Wenn Menschen Deiche versetzen

Von Maren Schibilsky |
"Mehr Raum für die Flüsse" hieß es nach dem Elbehochwasser. So steht es im Memorandum der Flusskonferenz 2002. Passiert ist seitdem wenig. Doch in der Prignitz starten die Bauarbeiten für die größte Deichverlegung in der Geschichte der Bundesrepublik, die der Elbe einen Überschwemmungsraum geben werden.
Landwirt Reinhold Jacobs kommt aus dem Kartoffelfeld der Agrar-Holding Lenzen. In seinen kräftigen Fingern trägt er eine Holzkiste mit ersten handverlesenen Frühkartoffeln, die er am Feldrand umschüttet.

Das Kartoffelfeld liegt wenige Meter hinterm Deich. Dahinter fließt die Elbe. Ruhig und gemächlich. Vor drei Jahren war das nicht so. Als im August 2002 die Flutwelle kam und das Wasser nur wenige Zentimeter unter der Deichkrone stand, war genau hier die kritischste Stelle im gesamten Land Brandenburg.

" Ich kann mich noch ganz genau erinnern, es war an einem Morgen, es war sogar der 17. August, da bin ich frühmorgens in dieses Gebiet reingefahren und da kamen mir 10 LKW´s entgegen mit vollem Tempo. Das waren Armeefahrzeuge. Ich hab´gedacht: Nun ist es passiert, der Deich ist durchgebrochen, es ist rübergelaufen."

Doch die Armeefahrzeuge holten Nachschub. Nachschub an Sandsäcken. Fast zwei Millionen Stück verstärkten hier den Deich. Auf 800 Meter Länge. Soviel wie nirgendwo im Landkreis Prignitz.

Helikopter am Himmel überwachten das Geschehen. Im Cockpit - so mancher Journalist. Hautnah dabei. Bei der Verteidigung am "Bösen Ort", wo die Flut mit aller Wucht auf den Deich prallte.

" Der seit gestern wieder leicht gestiegene Elbepegel macht sich hier an diesem sogenannten "Bösen Ort" nördlich von Wittenberge besonders bemerkbar.
Dieser ´Böse Ort´, der macht seinem Namen alle Ehre. "

Er ist ein Deichschwachpunkt. Sein Name rührt eigentlich daher, weil die Elbe hier eine 90-Grad-Kurve macht und für die Schifffahrt schwer zu navigieren war. Doch während der Elbeflut ging der "Böse Ort" um die Welt. Jetzt soll er neue Berühmtheit erlangen. Denn genau hier startet die größte Deichverlegung der Bundesrepublik.
Frank Neuschulz hatte die Idee dazu.

" Die Stelle drängt sich eigentlich auf. Es ist so, dass wir zwischen den beiden Deichen auf der niedersächsischen Seite und der brandenburgischen Seite eine echte Engstelle haben. So eine Flaschenhalssituation. Und insofern macht es einfach Sinn, den Deich hier aufzuweiten. "

Frank Neuschulz gesteht, dass dieser Gedanke nicht neu ist. Bereits um 1890 mahnten preußische Wasserbauer eine Deichkorrektur am "Bösen Ort" an.

" Die haben etwas Wunderbares damals gemacht, die haben nämlich ein so genanntes Elbstromwerk geschrieben. In diesem Elbstromwerk haben sie auch schon an dieser Stelle gesagt: "Hier müsste eigentlich der Deich zurückverlegt werden, aber es wird wohl scheitern am Willen der Deichverbände und am Geld. "

Auch in DDR-Tagen, Ende der 60er gab es Deichverlegungspläne, die ebenfalls aus Finanzgründen wieder begraben wurden. Denn nicht nur bei Hochwasser macht der "Böse Ort´ Probleme. Auch im Winter bei Eisgang, wenn sich Eisschollen verkeilen können, droht Deichbruchgefahr. Und bricht der Deich, hat das verheerende Auswirkungen – meint Bernd Lindow, der beim Elbehochwasser 2002 im Krisenstab des Landkreises mitgearbeitet hat.

