Wenn Medwedew träumt
Hochgeschwindigkeitszüge, neue Olympiapisten und ein Forschungszentrum am Stadtrand von Moskau: Russland investiert bei ausgewählten Projekten in neueste Technologien. Doch die Bevölkerung bleibt dabei auf der Strecke.
Dmitrij Medwedew ist begeistert. Fast einen ganzen Tag verbringt er im Sommer letzten Jahres im kalifornischen Silicon Valley. Er besichtigt Hochtechnologiefirmen, darf die neueste Version des iPhones in den Händen halten, bevor die auf den Markt kommt, und er bekommt sogar einen Schnell-Kurs im Twittern. Russlands Präsident ist verrückt nach Technik. Vier Monate später, im Oktober, erzählt er Studenten der Moskauer "School of Business", einer Kaderschmiede für künftige Nachwuchskräfte:
"Ich will keinen Hehl daraus machen: Ich war beeindruckt vom Besuch in Silicon Valley, und zwar nicht nur von der Dichte hoch notierter Hightech-Unternehmen und ihren Leistungen; ich persönlich denke vor allem an die Atmosphäre dort. Sie ist besonders: Sie ist kreativ und zugleich ruhig. Man fühlt sich dort wie zuhause. Das ist ideal für diese Art von Unternehmen."
Und so eine Atmosphäre möchte Medwedew nun auch in Russland schaffen. "Skolkovo" heißt das Zauberwort: Die Innovationsstadt soll direkt vor den Toren Moskaus entstehen, mit Forschungsinstituten, Luxusunterkünften und Freizeitanlagen für 15.000 Menschen. Noch in diesem Jahr soll der Bau beginnen.
"Für uns ist das eine völlig neue Idee. Sie steckt natürlich noch in den Kinderschuhen. Sie hat heiße Anhänger und sehr aktive Gegner. Oft höre ich: Ihr wollt doch nur ein Vorzeigeobjekt schaffen. Aber das ist nicht so. Wir wollen ein Beispiel dafür schaffen, wie man arbeiten kann und muss und zeigen, welche Bedingungen dafür nötig sind. Diese Erfahrung werden wir dann an das ganze Land weitergeben und dabei das riesige wissenschaftliche Potenzial unseres Landes nutzen."
Bisher verschenkt Russland sein Potenzial. Seine Eliten wandern ab, nach Westeuropa, in die USA. Mit Skolkowo soll sich das ändern. Die Regierung hat eine Menge Geld für das Projekt am Moskauer Stadtrand bereitgestellt: Umgerechnet 1,5 Milliarden Euro. Unternehmen, die sich in Skolkovo ansiedeln, sollen Steuererleichterungen bekommen. Internationale Konzerne haben bereits Interesse signalisiert, darunter auch Siemens.
Alexander Laptev ist einer der Planer. Er sitzt in Moskau im 13. Stock des Internationalen Handelszentrums und klickt sich durch eine Power Point Präsentation. Laptev spricht von Ökologie und Energieeffizienz und immer wieder von Innovationen.
"Das wird ein neuer Typ von Siedlung, den es bisher in Russland nicht gegeben hat. Die Lebensbedingungen werden hier nicht schlechter sein als in Kalifornien. Natürlich zaubern wir kein Meer hier her, und mit dem Wetter haben wir auch kein Glück, aber mit hervorragendem Service können wir das aufwiegen."
Soweit die Träume für die Zukunft. Die Gegenwart sieht nüchterner aus.
Mit voller Kraft stemmt sich Larisa gegen die Kurbel, um den Eimer in die Höhe zu ziehen. Der Boden ist vereist. Sie holt Wasser. Larisa muss aufpassen, damit sie nicht ausrutscht.
"Wir haben uns daran gewöhnt, wir holen das Wasser immer von hier. Immerhin haben wir Anfang des Jahres eine neue Abdeckung für den Brunnen bekommen."
Larisa lebt nicht in irgendeinem vergessenen Kaff in den Weiten Russlands, sondern im heutigen Dorf Skolkovo, eben dort, wo in wenigen Jahren Wissenschaftler aus aller Welt in "häuslicher und kreativer Atmosphäre" wohnen und arbeiten sollen. Die Straßen sind unbefestigt, viele Häuser aus Holz, in den Gärten stehen Plumpsklos. Dazwischen Bungalows und Villen der Neureichen. Nur wenige Kilometer entfernt sind die Hochhaussiedlungen der Moskauer Außenbezirke zu sehen.
Larisa wohnt in einem Achtfamilienhaus. Das Gebäude gehörte einst zu einer Sowchose, einem landwirtschaftlichen Kollektivbetrieb. Den gibt es schon lang nicht mehr. Larisa ist arbeitslos, ihr Mann arbeitet bei einer Wachschutzfirma in Moskau. Von den Plänen Medwedews, auf den Feldern am Dorfrand ein neues Silicon Valley zu bauen, hat sie kaum etwas gehört. Aber Larisa hat Angst davor.
