Werte

Kann Gerechtigkeit sich rechnen?

Von Martin Tschechne |
Kann sich Gerechtigkeit rechnen? Was ist zum Beispiel die Rendite von Kunst und Kultur? Der Publizist Martin Tschechne warnt: Wer nur kaufmännisch denkt und handelt, verliert leicht die Essenz der Gemeinschaft aus den Augen: ihre Werte, ihre Identität, ihre Kultur.
Es geht um eine Formel, die ein bisschen zu mächtig geworden ist. Sie lautet: Es soll sich rechnen. Und weil das so wunderbar eingängig und plausibel klingt, führt so gut wie jeder die Formel im Mund und lässt sich von ihr leiten. Genau deshalb aber ist Vorsicht geboten. Längst beherrscht die Forderung viel zu viele Entscheidungen im politischen Alltag. Als gäbe es keine anderen Ziele und Maßstäbe als: Es soll sich rechnen.
Richard von Weizsäcker hat sich seinerzeit sehr um diese Perspektive verdient gemacht. Nein, sagte der damalige Bundespräsident zu Beginn der Neunzigerjahre: Geld für die Kultur sei keine Subvention, also keine milde Gabe - es sei eine Investition. In Werte, in Bildung, in Gemeinschaft. Damit prägte er ein griffiges Motto für alle kulturpolitischen Debatten: "Investition statt Subvention". Selbst der größte Zweifler und Zahlengläubige konnte sich dem anschließen. Die aktuelle Große Koalition schrieb es sogar in ihren gemeinsamen Vertrag.
Nun ist eine Investition eine Leistung, für die sich der Gebende eine Gegenleistung ausrechnet, möglichst eine mit Gewinn. Aber welche Gegenleistung wird einer erwarten, der einen wesentlichen Teil seines Haushaltes investiert in die Förderung des Sinfonieorchesters oder des Stadttheaters? Stockhausen etwa? Die Klassiker, mal gegen den Strich gebürstet? Wohl eher nicht. Vielleicht also war es leichtfertig, solche Gegenrechnung nahe zu legen.
Zwischen Europa und den USA steht das Freihandelsabkommen Transatlantic Trade and Investment Partnership zur Verhandlung. Es soll Zölle senken, bürokratische Hindernisse beseitigen, soll Handel und Investitionen erleichtern und allen Beteiligten Wachstum bescheren - kurz: Es soll sich rechnen. Zum Wohl der westlichen Gemeinschaft und zum Schutz gegen alle, die nicht dazugehören.
Gerechtigkeit ist ein Wert an sich
Konkret geht es um die Rechte von Investoren in einem Land, in dem andere, nämlich dessen eigene Rechte herrschen - also um Umweltfragen und Verbraucherschutz, um Fragen von Verkehrssicherheit, Mieterschutz oder Zulassung von Medikamenten. Im Streitfall entscheiden internationale Schiedsgerichte. Sie tun es, nebenbei, unter Ausschluss der Öffentlichkeit; eine Möglichkeit zur Berufung ist nicht vorgesehen.
Inzwischen laufen Umwelt- und Verbraucherschützer Sturm gegen das Abkommen. In den USA fürchten sie die Klagen etwa deutscher Brauereien, die ihr Bier auch dort an Konsumenten unter 21 verkaufen wollen. Und hierzulande sehen Skeptiker in genetisch veränderten Lebensmitteln und Hühnchen, die im Chlor-Bad keimfrei gemacht wurden, keine wirklich guten Argumente dafür, die eigenen Standards über Bord zu werfen.
Im vergangenen Jahr lang saß der Schriftsteller Roger Willemsen monatelang auf den Besucherbänken des Bundestags und lauschte. Er wollte erleben, wie sich das Geschäft von Politikern dort im täglichen Klein-Klein darstellt, wie ihr Demokratieverständnis zu Höhenflügen ansetzt oder auch mal eine Bauchlandung hinlegt. Sein Buch "Das Hohe Haus" verzeichnet eine Menge solcher Bauchlandungen. Dem Kanzlerkandidaten der SPD lauschte er dabei den Satz ab, er, Peer Steinbrück, sei "fest davon überzeugt, dass Gerechtigkeit sich rechnet und rechnen muss."
Hier stutzte nicht nur der Parlamentsbeobachter. Gerechtigkeit? Sich rechnen? Vielleicht hat der Politiker es ironisch gemeint. Solche Neigung ist ihm ja nicht fremd. Aber eigentlich sollte mal ganz unironisch gesagt werden: Gerechtigkeit ist ein Wert an sich. So wie das Recht auf Gesundheit, auf gesunde Ernährung, auf eine saubere Umwelt, auf den Schutz der Persönlichkeit, also auch der persönlichen Daten. So wie Überzeugungen und Gesetze einer Gemeinschaft, wie Identität und Kultur.
Verhandeln lässt sich das alles nicht, aufrechnen noch viel weniger. Nicht gegen größere Wirtschaftsmacht und schon gar nicht gegen Gen-Mais und gechlorte Hühnchen.
Martin Tschechne ist Journalist und lebt in Hamburg. Als promovierter Psychologe weiß er: Wer nur kaufmännisch denkt und handelt, verliert leicht die Essenz der Gemeinschaft aus den Augen: ihre Werte, ihre Identität, ihre Kultur. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie DGPs zeichnete ihn kürzlich mit ihrem Preis für Wissenschaftspublizistik aus. Zuvor erschien seine Biografie des Begabungsforschers William Stern (Verlag Ellert & Richter, 2010).
Martin Tschechne
Martin Tschechne© privat
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