Wertekompass der westlichen Welt
Mit dem Bestseller "Die einsame Masse" veränderte der US-amerikanische Soziologe David Riesman nicht nur die Ausrichtung seines Faches, sondern die Selbstwahrnehmung der westlichen Nachkriegsgesellschaften.
Bob Dylan "I shall be released”
Standing next to me in this lonely crowd
Is a man who swears he's not to blame
All day long I hear him shout so loud
Crying out that he was framed
"Neben mir in dieser einsamen Masse steht einer, der schwört, er sei ohne Schuld", sang Bob Dylan 1967 - und feierte mit "I shall be released" einen seiner größten Erfolge. "Lonely crowd" - die einsame Masse - war ein Schlagwort der frühen 50er und hatte 1950 den Titel abgegeben für einen Bestseller, in dem der Soziologe David Riesman die Nachkriegsgesellschaft der USA detailliert unter die Lupe nahm: ob Hierarchien am Arbeitsplatz oder das Verhalten beim Autokauf, ob sonntäglicher Kirchgang oder Party am Freitagabend - überall machte Riesman seine Charakterstudien.
Der am 22. September 1909 in Philadelphia geborene, ursprünglich als Biochemiker, dann als Jurist ausgebildete Sohn eines Medizinprofessors war als Soziologe ein Seiteneinsteiger; deshalb immer bereit, die eigene Position mit Witz und nüchterner Distanz in Frage zu stellen, etwa bei einem Vortrag über Suburbia, über die Vorstädte als prägenden Faktor der US-Gesellschaft:
"Ich spreche aus der Sicht desjenigen, der Stadt und Land liebt, aber nicht die Vorstädte. Denn sie führen zum Verlust von Vielfalt, Komplexität - Lebensqualität. Also wird dieser Vortrag geprägt von Werten, weniger von Fakten. Doch ich beziehe mich auf Fakten, wo ich kann, und urteile, wo ich es für nötig halte."
Riesman unterscheidet drei Sozialcharaktere: Die Menschen vergangener Jahrhunderte waren traditionsgeleitet und geprägt vom Gefühl der Scham. Dann brachte die Industrialisierung den innengeleiteten Typus hervor, der sich an selbstgewählten Maßstäben von Moral, politischem Einfluss oder ästhetischer Vollkommenheit orientierte. Und schließlich beförderte die Konsumgesellschaft den außengeleiteten Charakter, der hauptsächlich auf Anerkennung durch die anderen bedacht ist und weniger eigenen Werten folgt als den Einflüsterungen von Werbung, Mode und Massenmedien.
Dass der Soziologe damit einen Nerv der Zeit getroffen, mit seiner Theorie über die Gesellschaft zugleich eine lebhafte Diskussion inmitten der Gesellschaft angestoßen hatte, beweist das Titelblatt des "Time Magazine" vom September 1954: Vor der Szenerie einer 1000-köpfigen anonymen Masse umkreisen den nachdenklich und neugierig durch seine Hornbrille schauenden Intellektuellen zwei Männer wie Motten.
Mit Backenbart und Bratenrock der eine, auf den Rücken ein seltsam vorsintflutliches Instrument geschnallt - es ist ein Gyroskop, ein Kreiselkompass. Der andere stürmt im knitterfreien Sommeranzug himmelwärts und trägt einen Radarschirm, der ihm scheinbar Flügel verleiht. Wie in einem Zukunftsroman von Jules Verne trifft der auf seinen inneren Wertekompass gerichtete Charakter auf den Radartyp, der nur noch Signalen von außen folgt. Das wirkt sehr plakativ - ist aber von Riesman mit präzisen Detailbeobachtungen erhärtet worden, etwa über den Niedergang jenes Arbeitsethos, auf dem die alte Industriekultur beruhte.
"In den Fabriken wird Ansehen nicht mehr durch harte Arbeit oder Können erworben, sondern durch Fähigkeiten, die man als Konsument beweist. Die Männer wollen nicht mehr beruflich aufsteigen, sondern einen eigenen Betrieb aufmachen: Motel, Tankstelle oder Fernsehreparaturwerkstatt."
Auch die sogenannte Dienstleistungsgesellschaft hatte der 2002 in New York gestorbene Riesman bereits vorausgesehen. Weil er als Soziologe sich nicht auf Meinungsforschung beschränkte, den Blick immer wieder hinter die Fassaden richtete - und auch Fantasie und Vorstellungsvermögen einsetzte:
"Zu sehen, dass eine Fabrik nicht nur Dinge herstellt, sondern Menschen prägt, das wäre eine Aufgabe. Ebenso der Blick darauf, wie wir uns der Technik angepasst haben. Jüngste Science-Fiction-Romane sorgen da für erhellende Kontrapunkte - überhaupt scheint mir Science Fiction die einzige noch aufrührerische Literatur zu sein."
