Wenn Sexting-Nachrichten im Netz landen

Und plötzlich kennen dich alle nackt

Ein Mann hält ein Smartphone in der Hand, auf dem ein erotisches Foto einer jungen Frau zu sehen ist.
Ein Mann hält ein Smartphone in der Hand, auf dem ein erotisches Foto einer jungen Frau zu sehen ist. © picture alliance / dpa
Von Nora Gohlke |
In Liebesbeziehungen von Jugendlichen spielt das Smartphone eine zentrale Rolle. Auch der Austausch von intimen Bildern gehört dazu. Der ist allerdings nicht ungefährlich, denn mit ein paar Klicks stehen solche Nacktbilder im Internet – für alle sichtbar. Und was ist überhaupt der Reiz am Sexting?
Gesa Stückmann: "Welche Straftaten gibt es? Die eine, die wir uns anschauen, ist Paragraf 201a Strafgesetzbuch. Sehr lang. Kurz gesagt, geht es um Nacktfotos, Nacktvideos."
Jan Kalbitzer: "Auf jeden Fall verändert das die Beziehungen. Wir wissen nur noch nicht genau wie, weil wir es ja gerade noch am Aushandeln sind. Das kann für Leute wahnsinnig erotisch und intim sein, wenn sie zum Beispiel in einem Zugabteil zusammen sitzen mit anderen Leuten und sich dann gegenseitig erotische Nachrichten schreiben auf ihre Handys, obwohl sie sich gegenübersitzen und wissen, um sie herum sind andere Leute. Andersrum kann das sein, dass Leute, die nur noch über SMS Kontakt haben, das Gefühl haben, sie verlieren darüber Intimität."
Beate Köhler: "Ich hab letztens mal so eine Gruppe gefragt: Wer von euch weiß, dass es von euch keine Fotos gibt, wo ihr nackt oder halbnackt drauf seid? Dann gab es Frauen, die haben gesagt: Also von mir gibt’s welche, wo ich noch jünger war und so richtig nette, so richtig knackige. Ein paar haben gesagt: Na klar gibt’s von mir Bilder, wo ich halbnackt oder nackt drauf zu sehen bin. Und ein paar haben gar nichts gesagt, da weiß ich nicht. Aber ich glaube, das gibt es fast von uns allen. Isso."
Die Nachricht über den Tod der 15-jährigen Amanda Todd im Oktober 2012 ging um die Welt. Grund dafür war ein Video, das die kanadische Schülerin veröffentlicht hatte – drei Tage bevor sie sich das Leben nahm. Darin hält sie schweigend handgeschriebene Botschaften in die Kamera. "Ich kann dieses Foto niemals zurückholen. Es ist für immer da draußen".
Zettel um Zettel erzählt Amanda Todd ihre "never-ending story", ihre niemals endende Geschichte der Demütigung und Scham. Millionen von Menschen weltweit haben das achtminütige Video gesehen. Es ist gespeichert im "Gedächtnis" des Internets. So wie das Bild, das Amanda Todd nicht mehr loswurde: ein Screenshot von ihr mit nackten Brüsten, unfreiwillig aufgenommen während eines Videochats mit einem Fremden.
Bis heute gilt das Schicksal von Amanda Todd als tragisches Beispiel für Cybermobbing, den Missbrauch von Nacktbildern und Stalking. Spätestens seit ihrem Tod häufen sich die Stimmen, die davor warnen, intime Details über das Smartphone zu verschicken.
Sexting kam mit den Smartphones und der zunehmenden Kommunikation über Messenger wie WhatsApp auf. Mit der App Snapchat, in der die Bilder nach wenigen Sekunden vom Bildschirm des Empfängers verschwinden, wurde Sexting noch einmal populärer.
In den Medien wird Sexting oft skandalisiert und mit Cybermobbing, Rachepornos oder Erpressung gleichgesetzt. Es ist ja auch so einfach geworden. Einmal auf "Weiterleiten" getippt, schon ist das Foto im nächsten Chat. Oder bei Facebook. Ein Szenario, das allgegenwärtig ist.
