"Wofür wir sterben würden"
Für die Freiheit, die Familie oder die Nation? Um sich die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten, müsse man sich auch fragen, wofür man sein Leben geben würde, sagt die Philosophin Svenja Flaßpöhler.
Klaus Pokatzky: "Für wen oder was wärest du bereit, dein Leben zu geben? Das ist eine unbequeme, ja ungehörige Frage, sie wirkt wie aus der Zeit gefallen." Das hat vor einigen Monaten der Chefredakteur des "Philosophie-Magazins", Wolfram Eilenberger, bei uns im politischen Feuilleton gesagt. Damals hat eine Umfrage unseres Senders in Kooperation mit weiteren öffentlich-rechtlichen Rundfunksendern und dem "Philosophie-Magazin" begonnen, um Werte und eben auch die Frage, wofür sind wir bereit, unser Leben einzusetzen. Heute wurden die Ergebnisse veröffentlicht. Darüber wollen wir jetzt sprechen mit Svenja Flaßpöhler, der stellvertretenden Chefredakteurin des "Philosophie-Magazins". Willkommen im Studio!
Svenja Flaßpöhler: Hallo, guten Tag!
Pokatzky: Eine ungehörige Frage, hat Ihr Chefredakteur bei uns im politischen Feuilleton gesagt. Oder jetzt vielleicht mal anders formuliert: Wollen wir, Sie und ich, von unseren Nachbarn überhaupt wissen, wofür die bereit sind zu sterben?
"Es geht darum, wofür wir sterben würden"
Flaßpöhler: Man kann diese Frage natürlich gerade in der heutigen Zeit, also ich meine jetzt ganz konkret die Ukraine-Krise, auch missverstehen. Es geht ja nicht darum, von unseren Nachbarn wissen zu wollen, wofür würden Sie töten, oder wofür würden wir töten, sondern es geht ja tatsächlich darum, wofür wir sterben würden. Und das ist eigentlich doch eher eine Frage, die Ideale berührt, und es gibt doch, würde ich sagen, einen himmelweiten Unterschied zwischen einem Selbstmordattentäter, der in der Tat töten würde, also sowohl sich selbst als auch andere für eine Idee, für ein Ideal – aber sterben würden ja eine ganze Reihe anderer Menschen für ihre Ideale. Zum Beispiel, Nelson Mandela hat ja sehr klar gemacht, also auch durch sein Leben, dass er selbstverständlich bereit wäre zu sterben für die Ideale, die er vertreten hat.
Pokatzky: Martin Luther King ist gestorben, Robert Kennedy ist gestorben – also Opfer von Attentätern, und beide sind für ihre Ideale, für Gerechtigkeit gestorben. Aber wenn ich jetzt heute auf der Straße von einem Meinungsforschungsinstitut gefragt würde nach Hybridautos oder welches Mobiltelefon ich bevorzuge, dann wäre das für mich normal. Aber wenn ich jetzt gefragt würde, wofür würdest du sterben – da müsste ich doch erst mal schlucken. Und ich glaube, mancher wird da auch nachdenken, das ist so eine Frage wie aus Kaiser Wilhelms Zeiten, von noch Schlimmeren jetzt gar nicht zu reden. Ist die Frage zeitgemäß?
Flaßpöhler: Na ja, sie ist natürlich in gewisser Weise unzeitgemäß, aber gerade deshalb ist sie so gut, weil, ich meine, wir leben in einer Zeit, wo Sie jetzt sagen, Mobiltelefone und so weiter. Wir sind ja gefangen in so einer Endlosschleife aus Produktion und Konsumption. Das ist für uns total normal. Wir arbeiten, um danach umso mehr konsumieren zu können, deshalb ist es für uns auch normal, uns irgendwie über die Sofafarbenpalette zu informieren, um dann am Wochenende bei IKEA shoppen zu gehen. Aber diese Frage, wofür würden Sie eigentlich sterben, die holt uns tatsächlich aus dieser Mühle, aus diesem Hamsterrad heraus und fragt uns doch eigentlich: Worum geht es denn wirklich, und was ist denn wirklich wichtig im Leben, und zwar nicht nur für mein eigenes, sondern ganz global gesehen.
Pokatzky: Was kann uns das jetzt wirklich aussagen über die Zeit, in der wir leben, und jetzt auch über Werte, wenn wir dann so radikal sind, um zu sagen, ja, dafür würde ich sterben?