"Die Leute hier vertrauen niemandem: Putin nicht, und Medwedew auch nicht. Hier gab es so schöne Obstgärten, alte Apfel- und Birnbäume. Jetzt stehen dort die Häuser der Neureichen. Alles wurde zugebaut. Uns braucht doch niemand."
Der Fall Skolkovo ist typisch für Russlands Modernisierung im Hauruckverfahren. In vielen Gegenden scheint die Zeit in den 60er/70er-Jahren stehengeblieben zu sein. Zugleich investiert der Staat in neueste Technologien. Scheinbar nach dem Gießkannenprinzip. Höher, weiter, schneller scheint die Devise. Russland kann es sich leisten, dem hohen Ölpreis sei dank. Die Bevölkerung bleibt auf der Strecke. Und dafür gibt es viele Beispiele.
Moskau, der Leningrader Bahnhof. Auf dem Bahnsteig steht der Hochgeschwindigkeitszug nach St. Petersburg. Die russische Bahn hat ihn "Sapsan" getauft, "Wanderfalke". Er gilt als Aushängeschild des modernen Russlands.
Am ersten Wagen kontrolliert eine adrette blonde Frau mit roter Uniformmütze die Fahrkarten und zeigt den Reisenden ihre Plätze im Großraumwagen. Im Sapsan kann man Hotels buchen und Taxis bestellen. Auf den Tischen liegen Kopfhörer, und es gibt kostenlos Internet.
Der Sapsan verkehrt seit Ende 2009 zwischen St. Petersburg und Moskau, seit einiger Zeit fährt er auch nach Nischnij Novgorod an die Wolga. Er fährt 200 Stundenkilometer und schafft die Strecke zwischen Moskau und Petersburg in nicht mal vier Stunden. Die Nachtzüge brauchen doppelt so lange. Die russische Bahn hat den Zug in Deutschland gekauft. Es ist ein weiterentwickeltes Modell des ICE. Anders als in Deutschland bleibt der Sapsan auch bei Außentemperaturen von minus 30 Grad und Schnee nicht liegen. Die Luft für die Kühlung kommt in diesen Zügen nicht von unten, sondern von oben. Deshalb saugt der Sapsan sogar bei gewaltigen Schneemengen keine Feuchtigkeit an, die die Elektronik lahm legen könnte.
Die Schaffnerin, Anastasija Sysujeva, ist stolz auf den Zug.
"Es gibt Verbesserungen im Land. Die Lebensqualität steigt, der Komfort. Ich glaube, es geht voran."
Aber genau wie in Skolkovo kommen große Teile der Gesellschaft nicht mit.
Zum Beispiel in Popovka. Mit 200 Stundenkilometern rast der Sapsan durch das Dorf südlich von St. Petersburg. Eines Abends im April 2010 erfasste er den 15-Jährigen Aljoscha und schleuderte ihn gegen einen Pfeiler. Der Junge war sofort tot.
Aljoschas Vater, Igor Bogdanov, steht an der Unglücksstelle und blickt in die Wolke aus feinem Schnee, die der durchfahrende Zug aufgewirbelt hat.
"Vor dem Unfall dachten wir, dass der Sapsan sein Tempo in den Ortschaften drosselt, mindestens auf die Geschwindigkeit eines normalen Schnellzugs. Auf vielleicht hundert Km/h. Da weiß man, wenn man den Zug sieht: Der braucht noch eine Weile. Aber bei 200 Km/h ist der Zug binnen einer Sekunde da. Die Leute sind auf so ein Tempo nicht vorbereitet. Die Alten, die Kinder: Die können sich gar nicht vorstellen, dass ein Zug so schnell fahren kann."
Aljoscha war nicht das einzige Opfer des Sapsan. Jedes Jahr werden in Russland 3000 Menschen von Zügen totgefahren. Der Grund für diese hohe Zahl: Fußgängerüberwege führen in Russland immer noch direkt über die Gleise. Meist gibt es nicht einmal Schranken. In Deutschland sind an allen Hochgeschwindigkeitsstrecken Brücken oder Unterführungen für Fußgänger vorgeschrieben. Die russische Bahn aber hat lediglich Ampeln und Lautsprecheranlagen aufgestellt, die vor dem Zug warnen. In Popovka war die Lautsprecheranlage am Unglückstag ausgefallen. Aljoschas Eltern klagen deshalb gegen die Russische Bahn. Sie verlangen umgerechnet eine Million Euro Schmerzensgeld. Eine astronomische Summe. Ein prominenter Moskauer Anwalt unterstützt sie.