Doch was bedeutet das für die Nutzer, die Jugendlichen und die Erwachsenen? Ist das Smartphone generell zur Waffe geworden und die digitale Welt ein Tatort? Ermöglicht uns das Internet, insbesondere Social Media, nicht auch andere Arten von intimer Kommunikation und neue Möglichkeiten für intime Begegnungen?
Autorin: "Erinnerst du dich an unser Gespräch zum Thema Sexting? Hast du noch Lust auf einen Austausch darüber?"
Anna: "Ich erinnere mich. Und unter dem Siegel der Diskretion bin ich auch bereit."
Autorin: "Sollen wir es so machen: Ich stell dir ganz Interviewer-like ne Frage und du schreibst zurück, wann immer du magst und Zeit hast?"
Anna: "Das finde ich gut! Genauso mache ich es auch beim Sexting."
Autorin: "Okay. Also: Hast Du schon einmal ein Nacktbild von dir verschickt? Und wenn ja, an wen? – Im Sinne von: Wer war er für dich? Und in welcher Situation?"
Anna: "Ich hab schon mehrere Nacktbilder verschickt. Allerdings nur an Männer, die mir so nah sind, dass ich Ihnen 100% vertraue. Das letzte Mal, dass ich ein Nacktbild verschickt habe, war mit meiner Amour fou. Der größte Teil unserer Verbindung war digital. Insofern war es gar nicht so komisch, auch körperliches Verlangen über das Telefon zu teilen. Das erste Nacktbild ist in einem längeren Sex-Chat verschickt worden. Wir haben beide von uns Bilder gemacht. Das hat die anfänglichen Hemmungen dann abgebaut."
Mit dem Internet kam die Frage auf, wie viel wir im Netz von uns preisgeben sollen. Denn wir teilen immer mehr: unseren Standort, unsere politische Einstellung bis hin zu unserem gegenwärtigen Gemütszustand.
Wie sollen wir mit Bildern umgehen, die von vornherein nur für eine Person bestimmt waren, aber dann im schlimmsten Fall öffentlich weiterverbreitet werden? Was bedeutet die Frage nach dem "Wie-viel” für unsere Intimsphäre?

Aber erst einmal: Was ist denn überhaupt der Status quo?

"Man schätzt, dass etwa 15, 16 Prozent der deutschen Jugendlichen Sexting schon einmal ausprobiert haben. Bei 15 Prozent würde ich noch nicht sagen, dass es normal geworden ist. Ich würde aber sagen, dass es eine ziemlich große Gruppe ist, die diese Erfahrung schon einmal gemacht hat."
Sagt die Sexualwissenschaftlerin Urszula Martyniuk. Am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf forscht sie unter anderem zu sexuellen Erfahrungen von Jugendlichen und meint dabei vor allem die 14- bis 20-jährigen.
Ursula Martyniuk: "Mit dem zunehmenden Alter wird die Gruppe derjeniger, die Sexting schon ausprobiert haben größer. Also bei den jungen Erwachsenen sind die Zahlen schon viel größer und gehen bis zu 50 Prozent."
Aus einem Forum für Second Hand Kleidung, Kleiderkreisel, Januar 2017:
Nutzerin 1: "Hallo, anonym, weil ..., muss ich glaub ich nicht erklären. Mein Freund hätte gerne ein paar Bilder von mir. Ja, genau solche. Ich bin 20, er 23, wir sind seit 4 Monaten zusammen und kennen uns seit Anfang des Jahres. Hattet ihr schon mal Erfahrungen damit? Habt ihr das schon mal gemacht, eventuell bereut?"
Nutzerin 2: "Höre auf dein Bauchgefühl und wende das wichtigste Wort an = NEIN! Hier haben schon viele verzweifelte Mädels Threads erstellt weil sie Nacktfotos in "guten vertrauensvollen Zeiten" an ihren Freund geschickt haben... Du hast überhaupt keine Kontrolle wie sich deine Fotos verselbstständigen würden!"