"Eine Frage, die einen ziemlich tief berührt"
Flaßpöhler: Ich würde sagen, das ist tatsächlich – da wird man wirklich auf die Probe gestellt, weil es ja sehr leicht ist zu sagen, ja nö, Gerechtigkeit finde ich irgendwie gut, Freiheit finde ich jetzt auch irgendwie gut, aber sich tatsächlich vorzustellen, man kommt in eine Situation, wo diese Werte in Frage gestellt sind, würde ich dann dafür mein Leben lassen. Und das, finde ich, ist schon eine Frage, die einen ziemlich tief berührt und auch herausfordert und auf die man vielleicht auch gar nicht so schnell eine Antwort weiß.
Pokatzky: Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben – bei unserer Umfrage haben 16 Prozent der Deutschen gesagt, sie würden für das Vaterland sterben. Auch nur 21 Prozent der Franzosen, aber 50 Prozent der Polen. Also jeder Zweite unserer östlichen Nachbarn. Was sagt uns das?
Flaßpöhler: Das sagt uns viel über die polnische Geschichte. Polen ist einfach ein Land, das immer schon kämpfen musste, um überhaupt existieren zu können. Das war im 18. Jahrhundert zerrissen zwischen Russland, Preußen und Österreich.
Pokatzky: Geteilt, geteilt…
Flaßpöhler: Geteilt. Und es gab eine bestimmte Zeit lang sogar Polen überhaupt nicht auf der politischen Landkarte. Und dann müssen wir nur daran denken, dass während des Ersten Weltkriegs Polen der Hauptkriegsschauplatz war und im Zweiten Weltkrieg der Nichtangriffspakt von uns gebrochen wurde, von den Deutschen. Dass 89 Prozent aller polnischen Juden vernichtet wurden und so weiter. Das heißt, das ist ein Land, das tatsächlich um seine Existenz nach wie vor, denke ich, gerade heute wieder in gewisser Weise fürchten muss, und insofern lässt sich das tatsächlich aus dieser Historie heraus durchaus erklären und darf mit Sicherheit nicht verwechselt werden jetzt mit so einem kruden Nationalismus, der zum Ausdruck käme, wenn es hierzulande 50 Prozent wären.
Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur die Philosophin Svenja Flaßpöhler. "Wofür würden wir sterben?" ist unser Thema. Um ihre Familie zu verteidigen, das hat die Internetumfrage ergeben, würden 89 Prozent der Deutschen ihr Leben riskieren. Und für ihre Ideale 44 Prozent. Und bei den Idealen wurde gefragt nach den drei Werten, die für die Bürger eines Landes zu Beginn des 21. Jahrhunderts sich besonders als Engagement lohnen. Und das waren bei uns Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit. Sagt das wirklich etwas über unsere gesellschaftlichen Werte aus?
"Für die eigene Familie"
Flaßpöhler: Da ist es ja erst mal wirklich interessant, wie Sie sagten, dass die große Mehrheit ihr Leben riskieren würde für die eigene Familie, also um die eigene Familie zu schützen. Und da muss man ja zunächst mal sagen, das hat jetzt mit einer moralischen Herausforderung im eigentlichen Sinne gar nicht so viel zu tun, weil man tatsächlich sagen könnte, das ist eigentlich evolutionsbiologisches Programm, dass wir irgendwie unseren Nachwuchs schützen wollen, dass wir unsere Gene sichern wollen. Natürlich ist unsere Familie uns am nächsten. Also insofern könnte man etwas überspitzt formulieren, das ist eigentlich nach wie vor relativ egozentrisch-narzisstisch gedacht.
Pokatzky: Und unglaublich konkret. Weil die Familie sehe ich ja in Personen vor mir.
Flaßpöhler: Richtig, genau.
Pokatzky: Und das andere ist zu abstrakt?
Flaßpöhler: Mit Kant kann man eigentlich sagen, dass wahre Moralität sich ja erst dann zeigt, wenn ich mich tatsächlich frei entscheide. Und in dem Moment, wo irgend so ein evolutionsbiologisches Programm abläuft, entscheide ich mich nicht frei, sondern ich bin dazu determiniert, dies zu tun. Das heißt, mit Moral, also eben auch mit Werten im eigentlichen Sinne hat das zunächst mal gar nichts zu tun. Tatsächlich zeigt sich Moral dann, wenn es eben nicht ganz konkret – wenn eine Handlung nicht ganz konkret jetzt aus meiner Neigung oder meinem Gefühl heraus resultiert, sondern aus einem Wert, den ich vernunftgemäß für wahr oder für richtig halte.
