Wenn Maschinen lesen

Von Peter Glaser · 30.11.2009
Die Bücher der Welt sollen digitalisiert werden. Sie müssen digitalisiert werden, denn viele sind vom Zerfall bedroht - seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Papier so hergestellt, dass sich darin Säure bildet und die Seiten zerbröseln. Man möchte meinen, dass es ein selbstverständliches Anliegen der Deutschen, Schweizer, Österreicher sein sollte, den eigenen schriftlichen Kulturreichtum zu digitalisieren.
Aber die Situation verläuft in eine andere Richtung. Mit dem umstrittenen Scan-Projekt "Google Books" steht vielmehr die Frage im Raum, ob bald ein amerikanisches Unternehmen zum Sachwalter der deutschsprachigen Bücherwelten werden könnte - eine Vorstellung von Globalisierung, die etwas durchaus Groteskes an sich hat.

Mit dem aggressiven Vorgehen des Suchmaschinenkonzerns, das in vielen Ländern heftige Debatten ausgelöst hat, ist auch ein unangemessener Zeitdruck aufgekommen. Etwa acht Millionen Bücher hat Google inzwischen - in vielen Fällen unter Missachtung der Urheberrechte – einscannen lassen, darunter 100.000 deutschsprachige Werke. Mit jeder weiteren LKW-Ladung an Büchern, die zu den abgeschirmten Scan-Fabriken transportiert wird, scheint sich der Eindruck zu festigen, dass der Vorsprung von Google kaum noch einzuholen sei.

Es gibt andere Digitalisierungsprojekte, wie etwa das 1971 von Michael Hart an der Universität von Illinois gestartete "Project Gutenberg”, die viel langsamer vorankommen, unter anderem, weil man sich dort die Mühe macht, für jedes Buch erst die Rechte zu klären; auch werden die eingelesenen Texte Korrektur gelesen und mit Verweisen versehen. Bei "Google Books" geht es vor allem um Quantität. Google ist daran interessiert, mit den Massen an hochwertigen Inhalten seinen Index aufzuwerten und damit noch mehr Besucher auf seine Suchseiten mit den profitablen Kleinanzeigen zu locken.

Google habe sein Digitalisierungsprogramm mit so viel Geld ausgestattet, dass nichts und niemand damit konkurrieren könne, ist nun öfters zu lesen. Aber es kann ja wohl nicht sein, dass man nur genügend Geld aufzuwenden braucht, um sich eine Rechtslage nach den eigenen Vorstellungen kaufen zu können. Was also kann man tun, um europäische Regierungen dazu zu bringen, nicht nur Banken zu retten, sondern auch Bücher?

Einiges ist bereits getan. Anders als die immer wieder fehlerhaften Massen-Scans von "Google Books" zeigt beispielsweise das Projekt "Turning the Pages”, das die British Library seit 1997 betreibt, nicht nur sorgfältig eingescannte, kostbare Bücher. Sie sind auch erschlossen, mit weiterführenden Informationen, Detailvergrößerungen oder Tonbeispielen versehen. Diese Bücher sind nicht einfach 1:1 ins Digitale übertragen worden, sondern sie haben eine neue Qualität hinzugewonnen.

Eine noch ambitioniertere Geistes-Großbaustelle ist die "Europeana”. Sie ist aus einem 2007 begonnenen "Netzwerk Europäische Digitale Bibliothek” hervorgegangen und seit einem Jahr online. Wünschenswert wäre, wenn das Vorpreschen von Google in Europa zum Anlass genommen würde, nicht nur mit Geld und Großprojektierung, sondern auch mit Leidenschaft und Stolz zu antworten, dass es kaum eine lohnendere Anstrengung gibt, als diese über viele Generationen versammelten Bestände in die Zukunft zu führen.

Die Europeana ist derzeit noch sehr auf visuelles Material wie Filme, Bilder oder Karten ausgerichtet, aber es ist geplant, die Zahl der digitalisierten Werke schon im Lauf der nächsten Monate von zwei auf sechs Millionen zu steigern. Etwa 120 Millionen Euro aus EU-Programmen sollen in einem ersten Schritt für die Digitalisierung von Bibliotheken aufgewendet werden. Für die vielen vergriffenen Bücher, deren Urheber nicht mehr aufzufinden sind, hat Google in den USA die Einrichtung einer Schiedsstelle vorgeschlagen.

Damit ist man in Europa bereits weiter: Ein Gemeinschaftsprojekt von 27 europäischen Institutionen wird sich ab Anfang nächsten Jahres um die grenzüberschreitende Klärung von Urheberrechten kümmern, um die Digitalisierung des europäischen Schriftkulturerbes zu vereinfachen.


Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren. Lebt als Schreibprogramm in Berlin. Glaser ist Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Bachmann-Preisträger und begleitet seit drei Jahrzehnten die Entwicklung der digitalen Welt. Blog "Glaserei": http://stuttgarter-zeitung.de/glaserei
Peter Glaser, Schriftsteller
Peter Glaser, Schriftsteller© privat