Nutzerin 3: "Gemacht, teilweise auch ohne Beziehung. Immer darauf geachtet, dass man mich nicht identifizieren kann. Nur bei gutem Bauchgefühl gemacht. Ist immer gut gegangen. Die Art und Weise, wie die Nutzer reagieren, zeigt nicht nur die Unsicherheit, sondern auch schon das Bewusstsein für ein mögliches Risiko. Sie wissen nicht, wie viel sie teilen können. Sehr private Details aus dem Leben und das Internet, Intimität und Öffentlichkeit - das sind grundsätzlich immer noch Widersprüche."
Nutzerin 4: "Ich hab meinem Freund auch schon so Bilder geschickt. Immer ohne Gesicht und so, dass man meine Tattoos nicht sieht. Hab solche Bilder bis jetzt auch nur geschickt, wenn wir uns mal eine Weile nicht gesehen haben oder so. und ich habs bei Snapchat geschickt und eingestellt, dass das Bild nach 2 Sekunden verschwindet, bevor er checkt was er da grad sieht und vielleicht versucht zu screenshoten, ist es dann eh weg."
Die meisten Nutzerinnen aber raten der Fragestellerin, es nicht zu tun. Sexting, dessen Missbrauch und die möglichen beschämenden Folgen sind in den Köpfen eng verknüpft. Niemand möchte ungewollt Nacktbilder von sich im Netz sehen.
Die Frage nach dem Ja oder Nein – soll ich oder soll ich nicht – ist deswegen aber nicht weniger präsent. Das Smartphone gehört inzwischen so zum Alltag, dass auch die Möglichkeiten, Intimität zu leben, genutzt werden: vom Gute-Nacht-Gruß an den Partner, dem Ändern des Beziehungsstatus bei Facebook, dem "sexy Selfie" an den Flirt oder der digitalen Affäre von Anna.
Autorin: "Und wie ging es dann weiter?"
Anna: "Wie haben kurze explizite Video-Sequenzen verschickt."
Autorin: "Du hast von Hemmungen geschrieben: Was für Hemmungen hattest du denn?"
Anna: "Also unsere Bilder und Videos waren in einen Dirty-Talk-Chat eingebunden. Das hat sich ganz langsam entwickelt. So wie man vom Quatschen auf der Couch ins Knutschen ins Fummeln gerät. Nur eben digital. Und wie beim echten Rummachen auch gibt es diesen kurzen Moment des Peinlich-berührt-Seins wenn man plötzlich nackt vor einem Anderen liegt. Es kommt der Punkt, wo dir das richtige Licht und der richtige Winkel egal sind, sondern du einfach nur Nähe über das Video oder die Bilder herstellen willst."
Anna aus dem Chat ist über dreißig und damit in einem Alter, in dem sie für sich die Risiken von Sexting abwägen kann. Sie weiß um den Reiz, Tabus zu brechen, aber kennt auch ihre Grenzen. Anderen fehlt diese Erfahrung. Ganz einfach, weil sie jünger sind.
Gesa Stückmann: "So, einen schönen guten Morgen in die Runde aus Rostock von der Ostseeküste. Mein Name ist Gesa Stückmann und ich bin Rechtsanwältin von Beruf. Das ist auch eigentlich immer noch mein Hauptjob. Neben meinem Job als Anwältin bin ich aber mittlerweile seit zehn Jahren an Schulen unterwegs. Mein Thema ist Recht im Internet und bei der Handynutzung."
Die Möglichkeit, viele Menschen zeitgleich zu erreichen, macht sich Gesa Stückmann zunutze: Sie streamt aus ihrem Büro in Rostock in mehrere Klassen deutschlandweit. Heute sehen und hören sie Siebt- und Achtklässler aus drei verschiedenen Schulen, unter anderem die Schüler vom August-Ruf-Bildungszentrum im baden-württembergischen Ettenheim.