Pokatzky: Da könnte ich jetzt aber auch ganz boshaft fragen: Geht es uns zu gut, um uns für andere bis zum Äußersten einzusetzen?
Flaßpöhler: In gewisser Weise stimmt das sicherlich. Ich meine, die Menschen sind ja vor allem dann aktiv geworden, haben Revolutionen ausgelöst, und das sehen wir ja auch heute, wenn tatsächlich ihr Leben ganz konkret in Frage gestellt wird, das Leben ihrer Familie in Frage gestellt wird oder eben ihre Freiheit tatsächlich auch in Frage gestellt wird. Hierzulande sind wir natürlich insofern enorm privilegiert, als dass weder unser Leben jetzt irgendwie konkret auf dem Spiel stehen würde, und dass natürlich auch die Werte, die wir für wichtig halten, also Freiheit, Friede und Gerechtigkeit, sagen wir mal, zumindest weitgehend realisiert sind, wobei andererseits natürlich gerade die NSA-Affäre zeigt, dass dem in Wahrheit natürlich eigentlich gar nicht so ist, aber das könnte man – das wäre noch mal eine ganz andere Diskussion, warum eigentlich sich darüber dann doch verhältnismäßig wenig Menschen aufregen.
Pokatzky: Es gibt Berufsgruppen, die müssen im Zweifelsfall auch zum Sterben im Berufseinsatz bereit sein. Polizisten und Feuerwehrleute, vor allem aber Soldaten. 103 Soldaten der Bundeswehr haben in den letzten gut 20 Jahren im Auslandseinsatz ihr Leben gelassen. Das nehmen wir weitgehend ohne jede Regung hin. Wollen wir nicht mehr wissen, dass andere Menschen fürs Vaterland sterben? Verdrängen wir das lieber?
"Im Angesicht unserer Geschichte"
Flaßpöhler: Ich würde auch da sagen, das sagt auch einiges über unsere Historie aus. Ich meine, die Aufladung eines Soldatentodes mit Pathos, mit einem übergroßen Pathos, ist eben auch tendenziell gefährlich, und zwar gerade für uns Deutsche, denke ich im Angesicht unserer Geschichte. Insofern glaube ich, ist das tatsächlich auch eine Reaktion auf die deutsche Schuld, dass wir diesen Toden, diesen Verlusten, weitgehend nüchtern gegenüberstehen.
Pokatzky: Aber dann auch gleich auf die andere Skala und das ignorieren.
Flaßpöhler: Ich würde nicht sagen, dass wir das ignorieren. Man weiß es ja schon, aber es herrscht hier tatsächlich eine andere Form von, ich sag jetzt mal, Feierlichkeit, Trauer, öffentlicher Trauer als zum Beispiel auch in den USA. Da wird da ja noch mal ganz anders mit umgegangen. Aber wie gesagt, ich finde, das muss man sehen im Zusammenhang mit unserer Geschichte, und vor dem Hintergrund finde ich es auch nachvollziehbar.
Pokatzky: Wofür, die Frage muss gestellt werden, Sonja Flaßpöhler, wofür würden Sie selber Ihr Leben lassen?
Flaßpöhler: Selbstverständlich, natürlich für meine Tochter – aber dieses natürlich meine ich eben tatsächlich auch im doppelten Sinne, und insofern ist es ja nicht wirklich sozusagen eine moralische Herausforderung dies zu tun. Ich hab darüber in der Tat lange nachgedacht, und ich würde sagen, das einzige, was ich zweifelsfrei sagen kann – weil, man kann ja auch sagen, man kann jetzt ja alles Mögliche anführen und sich so ein bisschen so als Held, Heldin stilisieren – aber das, was ich zweifelsfrei sagen kann, ist, dass ich mich für die deutsche Schuld in der Tat nicht in dem Sinne verantwortlich fühle, dass ich sie selber begangen hätte, aber dass ich mich doch da in der Verpflichtung sehe, und dass ich mein Leben dafür geben würde, dass sich diese Schuld nie wieder ereignet.
Pokatzky: Also gegen Nazis, gegen Rassisten.
Flaßpöhler: Richtig, ja.
Pokatzky: Danke, Sonja Flaßpöhler. Alle Informationen zu der Umfrage, die das Deutschlandradio gemeinsam mit anderen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und dem "Philosophi-Magazin", dessen stellvertretende Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler ist, alle diese Informationen finden Sie natürlich auf unserer Homepage unter deutschlandradio.de. Und um 15:15 wollen wir Sie in unserer Debatte fragen: Wofür wären Sie bereit zu sterben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.