"Wer keine Heimat hat, findet zwischen den Zeilen einen Platz zum Leben ..."

Von Volkhard App |
Während der NS-Zeit wurden Millionen Bücher aus jüdischem Privatbesitz geraubt. Sie fanden sich später zum Teil in öffentlichen Bibliotheken wieder. Bibliothekare formulierten 2002 den "Hannoverschen Appell", solche Bücher den rechtmäßigen Besitzern zurückzugeben. Das Symposium zieht nun in Hannover Bilanz.
Das jüdische Leben ist von der Schrift durchdrungen, sie beherbergt die Menschen, ist ihnen Zuflucht, betont die Philosophin Liliana Ruth Feierstein aus Buenos Aires. Im Exil stieg der Hunger nach Büchern nur noch: "Wer keine Heimat hat, findet zwischen den Zeilen einen Platz zum Leben", sagte Theodor W. Adorno.

Selbst in Auschwitz-Birkenau zirkulierten Bücher. Zur Tagung gehört eine Ausstellung: Dort stehen vier einfache Holzkisten. In ihnen verfrachteten die Nazis zu Beginn der vierziger Jahre Bände, die sie in Frankreich und den Niederlanden aus jüdischen und freimaurerischen Bibliotheken geraubt hatten. Besonders der "Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg" machte sich bei den europaweiten Raubzügen einen Namen. Im Reich konkurrierten verschiedene NS-Stellen und große Bibliotheken um die üppige Beute.

In Deutschland begann die Beschlagnahme jüdischer Sammlungen schon 1933, erreichte im Zuge der Pogromnacht einen Höhepunkt, und dann waren es die Bücher der Deportierten, die den Nazis in die Hände fielen. Sehr unterschiedlich sind die Schicksale all dieser Bibliotheken: So wurden 1939 die Bestände der Großen Synagoge in Warschau nach Berlin verschleppt - von diesen 50.000 Büchern kehrte nur ein Bruchteil nach Polen zurück. Ganz anders die enteigneten Bücher der jüdischen Gemeinde in Hamburg: Teile dieser Bibliothek konnten nach abenteuerlichem Weg früh aus der DDR zurückgeholt werden. Ein Einzelfall.

Ralf Dose von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft fahndet mühsam nach einzelnen Stücken, die im Besitz des Berliner Instituts für Sexualwissenschaft waren, das 1933 von den Nazis geschlossen und geplündert wurde:

" Das gehört zum kulturellen Erbe der deutschen Geschichte - und der Homosexuellenbewegung in Deutschland. Und es gehört in die Frühgeschichte der deutschen Sexualwissenschaft: Hirschfeld war einer ihrer Mitbegründer und hat diesem Fach ein Institut gegeben und damit auch die erste Fachbibliothek geschaffen - die dann geplündert wurde."

Auf osteuropäische Bibliotheken ist die Historikerin Patricia K. Grimstedt spezialisiert, sie spürt unermüdlich dem Verbleib geraubter Bücher nach. Die schon etwas ältere Dame wird liebevoll "Miss Marple" genannt.

Bei der hannoverschen Tagung rückt auch das Täterprofil ins
Blickfeld: zum Beispiel das Paul Heigls, der 1938 nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich Generaldirektor der dortigen Nationalbibliothek wurde. Gern nahm er das Raubgut entgegen: aus Wien selbst, aber auch mal 6000 Bände des verbotenen Belgrader Geca Kon-Verlags.

Christina Köstner, die in einer Projektgruppe der Wiener Nationalbibliothek mitarbeitet: " Er war Antisemit, hat sich zwar gegen gewisse 'Raffketypen' gewandt, wie er sie nannte, aber seine eigenen Erwerbungen nicht als unrechtmäßig eingestuft."

Tausende der dort untersuchten Bücher sollen aus Raubzügen stammen. Die Bibliotheken sind gefordert, wenn es um die Bestimmung und Rückführung dieser Bücher geht. Vor zweieinhalb Jahren hatte das 1. Hannoversche Symposium einen Appell an die Einrichtungen gerichtet.

In manche Institution ist längst Bewegung gekommen: So gab die Staatsbibliothek zu Berlin Musikalien zurück, die damals in Paris aus dem persönlichen Bestand Artur Rubinsteins entwendet wurden - und restituiert demnächst die Bibliothek Leo Baecks. Der Deutsche Bibliotheksverband hat im letzten Sommer an 600 Mitglieder Fragebogen verschickt, um zu erfahren, wieweit die Provenienzforschung gediehen ist. Veronica Albrink hat diese Aktion ausgewertet:

" Die Fragebogenaktion hat gezeigt, dass sich viele Bibliotheken um die Raubgutsuche kümmern, mehr Bibliotheken noch sich damit aber nicht beschäftigen. Etliche Bibliotheken haben ja auch gar nicht geantwortet - und die, die geantwortet haben und nicht nach Raubgut suchen, geben mangelnde Personal- und Finanzressourcen als Gründe an."

Wie also steht es wirklich um die Provenienzforschung und die Rückführung? Klaus-Dieter Lehmann, Präsident der "Stiftung Preußischer Kulturbesitz", über die Folgen des Appells:

" Man muss feststellen, dieser Appell vor zweieinhalb Jahren hat erst einmal Bewusstsein geschaffen. Insofern war das ein Beginn. Man muss aber gleichzeitig sagen, dass wir nicht zufrieden sein können. Die angestoßenen Projekte sind immer noch in einer abstrakten Form, das heißt, man beschäftigt sich mit dem Thema, man denkt über Aktivitäten nach, aber eine wirkliche Aufarbeitung in den Magazinen, im Depot mit entsprechenden Findbüchern, die sind meines Erachtens noch zu steigern. Da muss sich ein Bewusstsein bei den Bibliotheken entwickeln, so dass man eine echte Arbeit leistet."

Die geraubten Bücher lassen sich oft nur schwer bestimmen, die Recherchen sind kostenintensiv, und die dann gefundenen Bände haben nicht immer einen großen Wert.

Lehmann: " Man darf es nicht nur an den materiellen Werten messen, das ist ein entscheidender Punkt. Darin besteht der Unterschied zu Museen, wo es oft um spektakuläre Kunstwerke geht. Es ist wichtig, dass Bibliotheken, die selber Teil des Systems waren, in diesen Fällen über ihre Vergangenheit Bescheid wissen."

Viel Arbeit steht den Einrichtungen noch bevor; aber die Begegnung mit der Geschichte dieser Bücher lässt Bibliothekare nicht unbeeindruckt - glaubt Georg Ruppelt, Direktor der hannoverschen Gottfried Wilhelm Leibniz
Bibliothek:

" Und ich darf Ihnen sagen, wenn Sie ein Buch in der Hand haben, von dem nachgewiesen ist, dass es einer ermordeten Kollegin gehörte, dann sehen Sie die Dinge noch mit anderen Augen und mit anderem Herzen, als wenn Sie bloß eine abstrakte Schrift darüber lesen."

Service:

Das Zweite Hannoversche Symposium "Jüdischer Buchbesitz als Raubgut" findet am 10. und 11. Mai 2005 statt. Es ist eine gemeinsame Veranstaltung der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, Niedersächsische Landesbibliothek und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Links:

Zweites Hannoversches Symposium "Jüdischer Buchbesitz als Raubgut"

Deutsches Historisches Museum: "Legalisierter Raub"
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