Wer nicht draufhaut, ist selber schuld
Beim Streit um Grass und Israel kann jeder mitreden, der eine geschärfte Feder und einen in alle Richtungen witternden moralischen Spürsinn hat. Für "das Feuilleton" hat diese Art der Berichterstattung schwere Folgen. Es gerät in eine Schieflage, meint Sieglinde Geisel.
Seit einer geschlagenen Woche schon befindet sich das deutsche Feuilleton in Aufruhr. Doch worüber? Geht es um die Gefahr, dass Israel den Iran angreifen könnte? Oder um die Drohung des Iran, den Staat Israel auszulöschen? Geht es um die potenziellen Atomwaffen des Iran oder um das real existierende Atomwaffenarsenal Israels?
I wo, das interessiert doch keinen! Was uns in Erregung versetzt, sind ganz andere Fragen. Ist Günter Grass ein Antisemit? Ist seine unbewältigte SS-Vergangenheit der Motor hinter seinen Auslassungen über die Möglichkeit eines israelischen "Erstschlags"? Soll Günter Grass sagen dürfen, was er meinte sagen zu müssen, obwohl - oder gerade weil? - es nicht gesagt werden durfte?
Grob formuliert, heißt das, dass es nicht mehr um die Frage geht: für oder gegen das Recht Israels auf einen Angriffskrieg, sondern um die Frage: für oder gegen Grass. Grass gibt sich gekränkt, doch das ist so verlogen wie die ganze Debatte. Grass gehört zu jener Generation von Schriftstellern, die bei Bedarf gern die Rolle des "Gewissens der Nation" übernahmen und denen die moralische Aufmerksamkeit des ganzen Landes sicher war.
Doch solche Jobs werden heute nicht mehr vergeben. Wenn man dann auch noch ein paar Jahre kein Buch veröffentlicht hat, wird es still um den früher mit Aufmerksamkeit so Verwöhnten, eine Stille, über die auch der Nobelpreis letztlich nicht hinwegzutrösten vermag. Mit alternden Großschriftstellern ist es daher wie mit Kindern: lieber ausgeschimpft werden, als ohne Beachtung zu bleiben.
Das flüchtige Gut der öffentlichen Aufmerksamkeit jedoch ist in einer Mediengesellschaft nicht durch Tiefsinn oder mittels ausgereifter Analysen zu erringen. Die einzig verlässliche Strategie besteht in der Erregung öffentlichen Ärgernisses, am besten mit der deutschen Vergangenheit als Lunte. Hätte zum Beispiel Thilo Sarrazin ein differenziertes, intelligentes Buch über die Eingliederung von Migranten in die deutsche Gegenwart geschrieben - kein Hahn hätte danach gekräht.
Wer nicht draufhaut, ist selber schuld. Mitte März ist in der FAZ von David Grossman ein kluger Text zur Lage Israels angesichts der iranischen Bedrohung erschienen, ohne dass seine Warnung vor einem israelischen Angriffskrieg irgendwelche Wellen geschlagen hätte. Sein beklemmender Bericht tritt erst jetzt zaghaft ins öffentliche Bewusstsein, ironischerweise im Kielwasser der Affäre Grass.
Das liegt daran, dass die Triebfedern dieser regelmäßig wiederkehrenden Feuilletondebatten nicht Argumente und das Ringen um Erkenntnis sind, sondern Entrüstung und Eitelkeit. Das Schöne an der Steilvorlage von Grass ist die Chancengleichheit: Jeder kann mitreden, ohne sich den Mühen der diffizilen Materie auszusetzen; mit einer geschärften Feder und einem in alle Richtungen witternden moralischen Spürsinn ist man schon dabei.
Die Skandalisierung des Feuilletons läuft dabei jedes Mal nach den gleichen Prinzipien ab: Die Angst, zu spät zu sein und die Berauschung an der Entrüstung schaffen eine künstliche Konkurrenz unter den Medien, die den Blick auf den Gegenstand vollständig vernebelt. Irgendwann kommen dann alle wieder zur Besinnung und versinken in den vorhersehbaren Katzenjammer - dann ist die Zeit reif für Texte wie diesen hier.
Doch was für Folgen hat dieser Hang zum Quartalsrausch für jenen geistigen Raum, den man gern etwas pauschal als "das Feuilleton" bezeichnet? Er gerät in Schieflage. Denn wenn das Feuilleton sich von der Lust an der Entrüstung leiten lässt, wiegen Äußerungen, angesichts deren Dummheit man sich die Haare raufen möchte, schwerer als Texte, die ihr Gewicht aus dem beziehen, was sie zu sagen haben.
Ein Feuilleton allerdings, das langfristig in der Gesellschaft als Ort des Nachdenkens eine Rolle spielen will, muss wieder eine Gravitationskraft für das Wichtige entwickeln. Sonst schafft es sich selbst ab.
Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti geboren, studierte in Zürich Germanistik und Theologie. Als Journalistin zog sie 1988 nach Berlin-Kreuzberg. Nach dem Mauerfall schrieb sie Porträts über die Metropolen Ostmitteleuropas und lebte vorübergehend in Lublin (Polen). Für die Neue Züricher Zeitung war sie in New York vier Jahre lang Kulturkorrespondentin und ist es derzeit in Berlin. 2010 erschien in ihr Buch "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille".
I wo, das interessiert doch keinen! Was uns in Erregung versetzt, sind ganz andere Fragen. Ist Günter Grass ein Antisemit? Ist seine unbewältigte SS-Vergangenheit der Motor hinter seinen Auslassungen über die Möglichkeit eines israelischen "Erstschlags"? Soll Günter Grass sagen dürfen, was er meinte sagen zu müssen, obwohl - oder gerade weil? - es nicht gesagt werden durfte?
Grob formuliert, heißt das, dass es nicht mehr um die Frage geht: für oder gegen das Recht Israels auf einen Angriffskrieg, sondern um die Frage: für oder gegen Grass. Grass gibt sich gekränkt, doch das ist so verlogen wie die ganze Debatte. Grass gehört zu jener Generation von Schriftstellern, die bei Bedarf gern die Rolle des "Gewissens der Nation" übernahmen und denen die moralische Aufmerksamkeit des ganzen Landes sicher war.
Doch solche Jobs werden heute nicht mehr vergeben. Wenn man dann auch noch ein paar Jahre kein Buch veröffentlicht hat, wird es still um den früher mit Aufmerksamkeit so Verwöhnten, eine Stille, über die auch der Nobelpreis letztlich nicht hinwegzutrösten vermag. Mit alternden Großschriftstellern ist es daher wie mit Kindern: lieber ausgeschimpft werden, als ohne Beachtung zu bleiben.
Das flüchtige Gut der öffentlichen Aufmerksamkeit jedoch ist in einer Mediengesellschaft nicht durch Tiefsinn oder mittels ausgereifter Analysen zu erringen. Die einzig verlässliche Strategie besteht in der Erregung öffentlichen Ärgernisses, am besten mit der deutschen Vergangenheit als Lunte. Hätte zum Beispiel Thilo Sarrazin ein differenziertes, intelligentes Buch über die Eingliederung von Migranten in die deutsche Gegenwart geschrieben - kein Hahn hätte danach gekräht.
Wer nicht draufhaut, ist selber schuld. Mitte März ist in der FAZ von David Grossman ein kluger Text zur Lage Israels angesichts der iranischen Bedrohung erschienen, ohne dass seine Warnung vor einem israelischen Angriffskrieg irgendwelche Wellen geschlagen hätte. Sein beklemmender Bericht tritt erst jetzt zaghaft ins öffentliche Bewusstsein, ironischerweise im Kielwasser der Affäre Grass.
Das liegt daran, dass die Triebfedern dieser regelmäßig wiederkehrenden Feuilletondebatten nicht Argumente und das Ringen um Erkenntnis sind, sondern Entrüstung und Eitelkeit. Das Schöne an der Steilvorlage von Grass ist die Chancengleichheit: Jeder kann mitreden, ohne sich den Mühen der diffizilen Materie auszusetzen; mit einer geschärften Feder und einem in alle Richtungen witternden moralischen Spürsinn ist man schon dabei.
Die Skandalisierung des Feuilletons läuft dabei jedes Mal nach den gleichen Prinzipien ab: Die Angst, zu spät zu sein und die Berauschung an der Entrüstung schaffen eine künstliche Konkurrenz unter den Medien, die den Blick auf den Gegenstand vollständig vernebelt. Irgendwann kommen dann alle wieder zur Besinnung und versinken in den vorhersehbaren Katzenjammer - dann ist die Zeit reif für Texte wie diesen hier.
Doch was für Folgen hat dieser Hang zum Quartalsrausch für jenen geistigen Raum, den man gern etwas pauschal als "das Feuilleton" bezeichnet? Er gerät in Schieflage. Denn wenn das Feuilleton sich von der Lust an der Entrüstung leiten lässt, wiegen Äußerungen, angesichts deren Dummheit man sich die Haare raufen möchte, schwerer als Texte, die ihr Gewicht aus dem beziehen, was sie zu sagen haben.
Ein Feuilleton allerdings, das langfristig in der Gesellschaft als Ort des Nachdenkens eine Rolle spielen will, muss wieder eine Gravitationskraft für das Wichtige entwickeln. Sonst schafft es sich selbst ab.
Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti geboren, studierte in Zürich Germanistik und Theologie. Als Journalistin zog sie 1988 nach Berlin-Kreuzberg. Nach dem Mauerfall schrieb sie Porträts über die Metropolen Ostmitteleuropas und lebte vorübergehend in Lublin (Polen). Für die Neue Züricher Zeitung war sie in New York vier Jahre lang Kulturkorrespondentin und ist es derzeit in Berlin. 2010 erschien in ihr Buch "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille".