Wer gefragt wird, wendet sich nicht ab
Bislang gibt es Volksabstimmungen nur in Kommunen und Ländern. Doch die Zeit ist reif für Referenden auch auf Bundesebene. Das Volk entscheidet weder klüger noch dümmer als die Volksvertreter.
Stuttgart 21 hat die politische Kultur gewandelt. Erstmals gingen nicht die üblichen Verdächtigen auf die Straße: Studenten, Alternative und Autonome. Nein, es war der Querschnitt der Gesellschaft, der rief: Stopp, so geht’s nicht weiter. Viele Bürger hatten es satt, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Sie stellten die Souveränitätsfrage: Wer hat hier im Land das Sagen?
Damit haben sie eine Debatte angeschoben, die jetzt Früchte trägt. Wie können die Bürger zukünftig an politischen Entscheidungen beteiligt werden? Dabei ist entscheidend, ob die Bürger nur beratend per Anhörung oder auch verbindlich per Volksentscheid beteiligt werden.
Gerade Landespolitiker überlegen sich seit Stuttgart 21 sehr genau, wie sie ihre Großprojekte politisch legitimieren. Mit oder ohne Bürger? Und welcher ist der schnellere Weg? Im Fall Stuttgart 21 hätte man die Bürger zu Beginn des Prozesses vor 18 Jahren fragen können, ob überhaupt ein Bahnhofsneubau angestrebt werden sollte. Bei einem "Ja" hätten im zweiten Schritt Bürgerforen, Planungszellen, Bürger und Politiker gemeinsam Entwürfe für das "Wie" des Umbaus erarbeiten können. Diese wären dann im dritten Schritt per Volksabstimmung diskutiert und entschieden worden. Auf diesem Wege wäre die Bürgerbeteiligung von Anfang an gewährleistet gewesen – und der Bahnhof vermutlich schon in Betrieb.
Wenn heute manche Politiker sagen, sie wollten künftig eher moderieren als entscheiden, dann haben sie schon einiges verstanden.
Doch was ist mit den wahren Großprojekten – ESM, Fiskalpakt, Staatsschuldenkrise? Wie viele Bürger sind hier an den Entscheidungsprozessen beteiligt? Wie viele der gewählten Volksvertreter im Parlament sind überhaupt noch an diesen großen Entscheidungen beteiligt? Immer mehr wird heute von immer weniger Menschen entschieden. Je größer und umfangreicher eine Entscheidung, desto eher wird sie in die Entscheidungsmacht weniger Personen gestellt. Ein fatales Demokratiedefizit. Demokratie ist doch, wenn alle entscheiden, was alle betrifft.
Es geht auch anders, das zeigen unsere Nachbarländer. Wieso durften die Italiener über Atomausstieg, die Franzosen über die europäische Verfassung und die Dänen über den Euro abstimmen – und wir nicht? Wieso ist Deutschland das einzige Land in der EU, das noch keine nationale Volksabstimmung erlebt hat?
Die Basis der Demokratie ist das Vertrauen in den Menschen, den Bürger, den Souverän. Alle Menschen sind gleich, und jeder hat eine Stimme. In unserem Grundgesetz steht verankert, das alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und in Wahlen und in Abstimmungen ausgeübt wird. Wählen dürfen wir, alle vier Jahre. Aber nur noch sechs Prozent der Wähler glauben, durch Wahlen direkten Einfluss auf die Politik nehmen zu können. Aber über 70 Prozent der Wähler sprechen sich für die Einführung von Volksabstimmungen aus. Doch dieses Abstimmungsrecht ist uns bis heute verwehrt.
Welche Angst ist es, die eine Zweidrittelmehrheit für eine Grundgesetzänderung, für die Einführung von Volksabstimmungen verhindert? Muss in einer Demokratie der Bürger vor sich selbst geschützt werden? Von wem? Und wenn das so wäre: Wer schützt ihn bei Wahlen vor sich selbst?
Wer Angst vor "falschen" Entscheidungen des Volkes hat, ist auf dem Holzweg. Jedenfalls in einer Demokratie. Denn wer urteilt über "richtig" oder "falsch"? Die Mehrheitsmeinung ist im Zweifel immer die annehmbarere, vorausgesetzt, sie verstößt nicht gegen das Grundgesetz. Darauf haben wir uns in diesem Land verständigt. Bislang.
Regional und lokal gibt es diese Mitbestimmung längst. Und blickt man auf diese über 5000 Bürgerbegehren in den Gemeinden oder die 270 landesweiten Volksbegehren, dann sollte die Angst dem Vertrauen weichen. Das Volk entscheidet weder klüger noch dümmer als die Volksvertreter.
Wutbürger gefährden weniger die Demokratie als Bürger, die sich abwenden. Und wer gefragt wird, wendet sich nicht ab. Das hat Stuttgart 21 bewiesen.