"Wir verlangen eine so hohe Summe, weil wir die Bahnmanager dazu bringen wollen, Geld für Fußgängerüberführungen oder Tunnel auszugeben. Der Sapsan ist der rentabelste Zug in ganz Russland. Aber sie hätten zuerst die Infrastruktur schaffen müssen."
Bei der Russischen Bahn heißt es, die Menschen müssten eben achtsamer sein. Der Vizepräsident der Russischen Bahn, Valentin Gapanowitsch:
"Wir haben unseren Teil getan: Wir haben Fußgängerüberwege über die Gleise gebaut. Wir haben Ampeln aufgestellt und Warndurchsagen installiert. Wenn die Menschen die missachten, ist das ihr Problem. Was sollen wir noch alles bauen?
Über Schranken werden die Leute drüber klettern oder unter ihnen durch kriechen. Das ist eine Frage der Kultur. Die Menschen müssen einfach aufmerksam sein und Verantwortung für sich selbst übernehmen."
Doch die Menschen sind wütend. Damit der Sapsan freie Fahrt hat, wurden entlang der Strecke zwischen Moskau und Petersburg Regionalzüge gestrichen. An vielen Orten gab es deshalb Proteste. Immer wieder werfen wütende Anwohner Steine gegen den Zug. Einer schoss sogar mit einem Luftgewehr auf den Wanderfalken. Valentin Gapanowitsch, der stellvertretende Bahnchef, schüttelt den Kopf.
"Ich könnte jetzt aus alten Chroniken zitieren aus der Zeit, als die erste Eisenbahn von Moskau nach Petersburg fuhr. Wie viele Gegner gab es damals! Seitdem sind 150 Jahre vergangen, und es sind noch mehr Unzufriedene. Jede Innovation trifft zunächst auf Widerstand, überall. Die Leute werden sich an das Gute gewöhnen."
Ein weiteres Prestigeprojekt, das Modernisierung suggerieren soll, sind die Olympischen Winterspiele in Sotschi. Auch dort ist der Großteil der Bevölkerung skeptisch.
Sotschi ist eigentlich ein Sommerkurort am Schwarzen Meer. Für die Olympischen Winterspiele müssen sämtliche Wintersportanlagen neu gebaut werden. Dazu wurden die besten Konstrukteure der Welt eingekauft. Die Pisten sollen schneller werden als alle anderen Olympiapisten bisher. Die Bevölkerung von Sotschi steht unterdessen im Stau, leidet unter dem Baulärm. Die Unzufriedenheit ist groß. Die Anwohnerin Svetlana Berestenewa fragt sich, was die Modernisierung nützt, wenn sie keinen sozialen Fortschritt bringt.
"Ich finde keine Arbeit. Ich war auf dem Flughafen und habe mich als Putzfrau vorgestellt, ich wollte Flugzeuge reinigen. Sie haben mich gefragt, ob ich Englisch kann. Wozu soll ich Englisch können? Um staubzusaugen? Und ob ich mit Computern arbeiten kann? Warum muss eine Putzfrau Computerkenntnisse haben? Ist das etwa Fortschritt? Fortschritt ist, wenn es keine Armen gibt. Wenn es keine Korruption gibt, gegen die Medwedew ja angeblich kämpft, die aber immer mehr wird. Fortschritt ist, wenn die Waisenhäuser leer stehen. Alles andere ist ein Bluff und dummes Geschwätz."
Das Problem ist: Der Präsident und die Regierung verstehen unter Modernisierung lediglich die technologische Erneuerung des Landes. Nötig wäre aber eine Reform der gesamten Gesellschaft, erläutert der Politologe Nikolaj Petrov vom angesehenen Moskauer Carnegie-Zentrum.
"Modernisierung kann man im engeren Sinn technologisch verstehen oder im weiteren Sinn als eine Modernisierung von Institutionen und der gesamten Gesellschaft. Im ersten Bereich gibt es gewisse Fortschritte, im zweiten nicht. In der Politik beobachten wir sogar einen rückläufigen Prozess, eine Demodernisierung. So wurde zum Beispiel letztes Jahr in vielen großen Städten die Direktwahl der Bürgermeister abgeschafft – bis dahin eines der letzten wichtigen Möglichkeiten der Kommunikation zwischen den Bürgern und der Macht."
Zwar redet Medwedew oft von einer "umfassenden" Modernisierung und in dem Zusammenhang auch davon, die Korruption zu bekämpfen. Die ist immer noch eines der Haupthindernisse bei der Erneuerung des Landes. Gerade im Vergleich zu Ministerpräsident Wladimir Putin wird Medwedew deshalb oft als Reformer dargestellt, als Fürsprecher tatsächlicher Veränderungen. Aber das sei eine Fehleinschätzung, meint der Politologe Petrov.
