Der Rausch der Revolution
West-Berlin 1968: Studierende demonstrieren massenhaft gegen die bestehenden Verhältnisse, und sie träumen von einer Revolution. Und einige von ihnen wollen eine Räterepublik ausrufen. Woran scheiterten die Aktivisten und was wurde aus ihren Träumen und Ideen?
"The Times They Are A-Changin´": das sang Bob Dylan in den USA schon 1964. In Westdeutschland und West-Berlin war wenige Jahre vor 1968 noch nichts davon zu spüren.
"Ich glaube, dass diese Generation sich nicht dadurch auszeichnet, dass sie einen besonderen Willen zum generationsgegebenen Aufstand hat. Eigentlich sehen sie doch alle aus wie Regierungsräte schon beim Abitur, und sie benehmen sich eigentlich auch so."
Das sagte der Publizist Erich Kuby im Sommer 1965 in einem Interview mit der Studentenzeitung der Freien Universität Berlin. Der Politologe Ekkehard Krippendorff von der Freien Universität erinnerte sich später an die Stimmung wenige Jahre vor 1968:
"In den 60er-Jahren lamentierten alle Beobachter darüber, dass die deutschen, nicht nur die deutschen, Studenten so angepasst seien. Alfred Grosser schrieb einen langen Artikel: Wie kommt es, in Frankreich rebellieren die Studenten, in Deutschland sind sie ruhig, auch Sebastian Haffner, einer unserer Sympathisanten, fragte, warum passiert eigentlich nichts. Also sie gingen alle davon aus, die deutschen Studenten sind angepasst, kleine Karrieristen. Und es war eine völlige Fehldiagnose, denn plötzlich brach das ja dann auf."
Vorbild USA
Denn – vom Westen her wehte ein anderer Wind. Amerikanische Austauschstudenten und Nachwuchswissenschaftler waren mit neuen Ideen und einer neuen Aufsässigkeit in den muffigen deutschen Alltag zurückgekehrt. Ekkehard Krippendorff war einer von ihnen.
"Man darf nicht unterschätzen, welche Bedeutung das Vorbild USA für die Emanzipationsbewegung, sagen wir im weiteren Sinne, das, was in `68 kulminierte, hatte. Meine eigene Vorgeschichte war, dass ich 1963 aus den USA zurückkam, ich war die ganzen Kennedy-Jahre dort gewesen, und kam zurück, emanzipiert, wenn man das so sagen darf, und komme hierher und die deutsche Universität war so stickig, so autoritär und hierarchisch wie eh und je – und da flog ich dann gleich raus nach drei Monaten Probezeit als Assistent."
... weil Krippendorf in einer West-Berliner Lokalzeitung eine Maßnahme seines Universitätsrektors kritisiert hatte. Der Rektor hatte in der FU Berlin Veranstaltungen mit dem Publizisten Erich Kuby und dem Philosophen Karl Jaspers nicht genehmigt. Die Studenten waren düpiert.
"Und die Studenten wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten. Und da kam ich mit meinen Amerika-Erfahrungen zurück und sagte: Hört zu, macht doch das, was Amerika, die Bürgerrechtsbewegung machte, nämlich sandwich man, sit in, teach in etc. und hab denen diese Demonstrationstechniken erzählt. Da waren sie ganz angetan und machten das. Und dann wurde es ein Selbstläufer."
Im kalifornischen Berkeley heizte der Physikstudent Mario Savio als Kopf des sogenannten Free Speech Movements die antiautoritäre Bewegung an.
"Ihr müsst den ganzen Apparat stoppen! Ihr müsst den Leuten, denen die Maschine gehört und die sie am Laufen halten, klar machen, dass sie, bis ihr frei seid, überhaupt nicht mehr funktionieren wird."
Der Mord an Benno Ohnesorg
In der Bundesrepublik gab es den SDS, den Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Früher die Studentenorganisation der SPD, doch die hatte sich Anfang der 60er-Jahre vom SDS distanziert, weil der sich weit nach links bewegte.
Im SDS wurde das "Kapital" von Karl Marx gelesen und es wurden Strategien für die Überwindung des Kapitalismus und den Übergang zum Sozialismus entwickelt. Einer der Mitstreiter: Rudi Dutschke aus Luckenwalde, DDR, der nach dem Mauerbau in West-Berlin studierte.
Viele aktive Theoretiker waren es nicht. Ein überschaubarer radikaler Haufen. Aber mit dem Mord an Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 änderte sich auf einen Schlag die Stimmung der Studenten nicht nur auf dem Campus der Freien Universität in Berlin.
Demonstrationen. Auseinandersetzungen mit der Polizei. Proteste gegen den Vietnamkrieg der USA. Rote Fahnen auf dem Kurfürstendamm in West-Berlin und Studenten, die dem kommunistischen Chef des nordvietnamesischen Vietcong huldigten, mit ihren Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Rufen. Das normale Bürgertum schaute am Straßenrand fassungslos zu, wie sich Teile der akademischen Jugend in einen Protestrausch steigerten, der binnen weniger Monate im inneren Kreis der Rebellen zum Revolutionsrausch wurde.
Die heiß diskutierten Notstandsgesetze, die der Bundestag schließlich im Frühjahr 1968 verabschiedete, heizten die Atmosphäre zusätzlich an und verschafften der außerparlamentarischen Opposition, der APO, ungeahnten Zulauf. Der Westberliner Senat verteidigte die harten Polizeieinsätze.