Die Luft ist stickig, in mehreren Stuhlreihen sitzen knapp 60 Schüler vor der Leinwand, auf der das Gesicht von Gesa Stückmann zu sehen ist. Das Licht des Beamers lässt die digitale Projektion ihrer blauen Augen leuchten, am linken Ohr trägt sie ein Headset. Auch die Anwältin erzählt die Geschichte von Amanda Todd, aber vor allem berichtet sie aus ihrer Berufspraxis.
Gesa Stückmann: "Als Beispiel für all diese Fälle ein Fall aus Stralsund hier in Mecklenburg Vorpommern. Da verliebte sich eine 13-jährige Schülerin in einen Jungen und wollte den auf sich aufmerksam machen. Und was hat sie gemacht? Wie viele andere auch? Sie hat sich selbst nackt gefilmt bei der Selbstbefriedigung und ihm das Video geschickt. Und was hat er gemacht? Wie es auch immer passiert? Er hat es weitergeschickt."
Während in Kampagnen gegen Cybermobbing oft die Opfer und die psychischen Folgen im Vordergrund stehen, klärt Gesa Stückmann auf: Wer Nacktbilder weiterleitet, macht sich strafbar.
Gesa Stückmann: "Die Kriminalpolizei, die hat sich alle Handy geben lassen, wo sie gesehen haben – der hats dem geschickt, der wieder der, die wieder dem – die Handys darf die Polizei übrigens behalten, die muss sie nicht zurückgeben – und aus der ersten Strafanzeige wurden 81 Strafanzeigen, für jeden der es irgendwie weitergeschickt hat."
Es gibt viel Gekicher während des Vortrags der Anwältin. Teilweise nicken sich die Schüler auch zustimmend zu. Auf die Frage, wem schon einmal Nacktbilder weitergeleitet wurden, meldet sich in der Klasse niemand. Aber die meisten hier sind auch erst 13. Gehört haben sie trotzdem schon davon.

Schätzungsweise 15 Prozent der Jugendlichen haben Erfahrungen mit Sexting

Schülerin Marlene, 12: "Es kam auch schon mal so in unserem Kreis von unseren Freunden so vor, dass auch jemand von seiner Cousine so ein Bild bekommen hat und die sind jetzt auch im Internet und ich hab aber sie zum Glück nicht bekommen."
Schüler Joshua, 14: "Wenn ich so ein Bild bekommen würde, also ein Nacktbild von nem Mitschüler oder ner Mitschülerin würde ich zuerst mal 'n Screenshot machen, auch von der Nummer."
Schüler, Dennis, 14: "Ich würde zuallererst, wenn es ne Mitschülerin wäre, das einem Lehrer zeigen, damit der Lehrerin auf jeden Fall mit den Eltern spricht. Ich würd's es auf keinen Fall jemand anders schicken, aber ich würde es auch nicht direkt löschen wegen Beweisen oder so was."
Schülerin, Sabrina, 12: "Und halt auch zur Sozialarbeiterin gehen und mit ihr darüber sprechen und vielleicht mit dieser Person drüber reden, wieso, dass sie dieses Bild weitergeleitet hat."
So schnell, wie sich die Fotos verbreiten, machen auch die Geschichten über die Abgebildeten die Runde. Sie sind entblößt - vor Fremden, Bekannten, ihren Freunden und Verwandten. In solchen Fällen wird die vernetzte Welt zum globalen Dorf.
Gesa Stückmann: "Der Fall in Stralsund hat noch ne Besonderheit. Das Mädchen, das sich da nackt gefilmt hat, war 13. Mit 13 gilt man im Strafrecht noch als Kind und sie hat sich bei der Selbstbefriedigung gefilmt, also bei sexuellen Handlungen. Und jeder, der es weitergeschickt hat, hat im Grunde Kinderpornografie verbreitet. Darauf stehen drei Monate bis zu fünf Jahre Gefängnis ohne Alternative einer Geldstrafe."