" Die Lage am "Bösen Ort" war deshalb besonders brisant, weil ein Deichbruch dort nicht nur Nachteile gebracht hätte für Lenzen, eine mögliche Überflutung für die Stadt Lenzen und ihre Ortsteile, sondern sich bis nach Mecklenburg hätte auswirken können, war es schon ein besonderer Brennpunkt der Hochwasserabwehr. "

Am Elbdeich unweit des "Bösen Ortes" öffnet Frank Neuschulz die Tür eines ehemaligen Grenzturms und steigt auf die Aussichtsplattform.
Wo bis 1989 DDR-Grenzposten die Elbe nach Niedersachsen bewachten, ist heute ein Besucherstützpunkt des Biosphärenreservates ´Flusslandschaft Elbe´.
In Faltblättern kann man sich über die Deichverlegung informieren. Und man bekommt von hier aus eine Vorstellung über die Dimension des Projektes.
Biosphärenreservatsleiter Frank Neuschulz erklärt, was hier geschehen soll.

" Zunächst wird mal schlicht und ergreifend ein neuer Deich gebaut, nur dass das nicht auf der alten Deichlinie ist, sondern weiter im Binnenland. Spannend wird es dann, wenn der Deich fertig ist, was man dann mit dem Altdeich macht. Der Altdeich bleibt im Prinzip so bestehen, aber er wird an insgesamt sieben Stellen geschlitzt, die dem Wasser ermöglichen, an diesen Stellen einzutreten. "

Bei geöffnetem Fenster zeigt Frank Neuschulz, wo genau bei Hochwasser die neue Überschwemmungsfläche entstehen soll. Vier Quadratkilometer "Land unter". Heute ist das eintöniges, aber fruchtbares Grünland, auf dem Kühe weiden. Das Land hat die Agrar-Holding Lenzen gepachtet. Ihr Geschäftsführer ist Horst Möhring. Die Idee der Deichverlegung hat ihn von Anbeginn fasziniert:

" Für die Menschen, die an der Elbe leben, ist das hohe Wasser eine ständige Gefahr. Und wir haben an dem Wasser und an dem Oderhochwasser begriffen, dass sich das Klima verändert und Extreme häufiger werden. "

Während der Elbeflut musste Horst Möhring 2000 Rinder und 3500 Schafe evakuieren. So etwas möchte er nicht noch einmal erleben. Deshalb verzichtet er gern auf 400 Hektar Grünland. Gegen eine Pachtablöse. Für die Deichverlegung. Als Geschäftsführer eines landwirtschaftlichen Großbetriebes mit 4100 Hektar Nutzfläche fällt ihm das leicht. Leichter als anderswo in kleineren Betrieben.

" Wir brauchen das Grünland genauso. Aber was wir auch brauchen, sind intakte Verhältnisse in einer Region, d.h. wir müssen auch bereit sein im Bereich der Landwirtschaft bestimmte Probleme anders zu sehen und zu lösen, wenn sie denn ordnungsgemäß ausgeglichen werden. "

Noch gibt es letzte Debatten um die Höhe der Entschädigung. Klar ist, dass Horst Möhring mit dem Geld neue Arbeitsplätze schaffen will für die, die durch die Aufgabe des Grünlandes ihre Arbeit verlieren. In der dünnbesiedelten Prignitz sind Arbeitsplätze rar. Doch auch die Deichverlegung bringt Arbeit.

Auf der geplanten Überflutungsfläche entsteht seit Jahren ein großes Waldgebiet. Auwald. Dafür hat Horst Möhring eine Baumschule gegründet mit sieben Angestellten. Eichen, Ulmen, Weiden werden hier herangezogen, um sie auf der neuen Überflutungsfläche zu pflanzen. 70 Hektar Auwald sind bereits entstanden.
Landwirt Reinhold Jacobs hat die ersten Bäume mit in die Erde gebracht.
Das war vor 10 Jahren. Als Pionier der größten Auwaldneubegründung Deutschlands
ist er stolz darauf.

" Wenn ich heute dran vorbeifahre kann ich nur staunen, wie schnell sich die Aue entwickelt hat und wie die Bäume und Sträucher gut gedeihen. "

Dass die Bäume bereits vor 10 Jahren gepflanzt wurden, hat seinen Grund. Frank Neuschulz.