Standing next to me in this lonely crowd
Is a man who swears he's not to blame
All day long I hear him shout so loud
Crying out that he was framed
"Neben mir in dieser einsamen Masse steht einer, der schwört, er sei ohne Schuld", sang Bob Dylan 1967 - und feierte mit "I shall be released" einen seiner größten Erfolge. "Lonely crowd" - die einsame Masse - war ein Schlagwort der frühen 50er und hatte 1950 den Titel abgegeben für einen Bestseller, in dem der Soziologe David Riesman die Nachkriegsgesellschaft der USA detailliert unter die Lupe nahm: ob Hierarchien am Arbeitsplatz oder das Verhalten beim Autokauf, ob sonntäglicher Kirchgang oder Party am Freitagabend - überall machte Riesman seine Charakterstudien.
Der am 22. September 1909 in Philadelphia geborene, ursprünglich als Biochemiker, dann als Jurist ausgebildete Sohn eines Medizinprofessors war als Soziologe ein Seiteneinsteiger; deshalb immer bereit, die eigene Position mit Witz und nüchterner Distanz in Frage zu stellen, etwa bei einem Vortrag über Suburbia, über die Vorstädte als prägenden Faktor der US-Gesellschaft:
"Ich spreche aus der Sicht desjenigen, der Stadt und Land liebt, aber nicht die Vorstädte. Denn sie führen zum Verlust von Vielfalt, Komplexität - Lebensqualität. Also wird dieser Vortrag geprägt von Werten, weniger von Fakten. Doch ich beziehe mich auf Fakten, wo ich kann, und urteile, wo ich es für nötig halte."
Riesman unterscheidet drei Sozialcharaktere: Die Menschen vergangener Jahrhunderte waren traditionsgeleitet und geprägt vom Gefühl der Scham. Dann brachte die Industrialisierung den innengeleiteten Typus hervor, der sich an selbstgewählten Maßstäben von Moral, politischem Einfluss oder ästhetischer Vollkommenheit orientierte. Und schließlich beförderte die Konsumgesellschaft den außengeleiteten Charakter, der hauptsächlich auf Anerkennung durch die anderen bedacht ist und weniger eigenen Werten folgt als den Einflüsterungen von Werbung, Mode und Massenmedien.
Dass der Soziologe damit einen Nerv der Zeit getroffen, mit seiner Theorie über die Gesellschaft zugleich eine lebhafte Diskussion inmitten der Gesellschaft angestoßen hatte, beweist das Titelblatt des "Time Magazine" vom September 1954: Vor der Szenerie einer 1000-köpfigen anonymen Masse umkreisen den nachdenklich und neugierig durch seine Hornbrille schauenden Intellektuellen zwei Männer wie Motten.
Mit Backenbart und Bratenrock der eine, auf den Rücken ein seltsam vorsintflutliches Instrument geschnallt - es ist ein Gyroskop, ein Kreiselkompass. Der andere stürmt im knitterfreien Sommeranzug himmelwärts und trägt einen Radarschirm, der ihm scheinbar Flügel verleiht. Wie in einem Zukunftsroman von Jules Verne trifft der auf seinen inneren Wertekompass gerichtete Charakter auf den Radartyp, der nur noch Signalen von außen folgt. Das wirkt sehr plakativ - ist aber von Riesman mit präzisen Detailbeobachtungen erhärtet worden, etwa über den Niedergang jenes Arbeitsethos, auf dem die alte Industriekultur beruhte.
"In den Fabriken wird Ansehen nicht mehr durch harte Arbeit oder Können erworben, sondern durch Fähigkeiten, die man als Konsument beweist. Die Männer wollen nicht mehr beruflich aufsteigen, sondern einen eigenen Betrieb aufmachen: Motel, Tankstelle oder Fernsehreparaturwerkstatt."
Auch die sogenannte Dienstleistungsgesellschaft hatte der 2002 in New York gestorbene Riesman bereits vorausgesehen. Weil er als Soziologe sich nicht auf Meinungsforschung beschränkte, den Blick immer wieder hinter die Fassaden richtete - und auch Fantasie und Vorstellungsvermögen einsetzte:
"Zu sehen, dass eine Fabrik nicht nur Dinge herstellt, sondern Menschen prägt, das wäre eine Aufgabe. Ebenso der Blick darauf, wie wir uns der Technik angepasst haben. Jüngste Science-Fiction-Romane sorgen da für erhellende Kontrapunkte - überhaupt scheint mir Science Fiction die einzige noch aufrührerische Literatur zu sein."