Das Beispiel von Anwältin Gesa Stückmann zeigt die gefährliche Spannweite des Themas: Was als jugendliches Experiment verschickt und gedankenlos weitergeleitet wurde, fällt im Netz schnell Kriminellen die Hände. Ein schlimmerer Missbrauch ist kaum denkbar.
Gesa Stückmann: "Egal, wie lange die Beziehung dauert, egal wie verliebt man ist, grundsätzlich mache ich so was gar nicht heute. Weder verschicke ich Nacktfotos, Unterwäschefotos, noch mache ich solche Sachen vor der Webcam. Und nur so könnt ihr euch wirklich effektiv vor sowas schützen."
Als Anwältin hat Gesa Stückmann vor allem den Missbrauch von Sexting im Blick. Die Sexualwissenschaftlerin Urszula Martyniuk schaut aus einer anderen Perspektive darauf.
Ursula Martyniuk: "Das Internet wird, ob man es will oder nicht, längst von Jugendlichen als sexueller Erfahrungsraum genutzt. Das hat auch außer den Gefahren und Risiken – Vorteile. Zum Einen kann man sich ausprobieren, indem man zum Beispiel sich auf intime Kommunikation einlässt, die eigene Selbstdarstellung, dazu gehören auch die Nacktbilder, ausprobiert und guckt, wie man auf andere wirkt, wie man so eine sexuelle Kommunikation anfängt, wie man sie lenkt und steuert und auch wie man sie beendet."
Dazu kommt: Gegenüber den 15 Prozent der Jugendlichen, die Erfahrungen mit Sexting gemacht haben, hat der Großteil noch kein Interesse daran. Erst mit zunehmendem Alter werde die Gruppe größer.
Ursula Martyniuk: "Das ist auch etwas, was wir einerseits von den jungen Menschen erwarten, dass sie in Ihrer Pubertät Sachen ausprobieren, sich auf sexuelle Kommunikation, aufs Flirten, auf Beziehungen einlassen und absurderweise wird das häufig in der öffentlichen Debatte vorgeschlagen, genau das zu verbieten. Und das geht nicht zusammen."
Daniel: "Ich hatte mal Whatsapp Sex mit einer Frau, die ich über Tinder Plus gematched habe. Nachdem sie mir eine Menge interessanter Bilder geschickt hat, bekam sie ein Bild von meinem Penis."
Aus einem Facebook-Chat mit Daniel, 33.
Autorin: "Hast du öfter per Whatsapp Sex? Hattest du sie danach gefragt?"
Daniel: "Eher selten im Vergleich zu richtigem. Ich hab nach Bildern gefragt. Erst kamen normale. Erst das Gesicht, aber so dass man sehen konnte dass sie, zumindest oben rum nichts an hat. Ein Bild aus der Badewanne. Dann ein Bild wie sie breitbeinig sitzt auf dem nur ihre Oberschenkel und ihr Slip zusehen waren. Das nächste war dann ohne Slip."
Autorin: "Und ist das nicht komisch, so was Intimes mit jemandem auszutauschen - und zu erleben - den man nicht kennt?"
Daniel: "Ich finde berühren auch immer superer. Aber ist mal was anderes Interessantes, Aufregendes…"
Autorin: "Hast du die Bilder noch? Wenn ja: würdest du sie löschen, wenn sie dich drum bittet?"
Daniel: "Ja, hab die Bilder noch. Wenn sie mich bittet, ja."
Ankommen im Frieda Frauenzentrum. Die Wände des Büros von Beate Köhler sind in einem hellen Grün gestrichen, auf dem Tisch steht eine rote Nelke, zum Frauentag. Hoffnung und Emanzipation sind die Schlüsselbegriffe der Anti-Stalking-Beratung im Berliner Frieda-Beratungszentrum für Frauen.
