Peter Sloterdijk: "Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre"

Leben in der Grauzone

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Auf dem Cover ist eine diesige Berglandschaft zu sehen, darauf Autorenname und Buchtitel.
© Suhrkamp Verlag

Peter Sloterdijk

Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre. Suhrkamp, Berlin 2022

286 Seiten

28,00 Euro

Von Meike Feßmann |
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Brillant in den Details, polemisch in der Gegenwartsdiagnose, legt Peter Sloterdijk ein spekulatives Alterswerk vor. „Wer noch kein Grau gedacht hat“ erkundet die Kulturgeschichte der Farbe Grau und wie sich schwindender Elan zur Lebenskunst wandeln kann.
Sie ist die Farbe des Trübsinns, der Indifferenz und der Neutralität, und auch wenn sie gelegentlich als elegant gilt, gibt es außer unter Architektinnen und Designern wenige echte Fans der Farbe Grau. Sie gilt als „unbunte“ Mischung aus Schwarz und Weiß, unterscheidbar nur durch den Helligkeitsanteil.
Wenn sich der philosophische Meister der „Vertikalspannung“, der Stimmungsaufhellung durch Training und Übung, als der Peter Sloterdijk seit seiner Selbstüberforderungs-Fibel „Du musst dein Leben ändern“ gelten darf, der Farbe Grau widmet, dann steckt mehr dahinter als „eine Farbenlehre“.
„Solange man das Grau nicht gedacht hat, ist man kein Philosoph“, fordert er seine Zunft heraus, in bewusster Analogie zu einer Formulierung Paul Cézannes: „Solange man nicht ein Grau gemalt hat, ist man kein Maler.“
Es sind die besonderen Grautöne der Provence, mit leichtem Farbanteil von Blau und Grün, auf die es der französische Maler abgesehen hatte. Peter Sloterdijk, der am 26. Juni seinen 75. Geburtstag feiert, hat neben seinem Berliner Wohnsitz einen zweiten in der Provence. Es ist durchaus denkbar, dass der Auslöser seiner Studie ein Farberlebnis war.

Ein Alterswerk sui generis

Allerdings macht er etwas ganz anderes daraus. „Wer noch kein Grau gedacht hat“ ist eine Meditation über das Existieren in der „Grauzone“, in der Sphäre minimaler Unterschiede und hauchfeiner Nuancen. Es ist ein Alterswerk sui generis, das unter dem Deckmantel einer weit ausgreifenden Kulturgeschichte dem schwindenden Elan nachforscht und gegen die gesellschaftlichen Zuschreibungen polemisiert, denen sich der Philosoph als Gattungswesen ausgesetzt sieht.
Die zugegebenermaßen unschöne Kampfformel „alter weißer Mann“ fällt nicht. Doch sie schimmert ex negativo durch die polemischen Passagen des Buches hindurch, etwa wenn von der „juvenilen Woke-Ideologie“ die Rede ist, von „passiv aggressiven Spielarten des Feminismus“ oder gar von den „United Colors of Everything“.

Platons Höhlengleichnis als Ausgangspunkt

Die Schatten in Platons Höhlengleichnis werden zum Ausgangspunkt einer philosophischen Erkundung des Farbtons. Aus Hegels Rechtsphilosophie präpariert er den Zusammenhang von Staat und „Grauen“ heraus, der im historischen Schnelldurchlauf zu Exkursen über die moderne Bürokratie und deren unheilvolle Rolle in den Vernichtungsmaschinerien des 20. Jahrhunderts führt.
Nietzsche und Heidegger schlägt er den positiven Aspekten der Grautonerkundung zu. Das Unscheinbare, das Alltägliche, das Übersehene kommen mit Heidegger in den Blick, aus dessen Werk er den Neologismus „Ge-gräu“ abstrahiert. Nietzsche ließ sich im Gebirge um Sils-Maria von den anorganischen Aspekten des Graus faszinieren und formte daran seinen Stil.  

Nicht frei von Ressentiments

Peter Sloterdijk ist seit Längerem auf der Suche nach einem „elastischen Konservativismus“, wie er das in „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ nannte. Seine politischen Einlassungen sind streitbar. Seine großen philosophischen Werke, insbesondere „Kritik der zynischen Vernunft“ und die „Sphären“-Trilogie, weisen ihn als einen Denker aus, der sich eine gewisse Überheblichkeit leisten kann. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.
Seine „Phänomenologie des Grau“ ist nicht frei von Ressentiments, aber immer wieder so brillant in den Details, dass poetische Begrifflichkeit zum Präzisionsinstrument wird.
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