"Putin war und ist der Chef des Landes. Ich nenne ihn den Vorsitzenden des Direktorenrates des Unternehmens Russland. Medwedew wurde von Putin zum Leiter der PR-Abteilung dieses Unternehmens bestimmt. Was Medwedew sagt und tut, ist ohne Zweifel mit Putin abgestimmt. Deshalb denke ich, dass Medwedew mitnichten für eine breitere Modernisierung steht. Er gibt immer mal wieder Erklärungen ab, die liberal klingen; aber er handelt im Sinne einer engen Modernisierung, bei der der Staat entscheidet, in welchem Bereich ein maximaler Effekt möglich ist, und dort Mittel hineinsteckt. Es geht um die technologische Vervollkommnung in einigen Wirtschaftszweigen, um mehr nicht."
Das dürfte nicht ausreichen, um die jungen Eliten im Land zu halten.
Novosibirsk, vier Flugstunden östlich von Moskau. Die Stadt bezeichnet sich gern als Hauptstadt Sibiriens. Im Dozentenzimmer der Akademie für Schifffahrt sitzen lauter betagte Menschen. Ein Mann im Rentenalter liest Zeitung. Die anderen trinken Tee. Der Lehrkörper ist überaltert, genauso wie die beiden Computer, die in der Ecke verstauben. Zwischen ihnen sitzt Elena Gurova mit einem Laptop. Sie 26 Jahre alt.
Elena Gurova war bereits mit 23 Jahren promoviert, als jüngste Doktorin aller Zeiten in der Region. Im vergangenen Jahr gewann sie einen Erfinderpreis. Damit zählt sie zu genau der Elite, die Präsident Medwedew so gern im Land halten will. Doch auch sie überlegt, das Land zu verlassen. Ihr Bruder ist bereits im Ausland.
"Er ist Laser-Physiker, ein guter Wissenschaftler, und er hat in Paris einen Dreijahresvertrag bekommen. Die Bedingungen dort sind ganz anders. Hier verdient ein junger Forscher 15 bis 20.000 Rubel, dort umgerechnet 100.000 Rubel. Das macht etwas aus, zumal dort auch noch die Forschungsbedingungen viel besser sind. Wir haben oft nicht die nötigen Geräte. Unsere Instrumente sind nicht genau genug. Bei meinem Bruder dagegen sagt der Chef: Schreib auf, was du brauchst, wir kaufen es für dich. Er muss dann auch nicht ein oder zwei Jahre warten, wie das bei uns üblich ist. Bei uns werden junge Forscher nicht unterstützt. Es bessert sich zwar jetzt, aber wie lange es dauert, bis es bei uns so gut ist wie im Ausland, weiß ich nicht. Ich jedenfalls könnte mehr Hilfe brauchen."
Elena Gurova hat gerade eine eigene Firma gegründet. Sie hat einen Apparat erfunden, der Vibrationen neutralisiert. Auf Schiffen zum Beispiel rütteln die Motoren mitunter sehr stark. Das strapaziert das Material und die Passagiere. Der neue Apparat hilft also, Kosten zu sparen. Im Herbst erhielt die junge Wissenschaftlerin für ihre Erfindung einen Preis der Gebietsverwaltung. Ein Schiffbauer auf der Insel Sachalin im Fernen Osten bestellte 80 Apparate.
"Ich kann aber keine achtzig Stück herstellen. Dafür habe ich kein Geld."
Niemand will der jungen Forscherin einen Kredit geben. Und so bleibt Elena Gurova bisher auf ihrer Erfindung sitzen. Den Politologen Nikolaj Petrov vom Moskauer Carnegie-Zentrum wundert das nicht.
"Die Macht versteht nicht, dass Modernisierung und Innovationen nur zum Teil mit der Entwicklung neuer Ideen zu tun haben; viel wichtiger ist es, eine Nachfrage nach diesen Innovationen zu schaffen. Aber damit beschäftigt sich die Regierung überhaupt nicht. Die russische Wirtschaft fragt heute keine Innovationen nach. Denn der Erfolg eines Unternehmens hängt nicht davon ab, wie energieeffizient seine Technologien sind, sondern davon, wie nahe das Unternehmen der politischen Führung steht. Unter diesen Bedingungen haben Unternehmen absolut kein Interesse an Innovationen."
Die Nachwuchswissenschaftlerin Elena Gurova hat bereits Angebote aus Deutschland und aus Tschechien bekommen. Sie zögert allein aus privaten Gründen.
"Ich hänge an meinem Zuhause. Ich wohne bei meinen Eltern. Und ich möchte meine Mutter nicht allein lassen. Sie hat es schon mitgenommen, als mein Bruder fuhr. Es ist nicht auszumalen, wie es wird, wenn ich auch noch gehe. Ausschließen werde ich es aber nicht. Skolkovo ist ein gutes Projekt, aber wie schnell es umgesetzt wird, steht in den Sternen. Und hier zu sitzen und abzuwarten, bis alles funktioniert – ich weiß nicht."
Mehr bei dradio.de:
Leiden für Olympia 2014
Russland im Wahljahr 2011
"Ich will keinen Hehl daraus machen: Ich war beeindruckt vom Besuch in Silicon Valley, und zwar nicht nur von der Dichte hoch notierter Hightech-Unternehmen und ihren Leistungen; ich persönlich denke vor allem an die Atmosphäre dort. Sie ist besonders: Sie ist kreativ und zugleich ruhig. Man fühlt sich dort wie zuhause. Das ist ideal für diese Art von Unternehmen."
Und so eine Atmosphäre möchte Medwedew nun auch in Russland schaffen. "Skolkovo" heißt das Zauberwort: Die Innovationsstadt soll direkt vor den Toren Moskaus entstehen, mit Forschungsinstituten, Luxusunterkünften und Freizeitanlagen für 15.000 Menschen. Noch in diesem Jahr soll der Bau beginnen.
"Für uns ist das eine völlig neue Idee. Sie steckt natürlich noch in den Kinderschuhen. Sie hat heiße Anhänger und sehr aktive Gegner. Oft höre ich: Ihr wollt doch nur ein Vorzeigeobjekt schaffen. Aber das ist nicht so. Wir wollen ein Beispiel dafür schaffen, wie man arbeiten kann und muss und zeigen, welche Bedingungen dafür nötig sind. Diese Erfahrung werden wir dann an das ganze Land weitergeben und dabei das riesige wissenschaftliche Potenzial unseres Landes nutzen."
Bisher verschenkt Russland sein Potenzial. Seine Eliten wandern ab, nach Westeuropa, in die USA. Mit Skolkowo soll sich das ändern. Die Regierung hat eine Menge Geld für das Projekt am Moskauer Stadtrand bereitgestellt: Umgerechnet 1,5 Milliarden Euro. Unternehmen, die sich in Skolkovo ansiedeln, sollen Steuererleichterungen bekommen. Internationale Konzerne haben bereits Interesse signalisiert, darunter auch Siemens.
Alexander Laptev ist einer der Planer. Er sitzt in Moskau im 13. Stock des Internationalen Handelszentrums und klickt sich durch eine Power Point Präsentation. Laptev spricht von Ökologie und Energieeffizienz und immer wieder von Innovationen.
"Das wird ein neuer Typ von Siedlung, den es bisher in Russland nicht gegeben hat. Die Lebensbedingungen werden hier nicht schlechter sein als in Kalifornien. Natürlich zaubern wir kein Meer hier her, und mit dem Wetter haben wir auch kein Glück, aber mit hervorragendem Service können wir das aufwiegen."
Soweit die Träume für die Zukunft. Die Gegenwart sieht nüchterner aus.
Mit voller Kraft stemmt sich Larisa gegen die Kurbel, um den Eimer in die Höhe zu ziehen. Der Boden ist vereist. Sie holt Wasser. Larisa muss aufpassen, damit sie nicht ausrutscht.
"Wir haben uns daran gewöhnt, wir holen das Wasser immer von hier. Immerhin haben wir Anfang des Jahres eine neue Abdeckung für den Brunnen bekommen."
Larisa lebt nicht in irgendeinem vergessenen Kaff in den Weiten Russlands, sondern im heutigen Dorf Skolkovo, eben dort, wo in wenigen Jahren Wissenschaftler aus aller Welt in "häuslicher und kreativer Atmosphäre" wohnen und arbeiten sollen. Die Straßen sind unbefestigt, viele Häuser aus Holz, in den Gärten stehen Plumpsklos. Dazwischen Bungalows und Villen der Neureichen. Nur wenige Kilometer entfernt sind die Hochhaussiedlungen der Moskauer Außenbezirke zu sehen.
Larisa wohnt in einem Achtfamilienhaus. Das Gebäude gehörte einst zu einer Sowchose, einem landwirtschaftlichen Kollektivbetrieb. Den gibt es schon lang nicht mehr. Larisa ist arbeitslos, ihr Mann arbeitet bei einer Wachschutzfirma in Moskau. Von den Plänen Medwedews, auf den Feldern am Dorfrand ein neues Silicon Valley zu bauen, hat sie kaum etwas gehört. Aber Larisa hat Angst davor.
"Die Leute hier vertrauen niemandem: Putin nicht, und Medwedew auch nicht. Hier gab es so schöne Obstgärten, alte Apfel- und Birnbäume. Jetzt stehen dort die Häuser der Neureichen. Alles wurde zugebaut. Uns braucht doch niemand."