"Die meisten Frauen, die dann kommen, entweder es ist gerade passiert, die haben den Screenshot aus dem Drucker gezogen und sind hierher gedüst und wenn es schon länger ist, dann sind sie meistens schon krank geschrieben über einen längeren Zeitrahmen. Dann sitzen meistens schon mit ner Depression oder ner posttraumatischen Belastungsstörung da.", sagt Beate Köhler. Achtzig Prozent aller Stalking Opfer sind Frauen. Meist werden sie von Ex-Partnern verfolgt und dabei oft mit Nacktbildern unter Druck gesetzt.
Beate Köhler: "Die sagen auch teilweise: Ich wache nachts auf und sehe dieses Bild. Oder ich wache morgens auf und sehe dieses Bild oder ich sehe das Bild in meinen Träumen."
Beim Stalking und Mobbing geht es um Macht: Nacktbilder werden dabei instrumentalisiert und als "Waffe” benutzt. Das Schlimme am Missbrauch aber ist der Vertrauensbruch. Dass ein Foto, das im Kontext einer intimen Beziehung entstand, plötzlich sichtbar ist für die Eltern, Freunde oder jeden im Netz. Für die Betroffenen ist das nicht nur extrem beschämend, sondern bedeutet den Kontrollverlust über die eigene Intimsphäre. Das Perfide daran: Oftmals geben sich die Opfer selbst die Schuld.
Beate Köhler: "Und das ist so ein ganz großer Punkt der Arbeit, die ich auch mache. Zu sagen: Nein, du bist nicht schuld. Und die Schuldfrage ist immer wieder ein Thema und es gibt ja auch dieses Victim Blaming. Also man suggeriert den Opfern, du bist ja selber schuld. Das stimmt aber nicht. Du hast ein Recht auf Intimität und kein anderer hat eigentlich das Recht, also diesen Freiraum dir einzuschränken."
Beate Köhler berichtet von einer Frau, die deshalb selbst Nacktbilder von sich online stellte. So wie die junge Dänin Emma Holten, die 2015 deshalb weltweit bekannt wurde. Ein Unbekannter hatte ihr Postfach gehackt und dort Nacktbilder gefunden. In einem Video erzählt sie von der Erniedrigung, unter der sie litt:
Aus dem Video von Emma Holten: "Nicht einvernehmliche Pornografie ist eine verheerende Erfahrung. Ich habe E-Mails bekommen, in denen stand: Wissen deine Eltern, dass du eine Schlampe bist?"
Emma erhielt Mails aus der ganzen Welt, alle von Männern. Den meisten war klar, dass die Bilder gegen ihren Willen veröffentlicht worden sind.
Emma Holten: "Das war der Wendepunkt, an dem mir klar wurde, dass es nicht nur um mich ging. Es geht um Hass gegen Frauen. Es gab da eine Pornoseite, auf der durchgängig Bilder gepostet wurden, immer ohne Einwilligung der abgebildeten Frauen. Viele Leute sagten, dass diese Frauen die Bilder gar nicht erst hätten machen sollen. Dass unser Benehmen das Problem ist. Aber man beendet den Frauenhass nicht, indem man ihre Rechte einschränkt, sich im Privaten auszuleben."
Um sich nicht mehr fremdbestimmt und wie ein Objekt zu fühlen, stellte Emma Holten selbst Nacktbilder von sich ins Netz.
Emma Holten: "Die Zustimmung ist entscheidend. Ich habe das getan. So wie Vergewaltigung und Sex nichts miteinander zu tun haben, sind Bilder, die mit oder ohne Einverständnis geteilt wurde, komplett unterschiedliche Dinge."
Neunzig Prozent der Betroffenen von nicht einvernehmlicher Pornografie sind Frauen und Mädchen. Für die Sexualwissenschaftlerin Urszula Martyniuk ist es ein wesentlicher Unterschied, ob Nacktbilder von Jungen oder Mädchen veröffentlicht worden sind.
