Werner Herzog: "Das Dämmern der Welt"
Hanser Verlag, München 2021
127 Seiten, 19 Euro
Abenteurer des Lebens
05:25 Minuten
Werner Herzog sucht in "Das Dämmern der Welt" wieder einmal die Extreme: Anhand der Biografie eines japanischen Soldaten erzählt er vom Herzschlag des Dschungels, einer metaphysischen Transformation und der Suche nach einer ekstatischen Wirklichkeit.
"Viele Details stimmen, viele nicht. Dem Autor kam es auf etwas anderes an, auf etwas Wesentliches (…)". So beginnt Werner Herzog seinen Roman "Das Dämmern der Welt" und steckt damit gleich zu Beginn des Buches seinen verführerisch unglaubwürdigen Erzählrahmen ab. Denn nichts interessiert den bayerischen Regisseur in seinem Leben weniger als Fakten.
Herzog geht es immer um einen archaisch-sinnlichen Zugang zur Welt. Die subjektive Erfahrung zählt in seinen Filmen und Schriften immer mehr als nachweisbare Tatsachen. Er nennt diese Lebensphilosphie die Suche nach der "ekstatischen Wahrheit". Dieser Suche fügt er jetzt mit "Das Dämmern der Welt" ein weiteres faszinierendes Kapitel hinzu.
Ein namenloser Ich-Erzähler, der recht unschwer als Werner Herzog identifizierbar ist, schildert zunächst, wie er in Japan eine traditionelle Oper inszenieren will und in diesem Zuge ein Treffen mit dem japanischen Kaiser angeboten bekommt. Dieses Treffen lehnt der Erzähler, zum Schock aller Anwesenden, ab und verlangt stattdessen ein Treffen mit einem anderen Mann: dem ehemaligen Soldaten Leutnant Hirō Onoda. Dessen Geschichte steht im Mittelpunkt von "Das Dämmern der Welt".
Erfüllt vom Guerillakampf
Hirō Onoda (1922–2014) war ein japanischer Nachrichtenoffizier, der während des Zweiten Weltkriegs die geheime Anordnung bekam, im Dschungel der philippinischen Insel Lubang Sabotageakte zu verüben, um so die vorrückenden alliierten Truppen zu stören. Eine Aufgabe, die Onoda mit einem fanatischen Ernst erfüllte. Er war so erfüllt von diesem Guerillakampf, dass er das Ende des Krieges nicht mitbekam und so bis 1974 (!) im Dschungel ausharrte.
Herzog erzählt das Ausharren Onodas in kurzen tagebuchartigen Kapiteln, die sich verstärkt den Seelenzuständen Onodas und seiner Weggefährten annähert. Auch wenn die Form des Tagebuchs vielleicht eine gewisse objektive Chronologie der biografischen Ereignisse suggeriert, dominiert ein stark subjektiver Zugang zum Denken und Seelenleben der Protagonisten. Herzog beschreibt eindringlich, wie langsam das extreme Leben im Dschungel Onoda ein anderes Zeitgefühl aufdrängt.
Metaphysischer Transformationsprozess
Langsam mutiert die wilde Natur zum wahren Rhythmusgeber des Soldaten, sie bestimmt seinen Alltag, drängt ihm eine andere Wahrnehmung auf. So wurde Onoda für die philippinischen Bewohner Lubangs zu einem wahren Dämon, der durch die Wälder geistert, der immer wieder Bauern und Soldaten angreift und Nahrungsmittel und Munition stiehlt. Dabei blieb er selbst stets unsichtbar. Herzog beschreibt diesen metaphysischen Transformationsprozess so:
"Er wird zum Mythos. Für die Einheimischen ist er der Geist im Wald, von ihm wird nur im Flüsterton gesprochen. Für die philippinische Armee, die seiner nicht habhaft werden kann, ist er eine dauernde Erinnerung an die Unfähigkeit, aber zugleich sprechen die Truppen von ihm auch mit der Zuneigung, die man einem Maskottchen zukommen lässt."
Ewiger, innerer Kriegszustand
Es ist nicht schwer zu erkennen, was den Extrem-Filmemacher Werner Herzog an diesem ewigen inneren Kriegszustand fasziniert: Der Dschungel, die Abgeschiedenheit, die mitunter exzentrische Hingabe an einen ungeschriebenen Ehrenkodex; all das sind Elemente, die Herzogs Werks durchziehen und den Geist seiner Figuren prägen.
Der Soldat Onoda ist in seiner entrückten Welteroberung ein Bruder im Geiste des Opernliebhabers Brian Sweeney Fitzgerald, der im Urwald eine Oper bauen wollte, oder des Konquistadors Lope de Aguirre, der gegen den Wahnsinn im Amazonas ankämpfte. Sie alle sind letztlich Abenteurer des Lebens, mit denen Werner Herzog sich selbst die dämmernden Zustände der Welt aneignet.
In seiner literarischen Auseinandersetzung mit Onodas Biografie beweist Werner Herzog sich auch als präziser und lakonischer Autor. Insbesondere seine effektiven Beschreibungen der Flora und Fauna des philippinischen Dschungels können überzeugen. Herzog macht den Herzschlag der Wildnis erfahrbar, direkt und hautnah. Er gewährt uns so einen Blick in eine andere, eine ekstatische Wirklichkeit.