Der Fall Skolkovo ist typisch für Russlands Modernisierung im Hauruckverfahren. In vielen Gegenden scheint die Zeit in den 60er/70er-Jahren stehengeblieben zu sein. Zugleich investiert der Staat in neueste Technologien. Scheinbar nach dem Gießkannenprinzip. Höher, weiter, schneller scheint die Devise. Russland kann es sich leisten, dem hohen Ölpreis sei dank. Die Bevölkerung bleibt auf der Strecke. Und dafür gibt es viele Beispiele.
Moskau, der Leningrader Bahnhof. Auf dem Bahnsteig steht der Hochgeschwindigkeitszug nach St. Petersburg. Die russische Bahn hat ihn "Sapsan" getauft, "Wanderfalke". Er gilt als Aushängeschild des modernen Russlands.
Am ersten Wagen kontrolliert eine adrette blonde Frau mit roter Uniformmütze die Fahrkarten und zeigt den Reisenden ihre Plätze im Großraumwagen. Im Sapsan kann man Hotels buchen und Taxis bestellen. Auf den Tischen liegen Kopfhörer, und es gibt kostenlos Internet.
Der Sapsan verkehrt seit Ende 2009 zwischen St. Petersburg und Moskau, seit einiger Zeit fährt er auch nach Nischnij Novgorod an die Wolga. Er fährt 200 Stundenkilometer und schafft die Strecke zwischen Moskau und Petersburg in nicht mal vier Stunden. Die Nachtzüge brauchen doppelt so lange. Die russische Bahn hat den Zug in Deutschland gekauft. Es ist ein weiterentwickeltes Modell des ICE. Anders als in Deutschland bleibt der Sapsan auch bei Außentemperaturen von minus 30 Grad und Schnee nicht liegen. Die Luft für die Kühlung kommt in diesen Zügen nicht von unten, sondern von oben. Deshalb saugt der Sapsan sogar bei gewaltigen Schneemengen keine Feuchtigkeit an, die die Elektronik lahm legen könnte.
Die Schaffnerin, Anastasija Sysujeva, ist stolz auf den Zug.
"Es gibt Verbesserungen im Land. Die Lebensqualität steigt, der Komfort. Ich glaube, es geht voran."
Aber genau wie in Skolkovo kommen große Teile der Gesellschaft nicht mit.
Zum Beispiel in Popovka. Mit 200 Stundenkilometern rast der Sapsan durch das Dorf südlich von St. Petersburg. Eines Abends im April 2010 erfasste er den 15-Jährigen Aljoscha und schleuderte ihn gegen einen Pfeiler. Der Junge war sofort tot.
Aljoschas Vater, Igor Bogdanov, steht an der Unglücksstelle und blickt in die Wolke aus feinem Schnee, die der durchfahrende Zug aufgewirbelt hat.
"Vor dem Unfall dachten wir, dass der Sapsan sein Tempo in den Ortschaften drosselt, mindestens auf die Geschwindigkeit eines normalen Schnellzugs. Auf vielleicht hundert Km/h. Da weiß man, wenn man den Zug sieht: Der braucht noch eine Weile. Aber bei 200 Km/h ist der Zug binnen einer Sekunde da. Die Leute sind auf so ein Tempo nicht vorbereitet. Die Alten, die Kinder: Die können sich gar nicht vorstellen, dass ein Zug so schnell fahren kann."
Aljoscha war nicht das einzige Opfer des Sapsan. Jedes Jahr werden in Russland 3000 Menschen von Zügen totgefahren. Der Grund für diese hohe Zahl: Fußgängerüberwege führen in Russland immer noch direkt über die Gleise. Meist gibt es nicht einmal Schranken. In Deutschland sind an allen Hochgeschwindigkeitsstrecken Brücken oder Unterführungen für Fußgänger vorgeschrieben. Die russische Bahn aber hat lediglich Ampeln und Lautsprecheranlagen aufgestellt, die vor dem Zug warnen. In Popovka war die Lautsprecheranlage am Unglückstag ausgefallen. Aljoschas Eltern klagen deshalb gegen die Russische Bahn. Sie verlangen umgerechnet eine Million Euro Schmerzensgeld. Eine astronomische Summe. Ein prominenter Moskauer Anwalt unterstützt sie.
"Wir verlangen eine so hohe Summe, weil wir die Bahnmanager dazu bringen wollen, Geld für Fußgängerüberführungen oder Tunnel auszugeben. Der Sapsan ist der rentabelste Zug in ganz Russland. Aber sie hätten zuerst die Infrastruktur schaffen müssen."
Bei der Russischen Bahn heißt es, die Menschen müssten eben achtsamer sein. Der Vizepräsident der Russischen Bahn, Valentin Gapanowitsch:
"Wir haben unseren Teil getan: Wir haben Fußgängerüberwege über die Gleise gebaut. Wir haben Ampeln aufgestellt und Warndurchsagen installiert. Wenn die Menschen die missachten, ist das ihr Problem. Was sollen wir noch alles bauen?
Über Schranken werden die Leute drüber klettern oder unter ihnen durch kriechen. Das ist eine Frage der Kultur. Die Menschen müssen einfach aufmerksam sein und Verantwortung für sich selbst übernehmen."
Doch die Menschen sind wütend. Damit der Sapsan freie Fahrt hat, wurden entlang der Strecke zwischen Moskau und Petersburg Regionalzüge gestrichen. An vielen Orten gab es deshalb Proteste. Immer wieder werfen wütende Anwohner Steine gegen den Zug. Einer schoss sogar mit einem Luftgewehr auf den Wanderfalken. Valentin Gapanowitsch, der stellvertretende Bahnchef, schüttelt den Kopf.
"Ich könnte jetzt aus alten Chroniken zitieren aus der Zeit, als die erste Eisenbahn von Moskau nach Petersburg fuhr. Wie viele Gegner gab es damals! Seitdem sind 150 Jahre vergangen, und es sind noch mehr Unzufriedene. Jede Innovation trifft zunächst auf Widerstand, überall. Die Leute werden sich an das Gute gewöhnen."
Ein weiteres Prestigeprojekt, das Modernisierung suggerieren soll, sind die Olympischen Winterspiele in Sotschi. Auch dort ist der Großteil der Bevölkerung skeptisch.
Sotschi ist eigentlich ein Sommerkurort am Schwarzen Meer. Für die Olympischen Winterspiele müssen sämtliche Wintersportanlagen neu gebaut werden. Dazu wurden die besten Konstrukteure der Welt eingekauft. Die Pisten sollen schneller werden als alle anderen Olympiapisten bisher. Die Bevölkerung von Sotschi steht unterdessen im Stau, leidet unter dem Baulärm. Die Unzufriedenheit ist groß. Die Anwohnerin Svetlana Berestenewa fragt sich, was die Modernisierung nützt, wenn sie keinen sozialen Fortschritt bringt.
"Ich finde keine Arbeit. Ich war auf dem Flughafen und habe mich als Putzfrau vorgestellt, ich wollte Flugzeuge reinigen. Sie haben mich gefragt, ob ich Englisch kann. Wozu soll ich Englisch können? Um staubzusaugen? Und ob ich mit Computern arbeiten kann? Warum muss eine Putzfrau Computerkenntnisse haben? Ist das etwa Fortschritt? Fortschritt ist, wenn es keine Armen gibt. Wenn es keine Korruption gibt, gegen die Medwedew ja angeblich kämpft, die aber immer mehr wird. Fortschritt ist, wenn die Waisenhäuser leer stehen. Alles andere ist ein Bluff und dummes Geschwätz."
Das Problem ist: Der Präsident und die Regierung verstehen unter Modernisierung lediglich die technologische Erneuerung des Landes. Nötig wäre aber eine Reform der gesamten Gesellschaft, erläutert der Politologe Nikolaj Petrov vom angesehenen Moskauer Carnegie-Zentrum.
"Modernisierung kann man im engeren Sinn technologisch verstehen oder im weiteren Sinn als eine Modernisierung von Institutionen und der gesamten Gesellschaft. Im ersten Bereich gibt es gewisse Fortschritte, im zweiten nicht. In der Politik beobachten wir sogar einen rückläufigen Prozess, eine Demodernisierung. So wurde zum Beispiel letztes Jahr in vielen großen Städten die Direktwahl der Bürgermeister abgeschafft – bis dahin eines der letzten wichtigen Möglichkeiten der Kommunikation zwischen den Bürgern und der Macht."
Zwar redet Medwedew oft von einer "umfassenden" Modernisierung und in dem Zusammenhang auch davon, die Korruption zu bekämpfen. Die ist immer noch eines der Haupthindernisse bei der Erneuerung des Landes. Gerade im Vergleich zu Ministerpräsident Wladimir Putin wird Medwedew deshalb oft als Reformer dargestellt, als Fürsprecher tatsächlicher Veränderungen. Aber das sei eine Fehleinschätzung, meint der Politologe Petrov.