Urszula Martyniuk: "Und tatsächlich höre ich auch häufiger von Fällen, wo Mädchen betroffen waren, wo sie dann die Schule gewechselt haben oder von den anderen abgestoßen wurden. Wenn ein Foto von einem Jungen auf diese illegale Art und Weise verbreitet wird, passiert das selten, aber auch. .. Ja, da sind wir tatsächlich bei dem Bild der weiblichen Sexualität in der Gesellschaft angekommen. Und der Anforderung einerseits reizend, sexy zu sein und auf der anderen Seite aber nicht zu sehr."
"Das ist diese Grenzverletzung, die da passiert und das ist das Ding, das es anders macht und das ist auch wieder der Punkt, auf den wir immer wieder zurückkommen müssen. Wenn ich das freiwillig mache und wenn ich das in Ordnung finde, dann ist es okay."
Sagt Beate Köhler. Ihre Stalking-Beratung gibt es erst seit zwei Jahren. Sie muss sich ständig mit den digitalen Medien und technischen Neuerungen auseinandersetzen, zum Beispiel mit neuen Plattformen oder Apps, über die Bilder verbreitet werden können. Aber sie stellt auch fest, dass sich die Zusammenarbeit mit der Polizei verbessert hat und inzwischen schneller gehandelt wird.
Beate Köhler: "Also, ich würde sagen: Mädels, wenns gute Fotos sind und es kriegt nur eine oder einer: Ist es in Ordnung. Und wenn was Dummes passiert, dann ganz schnell handeln und ganz schnell schauen, dass man das ein Stück weit Schadensbegrenzung macht, aber nicht jedem misstrauen, weil es ist ja nicht jeder stellt ja Nacktfotos von einem ins Netz. Und wenn wir keine Beziehungen mehr haben, dann sind wir ja arm."
"Es war halt Valentinstag und mein Ex-Freund, der war mal ganz lange im Krankenhaus und hat daraufhin so eine kleine Fantasie entwickelt, dass er mal irgendwann was mit einer Krankenschwester haben, also gern haben wollte."
Aus einem WhatsApp-Chat mit Myriam, 28.
"Und dann hab ich ihm zum Valentinstag, hab ich mir halt so ein richtig so ein slutty Krankenschwesteroutfit besorgt, richtig mit so einer kleinen Haube mit so einem roten Kreuz drauf und so durchsichtig und so und Strapsen und allem. Also es sah ganz furchtbar aus, aber war irgendwie ganz witzig und hab mir das halt angezogen und ja, er hat sich auch tierisch drüber gefreut und dann hatten wir halt Spaß in diesem Kostüm und einen Teil des Spaßes hat er dann halt aufgezeichnet.
Das Problem ist, er hat das Video dann auch behalten, das war auch okay, weil wir hatten eine Fernbeziehung und er konnte das dann halt benutzen, wenn ich nicht da war. Das Problem war aber, dass blöderweise kurz nachdem diese Aufzeichnung erfolgt sind, sein Laptop geklaut wurde mit diesem Video halt drauf. Es kann jetzt natürlich sein, dass irgendwo ein Video mit mir in diesem Krankenschwesteroutfit. Ja. Naja."
Dresden, Hygienemuseum. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Cornelia Wagner führt durch die Ausstellung "Scham. 100 Gründe rot zu werden". Ein Video zeigt die Aktionskünstlerin und Feministin Valie Export, die sich in den 70er Jahren mit einem Kasten vor der Brust in die Fußgängerzone stellt.
Cornelia Wagner: "...und ankündigt, hier kann man meine Brüste berühren. Die sich quasi auch durch diese Prozedur ihres Körpers ermächtigt."
Jan Kalbitzer: "Das ist doch gerade erst wiederholt worden? Also diese Aktion von einer Künstlerin, ich glaube vor einem Jahr oder so war das und das war, wenn man sich die Videos anguckt, sieht das ziemlich genau gleich aus, die Reaktionen der Männer."