" Wir haben deswegen so früh damit angefangen, weil wir sicherstellen wollten, wenn der Deich zurückverlegt wird, diese neuen Flächen überflutet werden, die Bäume auch schon ein gewisses Alter haben, die auch widerstandsfähig sind gegenüber dem Wasser und dem Eis, das hier im Winter natürlich auch anzutreffen ist. Insofern sind wir ganz froh, dass dieser Vorlauf einfach schon da ist. "

Frank Neuschulz breitet eine historische Karte auf dem Tisch im Grenzturm aus. Auf ihr ist genau zu sehen, dass der Auwald im neuen Überschwemmungsgebiet keine fixe Idee von Naturschützern ist.

" Früher war dies alles Wald. Es war die "Lenzener Kuhblaenke", ein alter geschlossener Auwald, der aber so nach und nach abgehackt wurde. Immer, wenn ein bisschen Ebbe in der Stadtkasse war, dann sind die Bäume verkauft worden. "

Der neue Auwald soll Naturschutzgebiet werden. Er ist so etwas wie der Regenwald in den Tropen: der artenreichste Lebensraum Mitteleuropas und ein riesiger Wasserspeicher. Ausserdem dient er der Hochwasserabwehr – meint Frank Neuschulz und zeigt auf das eingezäunte Waldgebiet zu Füßen des Grenzturms.

" Der Auwald hat einen ganz großen Vorteil noch, den die Grünlandfläche nicht hat und zwar den, dass das Wasser in seiner Fließgeschwindigkeit gebremst wird, die Versickerung des Wassers in der Fläche größer ist, das Wasseraufnahmevermögen ist im Wald wesentlich größer als im Grünland. Das sind Dinge, die auch schon ihre Bedeutung haben. "

Christian Steinkopf kommt über die Hängebrücke in den Lenzener Sportboothafen. Früher war das ein Schutzhafen, wo Elbschiffe bei Eisgang und Hochwasser Deckung suchten. Heute liegen hier Motor- und Segelboote
vor Anker.

Der backsteinernde sechs Meter hohe Pegelturm, an dem Schwalben nisten, war im August 2002 zu zwei Dritteln in den Fluten versunken. Vom "Bösen Ort" bis hierher soll der Deich verlegt werden. Auf einer Strecke von sieben Kilometern. Als Bürgermeister der Stadt Lenzen war Christian Steinkopf lange Gegner dieses Projektes: "Zu teuer in Zeiten leerer Kassen" - war sein Hauptargument.
Immerhin verschlangen die Vorarbeiten 7 Millionen Euro. Dieselbe Summe kostet noch einmal der neue Deich.

" Wenn man dieses Geld bekommen würde für Investitionen, die Arbeitsplätze schaffen würden bzw. auf Dauer angelegten Nutzen bringen würden, dann würde mir das viel besser gefallen. "

Über Jahre hat Bürgermeister Steinkopf versucht, das Projekt politisch zu stoppen. Auch wenn er aus seiner Stadtkasse keinen einzigen Cent zur Finanzierung beisteuern muss. Bis heute hat er viele Lenzener auf seiner Seite.

" Früher war der Deich immer so. Ich weiss nicht, ob das Sinn hat, den Deich zu verlegen. So wie es ist, hat es ja immer hingehauen, warum soll´s dieses Mal anders sein. Wenn´s Wasser kommt, kommt es mit Macht und Gewalt, da hilft das auch nicht. "

Frank Neuschulz ist trotz der hohen Kosten von der Deichverlegung überzeugt. Und er hat es geschafft, den Landkreis Prignitz und das Land Brandenburg für das Projekt zu gewinnen. Sogar das Bundesumweltministerium fördert das Vorhaben zur Hälfte.

" Wenn man aktiv modernen Hochwasserschutz betreiben muss, muss man zum einen Geld investieren und sollte man es auch so investieren, dass es nachhaltig ist, d.h. wenn wir nur immer vorwärts gehen und die alten Deiche erhöhen, dann kommen wir nicht mehr weiter, weil ich unter dem Strich eigentlich nichts positives für den Hochwasserabfluss und die Wassermassen habe. "

Zahlreiche Forschungsvorhaben hat Frank Neuschulz angestoßen. Zum Beispiel zur Auwaldbegründung. Außerdem hat er untersuchen lassen, welchen Hochwassereffekt die Deichverlegung für die Region tatsächlich bringt.

