"Wer eingewiesen wird, das regeln die Gesetze"

Niels Pörksen im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 19.02.2010
Niels Pörksen, ehemaliger Leiter der Psychiatrie Bielefeld Bethel, hat den Trend kritisiert, psychisch Kranke gegen ihren Willen in Kliniken einzuweisen. Trotz verbesserter Behandlungsmöglichkeiten sei die Bereitschaft, jemanden zwangseinzuweisen, deutlich größer geworden.
Klaus Pokatzky: Im Studio in Bielefeld begrüße ich nun den Psychiater Niels Pörksen. Guten Tag, Herr Pörksen!

Niels Pörksen: Ja, guten Tag, Herr Pokatzky!

Pokatzky: Herr Pörksen, Sie waren früher Chefarzt an den Von-Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, und Sie sind Verfasser von Standardwerken zur Zwangseinweisung. Müssen nach dem Satz, dass das Vorliegen einer Behinderung in keinem Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertigt, der ja nun auch deutsches Recht ist, müssen da nun die Zwangseinweisungen in die Psychiatrie nicht abgeschafft werden?

Pörksen: Also nach den geltenden Rechten, sowohl den Psychisch-Kranken-Gesetzen, die es in einzelnen Bundesländern gibt, wie nach dem bürgerlichen Gesetzbuch, der ja auch die Fragen der Patientenverfügung und Ähnliches geregelt hat, gab es auch schon vorher keine rechtliche Grundlage, jemanden gegen seinen Willen einzuweisen oder zu behandeln aufgrund einer Behinderung, aufgrund einer psychischen Krankheit oder auch aufgrund einer dringenden psychiatrischen Behandlungsbedürftigkeit.

Pokatzky: Wer wird denn dann gegen seinen Willen überhaupt eingewiesen? Diese Fälle, 230.000 Fälle, es gibt welche, die dann mehrfach im Jahr eingewiesen werden, sodass es sich also um 200.000 Menschen handelt.

Pörksen: Wer eingewiesen wird, das regeln die Gesetze. Und zwar, man darf nur wegen einer Selbst- oder Fremdgefährdung, also zur Gefahrenabwehr, zwangsweise in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden.

Also wenn ich unmittelbar jemanden bedrohe aufgrund einer Krankheit, dann besteht das Recht, aufgrund ärztlicher Gutachten und mit richterlicher Genehmigung oder richterlichem Beschluss, in eine Klinik eingewiesen zu werden.

Das wird leider in der Praxis nicht immer so präzise eingehalten, die Selbsthilfeverbände haben natürlich recht, wenn sie darauf bestehen, dass man ausschließlich zur Gefahrenabwehr, und zwar zur unmittelbaren Gefahrenabwehr, eingewiesen werden kann. Ansonsten hat jeder Mensch, ob behindert oder nicht behindert, ja das Recht auf Selbstschädigung und Nichtbehandlung.

Pokatzky: Es gibt Sprecher der Patientenverbände, die sagen, nur zehn Prozent von diesen 230.000 Fällen oder 200.000 Menschen im Jahr 2008 seien gerechtfertigt gewesen, das wären dann knapp 20.000, würden Sie soweit gehen und dieser Zahl zustimmen?

Pörksen: Das kann ich so genau nicht sagen, aber ich kann als Leiter einer großen psychiatrischen Klinik hier in Bethel, ohne Weiteres sagen, dass wir genau aus diesen Gründen, schon Mitte der 90er-Jahre Behandlungsvereinbarungen mit Patienten getroffen haben, die immer wieder gekommen sind, und zwar immer wieder gegen ihren Willen, zwangsweise eingewiesen worden sind, weil sie in der Stadt auffällig geworden sind, weil sie aggressiv geworden sind, weil sie sich selbst gefährdet haben.

Und diese Behandlungsvereinbarung haben wir genau mit dem Ziel, mit den Patienten nach Abklingen ihrer akuten Krise getroffen, um die Voraussetzungen für Vertrauensbildung zu machen, mit dem Ziel, dass sie dann, wenn sie wieder in eine Krise kommen, nicht mehr so in Angst und Horror vor der Psychiatrie leben, nicht mehr in Angst vor der Polizei sind. Sondern dann in der Lage sind, auch in akuten Krisen freiwillig zu kommen. Das hat hier in Bielefeld zu einer enormen Entlastung geführt.

Pokatzky: Wie hat sich das denn dann praktisch ausgewirkt, also ich bin jetzt psychisch krank, ich habe mit Ihnen diese Vereinbarung getroffen, wie lautete die genau?

Pörksen: Also die Behandlungsvereinbarung ist ein verbindlicher Vertrag zwischen Patient und psychiatrischer Klinik, mit ihr wird in krisenfreien Zeiten eine detaillierte Absprache für mögliche kommende Krisenzeiten vorgenommen. Entwickelt wurde die hier in der psychiatrischen Klinik und im Moment, ich habe gerade heute Morgen noch mal nachgefragt, sind etwa 300 Behandlungsvereinbarungen abgeschlossen, und das führt in der konkreten Situation dazu, dass in der Regel die Patienten freiwillig aufgenommen werden. Selbst dann, wenn sie in schweren, akuten psychotischen Krisen sind.

Pokatzky: Die gelten dann also nicht als Zwangseinweisung.

Pörksen: Es sei denn, sie sind akut fremdgefährdet zum Beispiel, und lehnen dann die Einweisung ab. Dann kann es natürlich sein, dass ein Arzt und ein Richter sagen, hier muss eine Einweisung zur Gefahrenabwehr vorgenommen werden, aber nicht zur Behandlung einer dringend behandlungsbedürftigen Erkrankung.

Pokatzky: Könnten Sie sich denn vorstellen, dass eine solche Behandlungsvereinbarung zur gesetzlichen Pflicht gemacht wird, und dann dazu beitragen könnte, dass wir weniger Zwangseinweisungen haben.

Pörksen: Also es hat in Rheinland-Pfalz den Versuch gegeben vom dortigen Gesundheits- und Sozialministerium, das verbindlich in die psychiatrischen Kliniken zu integrieren. Das ist nicht überall so gelungen, das ist natürlich auch viel Arbeit, man muss sich mit den Patienten hinsetzen, mit Vertrauenspersonen für die Patienten, man muss darum werben, um gegenseitiges Vertrauen.

Man braucht dazu auch andere Strukturen, wie hier gibt es sogenannte Trialogforen, die in Bielefeld regelmäßig stattfinden, also Angehörige, Psychiatrie-Erfahrene und Profis setzen sich regelmäßig zusammen, reden über mögliche Verbesserungen in der Kooperation, in dem Ernstnehmen. Die selbst erfahrene Frau aus Sachsen hat ja sehr deutlich gemacht, das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, auch mit absurden Wünschen.

Also in Behandlungsvereinbarungen kann drinstehen, wenn ich mit der Polizei gebracht werde, dann möchte ich trotzdem freiwillig aufgenommen werden, möchte aber ein heißes Bad nehmen, möchte zwei Liter warme Milch trinken, auch wenn es nachts um drei ist und, und, und. Also Sie können Vereinbarungen treffen, die klingen sehr absurd und junge Ärzte müssen dann sehr mühsam lernen, dass man sich auf solche Wünsche einstellen kann. Und wenn man das dann tut, dann merken die Patienten, ich werde ernst genommen, meine Wünsche werden hier wahrgenommen und auch realisiert, selbst dann, wenn sie im Nachhinein sagen, das war ja ein bisschen idiotisch, was ich da gewollt habe.

Pokatzky: Ich spreche mit dem Psychiater Niels Pörksen in Bielefeld über die Folgen für die Psychiatrie bei uns, durch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Wenn wir dann jetzt wieder zu den Zwangseinweisungen kommen, die also eben ja bedeuten, ich werde nicht wegen meiner Behinderung eingewiesen, sondern, weil ich eine Gefahr für mich selber oder für andere bin, warum hat sich denn die Zahl in 15 Jahren verdoppelt?

Pörksen: Das kann ich Ihnen sagen, das hängt zum Teil damit zusammen, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen viel mehr innerhalb der Gesellschaft leben als früher, früher waren ja viele Menschen langfristig in Krankenhäusern und Anstalten untergebracht und die sogenannten Enthospitalisierungsfolgen sind die, dass die Menschen jetzt innerhalb der Gesellschaft leben. Und das Zweite ist, dass die Sensibilität und die Angst vor der Andersartigkeit leider zu oft dazu führt, jemanden, der sich absurd und abartig verhält, gleich als Gefahr zu erleben.

Objektiv haben sich die Krankheiten nicht verändert, objektiv haben sich auch die – im Gegenteil, die Behandlungsbedürftigen sagen ja auch, die Psychiatrie-Erfahrenen, die Behandlungsmöglichkeiten haben sich deutlich verbessert, trotzdem ist die Bereitschaft, jemanden aufgrund seines Verhaltens zwangseinzuweisen, sehr viel größer geworden, das muss man leider feststellen. Nach meiner Einschätzung müssen da sowohl die Richter, wie die Psychiater sehr viel sorgfältiger mit den Kriterien umgehen.

Pokatzky: Wird denn genug getan überhaupt, für etwa die Fortbildung der Richter, die dann ja im Verfahren, nachdem ein Arzt ein Gutachten erstellt hat, dann entscheiden müssen, die Richter, auf Zwangseinweisung.

Pörksen: Ja, man muss die Richterfortbildung ... Wir haben hier sehr intensive Zusammenarbeit mit der Polizei, auch mit Fortbildung, und Ausbildung, und Rollenspielen und Ähnlichem gemacht. Die Zusammenarbeit mit der Polizei, das war vor einiger Zeit bei der 20-Jahr-Feier des Krisendienstes hier in der Stadt Bielefeld erkennbar, hat gesagt, wenn wir nicht soviel, nicht jetzt wüssten, wie wir mit diesen Menschen umgehen, dann würden wir noch viel häufiger Zwangseinweisungen provozieren. Ich kann einfühlend und annehmend oder konfrontierend mit einem Menschen in der Krise umgehen, und dann eskaliert er vielleicht.

Pokatzky: Ich bedanke mich bei Niels Pörksen, dem Psychiater in Bielefeld.