Werden wir zur Maschine?

Vom menschlichen Uhrwerk zum Cyborg

08:58 Minuten
Androide mit teils roboterartigen, teils menschlichen Körpern.
Werden wir bald zur kollektiven Maschine? Das glauben manche Tech-Propheten. In der Philosophie hat das Nachdenken über Mensch-Maschinen Tradition. © imago / StockTrek Images / Mark Stevenson
Von Constantin Hühn |
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Immer mehr sind wir von smarten Maschinen umgeben – um nicht den Anschluss zu verlieren, müssen wir uns selbst den Maschinen angleichen, fordern manche Tech-Vordenker. Werden wir bald zur kollektiven Maschine? Oder sind wir es längst?
Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten auf einer Baustelle und wollen einen Bohrhammer benutzen – aber der schaltet sich plötzlich aus. Stattdessen informiert der Bohrhammer die künstliche Intelligenz in der Cloud und die anderen Werkzeuge, dass Ihnen die nötige Sicherheitsfreigabe fehlt, und ruft Ihre Kolleginnen herbei, damit die das Problem lösen: "Jede Person, jedes Werkzeug, jede Maschine nimmt gleichwertig einen Platz als Gegenstand ein; über die ganze Baustelle verteilte KI-Geräte sorgen dafür, dass jeder Gegenstand für 'das System erkennbar' ist."

Auf dem Weg zum Maschinen-Kollektiv?

So beschreibt die US-amerikanische Soziologin Shoshana Zuboff 2018 in ihrem Essay "Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus" die Baustelle der Zukunft, wie sie derzeit die großen Tech-Konzerne erträumen.
Die Baustelle steht dabei natürlich nur beispielhaft für eine Durchdringung aller möglichen Lebensbereiche durch smarte und vernetzte Maschinen, die unser Verhalten kontrollieren.
Zuboff sieht in solchen Vorstellungen eine "umfassende neue Vision von Maschinenbeziehungen als Schablone für die gesellschaftlichen Beziehungen". Eingebunden in solch ein maschinelles Kollektiv würden wir selbst zu "Mensch-Maschine-Symbionten", so zitiert Zuboff den amerikanischen Daten- und Sozialwissenschaftler Alex Pentland – der diese Entwicklung als Berater der Tech-Konzerne aktiv befördert.
In einem Vortrag spricht Pentland davon, die Anpassung an eine Welt voller KI erfordere die Neuerfindung des Menschen als "Human AI" – menschliche KI.

Gerichtsprozesse gegen Kirchenglocken

Werden wir also bald selbst zu einer kollektiven Maschine? Oder Maschinen zumindest zu einem gleichrangigen Teil unseres Zusammenlebens? Auf den ersten Blick greift diese Vision eine sehr alte Sichtweise auf: Denn die längste Zeit wurde gar nicht so scharf zwischen Menschen und Maschinen unterschieden, wie wir es heute gewohnt sind. So sind aus dem Mittelalter beispielsweise Gerichtsprozesse gegen ‚Maschinen‘ überliefert: Etwa gegen Kirchenglocken, die im Verteidigungsfall nicht geläutet hatten.

Reihe "Wer ist Wir? Von Menschen und Anderen"
"Wir", wer ist das eigentlich – wie eng oder weit fassen wir diese kollektive Selbstbezeichnung? Und gehören nur Menschen dazu oder auch andere Wesen? In Sein und Streit begeben wir uns diesen Sommer im Rahmen der Denkfabrik 2021 auf die "Suche nach dem Wir" – und finden es in Tiermetaphern, Maschinenträumen, SciFi-Welten und dem "Gaia-Prinzip":

11. Juli: Tier, Maschine oder Ebenbild Gottes? "Unsere Grenzen zu anderen Wesen sind offen" Gespräch mit Thomas Macho
11. Juli: Welches Tier sind wir? "Wenn folgsame Schafe auf machthungrige Schweine treffen" Von Florian Werner
18. Juli: Werden wir zur Maschine? Vom Aufzieh-Apparat zum Cyborg Von Constantin Hühn
25. Juli: Das Wir in der Science Fiction - Sternenflotte oder Borg-Kollektiv? Von Christian Berndt
1. August: Sind wir ein Planet? Gaia-Theorie: Mit ganzheitlichem Denken gegen die Klimakrise Von Niklas Angebauer

Die heute geläufige Unterscheidung zwischen Organismus und Mechanismus, die scharfe Abgrenzung von belebter und unbelebter Materie setzt sich erst in der Neuzeit langsam durch – genau in dem Moment, als sich neue, selbsttätige Maschinen entwickeln, wie aufziehbare Automaten.

Die Seele als Algorithmus

Allerdings wird diese neue Grenze auch weiterhin gern überschritten – man denke nur an die anhaltende Faszination mit Mischwesen wie Golems oder Androiden. Und die Philosophie bestimmt das Verhältnis von Mensch und Maschine immer wieder neu. Während Descartes im 17. Jahrhundert den Körper von Tieren wie Menschen zur Maschine erklärt, grenzt er die menschliche Seele ausdrücklich davon ab. Für Leibniz hingegen – den Begründer des binären Codes und damit unserer heutigen Computer – ist die Seele später selbst ein "immaterieller Automat", eine Art Algorithmus also.
Illustration von Jacques de Vaucanson mit seiner Erfindung, dem Trommler.
Der französische Erfinder Jacques de Vaucanson mit seinem Trommler-Automaten - Inspiration für den Aufklärer La Mettrie.© imago / Leemage
Und der französische Arzt und Aufklärer Julien Offray de La Mettrie hebt die Unterscheidung von Körper und Geist völlig auf, indem er den Menschen in seiner Gänze zum "homme-machine" erklärt, der funktioniert wie ein Uhrwerk: "Ziehen wir also kühn den Schluss, dass der Mensch eine Maschine ist und dass es im ganzen Weltall nur eine Substanz gibt, die freilich verschieden modifiziert ist."