" Es gibt einen wunderbaren Modellversuch der Bundesanstalt für Wasserbau. Diese Bundesanstalt für Wasserbau hat also herausgerechnet, dass wir für die lokale Hochwassersituation eine Wirkung haben. Das sind 30 bis 40 Zentimeter weniger Hochwasser in diesem Abschnitt. Das ist durchaus ein Effekt. "

Der Lenzener Bürgermeister Christian Steinkopf bezweifelt die Stichhaltigkeit dieses Versuchs. Als Sohn eines Elbefischers macht er sich seine eigenen Gedanken.

" Ich lebe jetzt 56 Jahre bewusst an der Elbe und habe schon soviele Hochwasser mitgemacht, dass ich sagen kann, wer ein Gutachten in Auftrag gibt mit einem bestimmten Hintergrund, bekommt wahrscheinlich auch das Gutachten so gebaut. Wenn der Staat die Rückverlegung bezahlen kann, soll er es machen. "

Bürgermeister Steinkopf hat seinen Kampf gegen das Projekt aufgeben. Mittlerweile ist seine Stadt Mitglied im Trägerverbund Burg Lenzen e.V. Ein Zusammenschluss aller lokalen Partner für die Deichverlegung.

" Wenn das Ding steht, wird es auf jeden Fall ein Touristenmagnet. Das müssen wir in der heutigen Zeit einfach so sehen. Und ich erhoffe mir jetzt auch, dass wir unseren Vorteil daraus ziehen können. "

Tim Schwarzenberger drückt einen schwarzen Knopf. Auf Knopfdruck wird Hochwasser in einem tischgroßen Modell erzeugt. Es steht im zweiten Stock der Burg Lenzen im Raum ´Elbeökologie´. Seit ein paar Jahren befindet sich in der alten Burganlage, die auf einem slawischen Burgwall hoch über der Stadt thront, das Auenökologische Zentrum des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland. Es wird geleitet von Tim Schwarzenberger. Das Projekt der Deichverlegung ist hier in Miniatur zu bestaunen.

" Wir haben unser wasserdurchströmtes Modell an zentraler Stelle im Auenökologischen Zentrum aufgestellt und können hier anhand dieses Modells viel schöner als mit vielen komplizierten Folien an die Wand geworfen darstellen, welches die wesentlichen Punkte der Deichrückverlegung in der Lenzener Elbtalaue sind. "

Tim Schwarzenberger ist wichtig, dass das Projekt für Einheimische und Besucher nachvollziehbar und miterlebbar ist. Wenn in wenigen Tagen die Baufahrzeuge anrollen, der neue Deich gebaut wird und bis 2007 die Überschwemmungsfläche mit dem neuen Auwald und den Flutrinnen entsteht, soll das ein spannendes Ausflugsziel sein.

" Was wir bereits aufgenommen haben, dass wir mit dem kleinen Kutter, der kleinen Dott, machen wir Ausflüge auf der Elbe, auenökologische Ausflüge in das Deichrückverlegungsgebiet, entlang des Altdeiches heute. "

Außerdem gibt es Fahrradexkursionen und Kremserfahrten.
Im Landkreis Prignitz ist man stolz, das erste große Deichverlegungsprojekt in Deutschland zu haben. Bernd Lindow.

" Es hat sicherlich Modellcharakter. Man wird sicherlich anhand des Projektes lernen können, wie gehe ich ein solches Projekt an. Unabdingbar ist, dass man sich Partner vor Ort sucht und den vernünftigen Umgang pflegen muss. "

Wenn die neue Elbaue mal fertig sein wird, ist für Frank Neuschulz ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen. Zehn Jahre hat er dafür gearbeitet.

" Entscheidend ist aber, dass es mit dieser einen Deichrückverlegung an der Elbe natürlich nicht getan sein kann. Wir müssen ein ganzes Netz von solchen Rückverlegungen haben, die Wasser aufnehmen können. Erst dann wird das eine große Wirkung auf das Hochwassergeschehen haben. "