"Putin war und ist der Chef des Landes. Ich nenne ihn den Vorsitzenden des Direktorenrates des Unternehmens Russland. Medwedew wurde von Putin zum Leiter der PR-Abteilung dieses Unternehmens bestimmt. Was Medwedew sagt und tut, ist ohne Zweifel mit Putin abgestimmt. Deshalb denke ich, dass Medwedew mitnichten für eine breitere Modernisierung steht. Er gibt immer mal wieder Erklärungen ab, die liberal klingen; aber er handelt im Sinne einer engen Modernisierung, bei der der Staat entscheidet, in welchem Bereich ein maximaler Effekt möglich ist, und dort Mittel hineinsteckt. Es geht um die technologische Vervollkommnung in einigen Wirtschaftszweigen, um mehr nicht."
Das dürfte nicht ausreichen, um die jungen Eliten im Land zu halten.
Novosibirsk, vier Flugstunden östlich von Moskau. Die Stadt bezeichnet sich gern als Hauptstadt Sibiriens. Im Dozentenzimmer der Akademie für Schifffahrt sitzen lauter betagte Menschen. Ein Mann im Rentenalter liest Zeitung. Die anderen trinken Tee. Der Lehrkörper ist überaltert, genauso wie die beiden Computer, die in der Ecke verstauben. Zwischen ihnen sitzt Elena Gurova mit einem Laptop. Sie 26 Jahre alt.
Elena Gurova war bereits mit 23 Jahren promoviert, als jüngste Doktorin aller Zeiten in der Region. Im vergangenen Jahr gewann sie einen Erfinderpreis. Damit zählt sie zu genau der Elite, die Präsident Medwedew so gern im Land halten will. Doch auch sie überlegt, das Land zu verlassen. Ihr Bruder ist bereits im Ausland.
"Er ist Laser-Physiker, ein guter Wissenschaftler, und er hat in Paris einen Dreijahresvertrag bekommen. Die Bedingungen dort sind ganz anders. Hier verdient ein junger Forscher 15 bis 20.000 Rubel, dort umgerechnet 100.000 Rubel. Das macht etwas aus, zumal dort auch noch die Forschungsbedingungen viel besser sind. Wir haben oft nicht die nötigen Geräte. Unsere Instrumente sind nicht genau genug. Bei meinem Bruder dagegen sagt der Chef: Schreib auf, was du brauchst, wir kaufen es für dich. Er muss dann auch nicht ein oder zwei Jahre warten, wie das bei uns üblich ist. Bei uns werden junge Forscher nicht unterstützt. Es bessert sich zwar jetzt, aber wie lange es dauert, bis es bei uns so gut ist wie im Ausland, weiß ich nicht. Ich jedenfalls könnte mehr Hilfe brauchen."
Elena Gurova hat gerade eine eigene Firma gegründet. Sie hat einen Apparat erfunden, der Vibrationen neutralisiert. Auf Schiffen zum Beispiel rütteln die Motoren mitunter sehr stark. Das strapaziert das Material und die Passagiere. Der neue Apparat hilft also, Kosten zu sparen. Im Herbst erhielt die junge Wissenschaftlerin für ihre Erfindung einen Preis der Gebietsverwaltung. Ein Schiffbauer auf der Insel Sachalin im Fernen Osten bestellte 80 Apparate.
"Ich kann aber keine achtzig Stück herstellen. Dafür habe ich kein Geld."
Niemand will der jungen Forscherin einen Kredit geben. Und so bleibt Elena Gurova bisher auf ihrer Erfindung sitzen. Den Politologen Nikolaj Petrov vom Moskauer Carnegie-Zentrum wundert das nicht.
"Die Macht versteht nicht, dass Modernisierung und Innovationen nur zum Teil mit der Entwicklung neuer Ideen zu tun haben; viel wichtiger ist es, eine Nachfrage nach diesen Innovationen zu schaffen. Aber damit beschäftigt sich die Regierung überhaupt nicht. Die russische Wirtschaft fragt heute keine Innovationen nach. Denn der Erfolg eines Unternehmens hängt nicht davon ab, wie energieeffizient seine Technologien sind, sondern davon, wie nahe das Unternehmen der politischen Führung steht. Unter diesen Bedingungen haben Unternehmen absolut kein Interesse an Innovationen."
Die Nachwuchswissenschaftlerin Elena Gurova hat bereits Angebote aus Deutschland und aus Tschechien bekommen. Sie zögert allein aus privaten Gründen.
"Ich hänge an meinem Zuhause. Ich wohne bei meinen Eltern. Und ich möchte meine Mutter nicht allein lassen. Sie hat es schon mitgenommen, als mein Bruder fuhr. Es ist nicht auszumalen, wie es wird, wenn ich auch noch gehe. Ausschließen werde ich es aber nicht. Skolkovo ist ein gutes Projekt, aber wie schnell es umgesetzt wird, steht in den Sternen. Und hier zu sitzen und abzuwarten, bis alles funktioniert – ich weiß nicht."
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Russland im Wahljahr 2011