Mit dabei ist Jan Kalbitzer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Gründer des Zentrums für Internet und seelische Gesundheit in der Berliner Charité. Für ihn gibt es noch einen weiteren Grund, dass Schamgrenzen von anderen so oft überschritten werden.
Jan Kalbitzer: "Ich glaube, dass ein großes Problem unserer Sexualität und Nacktheit eher ist, dass sie unser Schamgefühl seit Jahrzehnten genutzt wird, um uns zu Werbezwecken zu reizen. Und wir deswegen eine Überreizung haben und auch eine gewisse Abstumpfung. Wenn sie uns selbst nicht betrifft. Das heißt, wenn man ein Nacktbild von einer Person hat, die er nicht so gut kennt, die ihm nicht so viel bedeutet, wird er es relativ leichtfertig teilen."
Dennoch, auch Jan Kalbitzer ist der Ansicht: Missbrauch sollte kein Grund sein, Sexting zu verbieten.
Jan Kalbitzer: "Ich glaube, das ist so das wichtigste in Bezug auf das Internet, die Überzeugung, dass wir diejenigen sind, die handeln und dass wir uns nicht ausgeliefert fühlen. Das ist etwas, was ich Menschen die Angst haben oder die wütend sind oder überwältigt werden vom Internet immer versuche beizubringen und zu sagen: Wie kann ich das Gefühl zurückgewinnen, dass ich die Person bin, die da handelt und nicht die Person bin, die ausgeliefert ist."
Durch das Dunkel des Ausstellungsraumes bewegen wir uns zu einem sogenannten "Medientisch". Cornelia Wagner drückt auf eine der Blasen, die auf dem Bildschirm schweben. Es ploppt eine Flugroute und die Geschichte von Justine Sacco auf.
Cornelia Wagner: "Das ist eine US-amerikanische PR-Mangerin, die kurz vor ihrem Urlaub einen Tweet absendet: "Going to Africa, hope I dont get AIDS. Just kidding. I'm white." Also hochgradig unbedacht, auch rassistisch."
Während ihres elfstündiges Flugs von London nach Kapstadt verbreitet sich der Tweet rasend schnell, zusammen mit dem Hashtag #HasJustineLandedYet - ist Justin schon gelandet? Als sie ankommt, hat sie ihre Arbeit verloren und viele ihrer Freunde.
Cornelia Wagner: "Und hier an diesem Beispiel von Justine Sacco werden irgendwie so die Dimensionen so klar. Die Auswirkungen, die Beschämung haben kann im digitalen Zeitalter."
Für Justin Sacco hatte dieser eine unüberlegte, rassistische Tweet Einfluss auf ihr ganzes Leben. Sie wurde von Tausenden angegriffen und beschimpft, für etwas, was sie freiwillig veröffentlicht hat. An dem Shitstorm gegen sie zeigt sich, wo wir uns gerade am stärksten entblößen und die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem am meisten verschwimmen: Auf unseren "privaten” Profilen in den sozialen Medien. Dort, wo wir Likes, Herzchen und Smileys verteilen und mit eigenen Fotos und Statements um Aufmerksamkeit buhlen.
Sie sind dafür gemacht, dem Blick der anderen ausgesetzt zu werden, die Schamprobe zu bestehen und nicht durchzufallen wie Justin Sacco.
"Alles Private spielt sich heute potentiell in der Öffentlichkeit ab und ist damit potentiell für den Konsum durch diese verfügbar; und bleibt auch weiterhin verfügbar, bis zum Ende der Zeit",
schrieb der Soziologe Zygmunt Bauman. Geben wir zu viel von uns preis? "Für immer nackt?” Ja, aber nicht in intimen Eins-zu-Eins-Chats, in denen wir einer anderen Person Nacktbilder anvertrauen. Dort ist der Kontext intim und schließt die Öffentlichkeit aus. Nackt machen wir uns für die Aufmerksamkeit, noch dazu in kommerziellen Räumen.
Der Blick, der der Scham so nah steht - in den sozialen Medien ziehen wir ihn schamlos auf uns.
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