur fühlte sich jetzt theoretisch animiert. Das Buch mit drei Geschichten von Imre Kertész, Péter Esterházy und Ingo Schulze hat nun das Zeug, zu einem Paradebeispiel für Intertextualität zu werden, zu einem unverzichtbaren Grundmaterial für Haupt- und Oberseminare zu diesem Thema.
Es fing alles mit einer Geschichte von Imre Kertész an, aus einer Zeit, als er noch nicht der international berühmte Autor des "Romans eines Schicksallosen" und an den Nobelpreis noch nicht zu denken war. "Protokoll" handelt im Jahr 1991. Es ist eine Fallstudie über den Totalitarismus, der unabhängig vom Zerfall des Ostblocks weiterwirkt, hier am Beispiel ungarischer Zöllner im Zug von Budapest nach Wien.
Kertész beschreibt in einem Kanzleiton, eben "protokollarisch", wie ihn der Zöllner wegen einer falschen Devisenangabe am Grenzbahnhof zu Österreich aussteigen lässt, seine 4000 österreichische Schilling und seinen Reisepass beschlagnahmt und ihn dann unverrichteter Dinge wieder nach Budapest zurückfahren lässt - allen literarischen Verabredungen in Wien zum Trotz.
Esterházy hingegen schreibt kurze Zeit danach, wieder geht es um eine Zugfahrt von Budapest nach Wien. Hier herrscht ein spielerischer, ironischer Ton vor, der geeignet ist, sich über alle Unwägbarkeiten hinwegzusetzen. Seine Geschichte endet ebenfalls am Grenzbahnhof: das Erlebnis von Kertész taucht in der Erinnerung auf, der Zöllner fragt auch wieder nach Devisen, aber es hat sich alles in eine gewisse Lässigkeit aufgelöst. Nur durch die direkten Übernahmen von Sätzen aus der Kertész-Erzählung wird angezeigt, dass bestimmte Sachen und Strukturen dieselben geblieben sind. Gelegentlich tauchen dieselben Bilder und Erfahrungen wie bei Kertész auf; es gibt einen Urgrund, der ungeachtet oberflächlicher Veränderungen derselbe bleibt.
Ingo Schulze nun nahm abermals den Zug von Budapest nach Wien, wie um die Erfahrungen von Esterházy wiederaufzunehmen: wie das Leben die Literatur nachahmt nämlich. Diesen Prozess genau zu verfolgen, als Selbsterfahrungsbericht, das setzt er sich als Programm. Und er ist der einzige, der auch wirklich in Wien ankommt.
Schulzes Geschichte ist die neueste, sie ist 2007 in seinem Erzählungsband "Handy" zum ersten Mal erschienen. In diesem Band ging es verstärkt um die Wirklichkeit der Literatur selbst, um das Verschwimmen der Grenzen. So hinterlässt auch Schulzes Reise von Budapest nach Wien, so selbstverständlich sie als seine Generationserfahrung zunächst scheint - es gibt vordergründig keine Grenzen mehr - auf merkwürdige Weise einen Zwischenraum zurück.
Literatur verweist auf Literatur und auf sonst nichts anderes, das ist die verkürzte Formel, auf die man dieses Experiment bringen kann. Viel zweifelhafter ist das, was zunächst als reales Erlebnis daherkommt.
Rezensiert von Helmut Böttiger
Imre Kertész, Péter Esterházy, Ingo Schulze: Eine, zwei, noch eine Geschichte/n
Berlin Verlag 2008
94 Seiten. 12 Euro
Das ausgeklügelte Spiel mit literarischen Vorlagen war seit jeher ein beliebter schriftstellerischer Brauch, aber er hat in den letzten Jahrzehnten tatsächlich spürbar zugenommen, die Gegenwartsliteratur fühlte sich jetzt theoretisch animiert. Das Buch mit drei Geschichten von Imre Kertész, Péter Esterházy und Ingo Schulze hat nun das Zeug, zu einem Paradebeispiel für Intertextualität zu werden, zu einem unverzichtbaren Grundmaterial für Haupt- und Oberseminare zu diesem Thema.
Es fing alles mit einer Geschichte von Imre Kertész an, aus einer Zeit, als er noch nicht der international berühmte Autor des "Romans eines Schicksallosen" und an den Nobelpreis noch nicht zu denken war. "Protokoll" handelt im Jahr 1991. Es ist eine Fallstudie über den Totalitarismus, der unabhängig vom Zerfall des Ostblocks weiterwirkt, hier am Beispiel ungarischer Zöllner im Zug von Budapest nach Wien.
Kertész beschreibt in einem Kanzleiton, eben "protokollarisch", wie ihn der Zöllner wegen einer falschen Devisenangabe am Grenzbahnhof zu Österreich aussteigen lässt, seine 4000 österreichische Schilling und seinen Reisepass beschlagnahmt und ihn dann unverrichteter Dinge wieder nach Budapest zurückfahren lässt - allen literarischen Verabredungen in Wien zum Trotz.
Esterházy hingegen schreibt kurze Zeit danach, wieder geht es um eine Zugfahrt von Budapest nach Wien. Hier herrscht ein spielerischer, ironischer Ton vor, der geeignet ist, sich über alle Unwägbarkeiten hinwegzusetzen. Seine Geschichte endet ebenfalls am Grenzbahnhof: das Erlebnis von Kertész taucht in der Erinnerung auf, der Zöllner fragt auch wieder nach Devisen, aber es hat sich alles in eine gewisse Lässigkeit aufgelöst. Nur durch die direkten Übernahmen von Sätzen aus der Kertész-Erzählung wird angezeigt, dass bestimmte Sachen und Strukturen dieselben geblieben sind. Gelegentlich tauchen dieselben Bilder und Erfahrungen wie bei Kertész auf; es gibt einen Urgrund, der ungeachtet oberflächlicher Veränderungen derselbe bleibt.
Ingo Schulze nun nahm abermals den Zug von Budapest nach Wien, wie um die Erfahrungen von Esterházy wiederaufzunehmen: wie das Leben die Literatur nachahmt nämlich. Diesen Prozess genau zu verfolgen, als Selbsterfahrungsbericht, das setzt er sich als Programm. Und er ist der einzige, der auch wirklich in Wien ankommt.
Schulzes Geschichte ist die neueste, sie ist 2007 in seinem Erzählungsband "Handy" zum ersten Mal erschienen. In diesem Band ging es verstärkt um die Wirklichkeit der Literatur selbst, um das Verschwimmen der Grenzen. So hinterlässt auch Schulzes Reise von Budapest nach Wien, so selbstverständlich sie als seine Generationserfahrung zunächst scheint - es gibt vordergründig keine Grenzen mehr - auf merkwürdige Weise einen Zwischenraum zurück.
Literatur verweist auf Literatur und auf sonst nichts anderes, das ist die verkürzte Formel, auf die man dieses Experiment bringen kann. Viel zweifelhafter ist das, was zunächst als reales Erlebnis daherkommt.
Rezensiert von Helmut Böttiger
Imre Kertész, Péter Esterházy, Ingo Schulze: Eine, zwei, noch eine Geschichte/n
Berlin Verlag 2008
94 Seiten. 12 Euro