Von der Fabrik zur Gesellschaftsmaschine

Der Beginn der Industrialisierung schließlich unterläuft die Mensch-Maschinen-Unterscheidung auf ganz handfeste Weise: Die neuen dampf- oder strombetriebenen Ungetüme in den Fabriken verdrängen die Arbeitenden als treibende Kraft des Arbeitsprozesses, wie Karl Marx beobachtet: "In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine."
Entscheidend ist nun nicht mehr, ob Menschen Maschinen sind, sondern dass sie dazu gemacht werden. So wird der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault später beschreiben, wie ausgeklügelte Disziplinartechniken die Arbeitenden im 19. Jahrhundert zu "Maschinen-Individuen" formen. Auf die Spitze getrieben wird das im frühen 20. Jahrhundert von dem Ingenieur Frederick Taylor. Dessen "Scientific Management" versucht, Arbeiter auf maximal effiziente Bewegungsabläufe zu programmieren. Und in Henry Fords Autofabriken verschmelzen Arbeitende und Fließband zu einer übergeordneten Gesamtmaschine.
Arbeiter an einem Fließband bei der Montage des Model T von Ford in den USA.
Arbeiter an einem Fließband bei der Montage des Model T von Ford in den USA: eine kollektive Maschine?© imago / Kharbine Tapabor
Aber auch die Gesellschaft insgesamt wird zunehmend als Maschine betrachtet, deren Effizienz gesteigert werden muss. Etwa von Strömungen wie dem "Social Engineering", das – wie der Name schon sagt – gesellschaftliche Zusammenhänge im Stile eines Ingenieurs planen und optimieren will.
Ihre Zuspitzung erfährt diese Vision vielleicht in der stalinistischen Sowjetunion, mit ihrem Traum eines vollends rationalisierten, harmonisch aufeinander abgestimmten Kollektivs. George Orwell hat dafür in seinem Roman "1984" bestechende Bilder gefunden: graue Massen im Gleichschritt vor dem "Teleschirm".

Mit dem Computer gegen Big Brother

Als Gegenmittel zu solchen totalitären Gesellschaftsvisionen erscheint in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann ausgerechnet eine neue Art von Rechenmaschine: "On January 24th, Apple Computer will introduce Macintosh. And you’ll see why 1984 won’t be like ‘1984’." In einem Werbespot von 1983 präsentiert der Apple-Konzern seinen neuen Macintosh-Computer als Vorschlaghammer gegen Big Brother und die Dystopie einer gesteuerten Gesellschaft: Mit den neuen, handlichen Rechenmaschinen soll sich das Individuum gegen seine eigene totale ‚Maschinisierung‘ zur Wehr setzen.
Heute allerdings sind es gerade die smarten und tragbaren Nachfahren dieser Personal Computer, die laut Shoshana Zuboff uns selbst zu Maschinen machen und unsere aufgeklärte Individualität zu untergraben drohen: "Vor einem Jahrhundert waren es Massenproduktion und Fabriken, die die Massengesellschaft nach ihrem Ebenbild formten. Heute hält der Überwachungskapitalismus ein neues Muster für unsere Zukunft parat: den Maschinenschwarm, in dem unsere Freiheit um des Profits anderer Leute willen dem totalen Wissen geopfert wird."
Von den vormodernen ‚Brückenschlägen‘ zwischen Mensch und Maschine hebt dieser ‚Schwarm’ sich dabei ebenso ab, wie vom Maschinen-Moloch des Industriezeitalters: Stets hilfsbereit, positiv, minimalinvasiv dienen sich unsere neuen Maschinen-Coworker als Unterstützung an – und werden doch immer mehr selbst zur Kraft, die uns Menschen antreibt, als verlängerter Arm einer datenhungrigen Tech-Industrie.

Freundliche Maschinen und feministische Cyborgs

Die Warnungen Zuboffs vor einer Fremdbestimmung durch smarte Maschinen und Profitinteressen sind also sicher berechtigt – allerdings sollten wir darüber nicht das emanzipatorische Potential aus dem Blick verlieren, das mit einer ‚Maschinenwerdung’ der Menschen verbunden sein könnte. Und das nicht erst heute, etwa bei den "Cyborgs" der feministischen Philosophin Donna Haraway.
Auch der Aufklärer La Mettrie erhoffte sich von der Einebnung der Grenze zwischen Mensch und Maschine gerade einen respektvolleren Umgang mit dessen Umwelt: "Da schließlich der Materialist (…) überzeugt ist, daß er nur eine Maschine, oder ein Thier ist, so wird er seines Gleichen nicht übel behandeln; ist er ja (…) nicht Willens (...) an Anderen zu verüben, was er an sich nicht verübt sehen möchte."
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