Claudine Nierth, geboren 1967, ist die Bundesvorstandssprecherin der Initiative "Mehr Demokratie!". Nach einem Kunststudium und mehrjähriger Bühnentätigkeit verlagerte sie ihren Schwerpunkt in die künstlerische Gestaltung sozialer Prozesse. Sie ist Privatdozentin in Hamburg und Mitglied der Aufbaugruppe des "Netzwerk Bürgerbeteiligung".
Damit haben sie eine Debatte angeschoben, die jetzt Früchte trägt. Wie können die Bürger zukünftig an politischen Entscheidungen beteiligt werden? Dabei ist entscheidend, ob die Bürger nur beratend per Anhörung oder auch verbindlich per Volksentscheid beteiligt werden.
Gerade Landespolitiker überlegen sich seit Stuttgart 21 sehr genau, wie sie ihre Großprojekte politisch legitimieren. Mit oder ohne Bürger? Und welcher ist der schnellere Weg? Im Fall Stuttgart 21 hätte man die Bürger zu Beginn des Prozesses vor 18 Jahren fragen können, ob überhaupt ein Bahnhofsneubau angestrebt werden sollte. Bei einem "Ja" hätten im zweiten Schritt Bürgerforen, Planungszellen, Bürger und Politiker gemeinsam Entwürfe für das "Wie" des Umbaus erarbeiten können. Diese wären dann im dritten Schritt per Volksabstimmung diskutiert und entschieden worden. Auf diesem Wege wäre die Bürgerbeteiligung von Anfang an gewährleistet gewesen – und der Bahnhof vermutlich schon in Betrieb.
Wenn heute manche Politiker sagen, sie wollten künftig eher moderieren als entscheiden, dann haben sie schon einiges verstanden.
Doch was ist mit den wahren Großprojekten – ESM, Fiskalpakt, Staatsschuldenkrise? Wie viele Bürger sind hier an den Entscheidungsprozessen beteiligt? Wie viele der gewählten Volksvertreter im Parlament sind überhaupt noch an diesen großen Entscheidungen beteiligt? Immer mehr wird heute von immer weniger Menschen entschieden. Je größer und umfangreicher eine Entscheidung, desto eher wird sie in die Entscheidungsmacht weniger Personen gestellt. Ein fatales Demokratiedefizit. Demokratie ist doch, wenn alle entscheiden, was alle betrifft.
Es geht auch anders, das zeigen unsere Nachbarländer. Wieso durften die Italiener über Atomausstieg, die Franzosen über die europäische Verfassung und die Dänen über den Euro abstimmen – und wir nicht? Wieso ist Deutschland das einzige Land in der EU, das noch keine nationale Volksabstimmung erlebt hat?
Die Basis der Demokratie ist das Vertrauen in den Menschen, den Bürger, den Souverän. Alle Menschen sind gleich, und jeder hat eine Stimme. In unserem Grundgesetz steht verankert, das alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und in Wahlen und in Abstimmungen ausgeübt wird. Wählen dürfen wir, alle vier Jahre. Aber nur noch sechs Prozent der Wähler glauben, durch Wahlen direkten Einfluss auf die Politik nehmen zu können. Aber über 70 Prozent der Wähler sprechen sich für die Einführung von Volksabstimmungen aus. Doch dieses Abstimmungsrecht ist uns bis heute verwehrt.
Welche Angst ist es, die eine Zweidrittelmehrheit für eine Grundgesetzänderung, für die Einführung von Volksabstimmungen verhindert? Muss in einer Demokratie der Bürger vor sich selbst geschützt werden? Von wem? Und wenn das so wäre: Wer schützt ihn bei Wahlen vor sich selbst?
Wer Angst vor "falschen" Entscheidungen des Volkes hat, ist auf dem Holzweg. Jedenfalls in einer Demokratie. Denn wer urteilt über "richtig" oder "falsch"? Die Mehrheitsmeinung ist im Zweifel immer die annehmbarere, vorausgesetzt, sie verstößt nicht gegen das Grundgesetz. Darauf haben wir uns in diesem Land verständigt. Bislang.
Regional und lokal gibt es diese Mitbestimmung längst. Und blickt man auf diese über 5000 Bürgerbegehren in den Gemeinden oder die 270 landesweiten Volksbegehren, dann sollte die Angst dem Vertrauen weichen. Das Volk entscheidet weder klüger noch dümmer als die Volksvertreter.
Wutbürger gefährden weniger die Demokratie als Bürger, die sich abwenden. Und wer gefragt wird, wendet sich nicht ab. Das hat Stuttgart 21 bewiesen.
Claudine Nierth, geboren 1967, ist die Bundesvorstandssprecherin der Initiative "Mehr Demokratie!". Nach einem Kunststudium und mehrjähriger Bühnentätigkeit verlagerte sie ihren Schwerpunkt in die künstlerische Gestaltung sozialer Prozesse. Sie ist Privatdozentin in Hamburg und Mitglied der Aufbaugruppe des "Netzwerk Bürgerbeteiligung".