"Wir haben immer gesagt: Wer das Demonstrationsrecht überschreitet. Angriffe gegen Personen und Sachen richtet, der kann nicht damit rechnen, dass man ihm dieses garantiert, sondern muss damit rechnen, dass wir hier Sicherheit und Ordnung herstellen in der Stadt."
Reportage: "Die Studenten hängen auf den Bäumen, sitzen in den Kronen. Hängen am Bauzaun und wurden vorhin schon ein bisschen heruntergeknüppelt von der Polizei. Aber inzwischen haben sie diese Plätze wieder erobert. Sie halten ihre Schilder nach oben, auf denen zu lesen steht: ´Keine Diktatoren als Gäste einer freien Stadt.´ ´Blutsauger´. ´Mörder raus´."
Innerhalb kurzer Zeit war die Bewegung derart explodiert, dass die einen den Untergang des Abendlandes an die Wand malten und die anderen die revolutionäre Morgenröte aufsteigen sahen. Eine irre Stimmung.
Der Traum von der Revolution
Tom Koenigs war 1968 24 Jahre alt. Der Sohn einer Kölner Bankiersfamilie, der sein Erbe dem Vietcong und chilenischen Widerstandskämpfern schenkte, studierte Betriebswirtschaft in West-Berlin.
Koenigs wohnte damals in einer großen Altbau-WG in der Charlottenburger Kantstraße, sein Traum war: die Revolution. Um die Verhältnisse auch ökonomisch umzuwälzen, gründete er mit ein paar anderen Genossen die "Rote Zelle Ökonomie", in der sie sich mit sozialistischer Wirtschaftstheorie auseinandersetzten. Alles sollte radikal verändert werden.
Im Bus wurden sie, oft von Arbeitern, als "langhaarige Affen" beschimpft, auf dem Universitätscampus und abends in der WG diskutierten sie Strategien zur revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft.
Nächtelang haben Tom Koenigs und die Genossen der "Roten Zelle" Machtoptionen durchgespielt: Kann man in West-Berlin eine Räterepublik ausrufen, nach dem Muster der Münchner Räterepublik von 1919? Der Versuch, im frisch gegründeten Freistaat Bayern eine sozialistische Räterepublik durchzusetzen, war 1919 allerdings nach nur knapp vier Wochen gescheitert, mit einem Blutbad als Folge.
Die Köpfe rauchten im blauen Dunst der studentischen Revolutionstheoretiker.
Koenigs: "Wirklich durchdacht eine revolutionäre Umwälzung mit den Opfern dann auf allen Seiten hat damals niemand. Man lernt doch jetzt, dass die revolutionären Bewegungen, meinetwegen im arabischen Raum, in einem gewaltigen Massaker und Blutbad enden oder dazu führen. Und es zutrifft, was Mao Tse-tung gesagt hat: ´Die Revolution ist kein Deckchensticken.`"
Der Kampf um die Meinungsmacht
Schnell standen sie 1968 in Theorie und Praxis vor der Frage: Setzen wir, was wir wollen, mit Gewalt durch?
"Ja, es ist Gewalt angewendet worden, immer symbolische Gewalt. Also, wir wollten nicht in der kriegerischen Feldschlacht die Polizei besiegen. Und wir haben auch nicht gekämpft um die Macht im Staat, sondern um die Meinungsmacht. Und ohne eine gewaltsame Auseinandersetzung war es auch damals fast unmöglich, sich Gehör zu verschaffen. Leider ist das auch heute noch so."
Jenes des Studiums arbeitete Tom Koenigs, der bis zum Herbst 2017 für die Grünen im Bundestag saß, unter anderem als Schweißer bei Opel. In der Rüsselsheimer Autofabrik erlebte er konkrete Veränderungen, die er dem Einfluss der 68er-Bewegung zuschreibt. Auf einen sehr konservativen Betriebsrat, der sich vor allem mit dem Kantinenmittagessen befasste, sei ein links-sozialdemokratischer gefolgt, dem es darum ging, Löhne und Arbeitsbedingungen zu thematisieren.
"Wir haben radikal die Revolution gewollt. Erreicht haben wir eine Veränderung des Klimas, auf dem man heute immer noch aufbaut. Leider sind inzwischen die Gewerkschaften so geschwächt, dass es eines neuen Impulses bedürfte."
"Sie sagen: Wir haben die Revolution gewollt, und man hat dann kleinere Veränderungen bekommen. Wie man sonst in Verhandlungen geht? Man haut erst mal richtig auf den Tisch und ist dann zufrieden mit kleineren Ergebnissen? War Ihnen das damals auch schon so bewusst, oder haben Sie schon gedacht, man könne Revolution wirklich machen?"
"Wir haben natürlich geglaubt, man könne Revolution machen und nicht daran gedacht, dass sich unter Umständen die Veränderungen über Reformen oder langsame Schritte besser realisieren lassen und vor allem gewaltärmer. Aber … nein, wir haben schon geglaubt, dass irgendwann das revolutionäre Subjekt aufsteht und die Verhältnisse zum Tanzen bringt."
"Villa Kunterbunt" in West-Berlin
Berlin, Lichterfelde West. Ein bürgerlicher Stadtteil fernab der traditionellen Arbeiterviertel. Hilde Schramm führt durch ein verschachteltes Treppenhaus. 1968 haben sie und ihr Mann Ulf zusammen mit einem befreundeten Künstlerehepaar diese traumhaft schöne Gründerzeitvilla mit großem Garten und Remise gekauft.
"So was von preiswert, das kann man heute gar nicht mehr verstehen und glaubt, sich verhört zu haben, wenn ich´s sagen würde."
"Sagen Sie´s!"
"Zu viert 130.000 DM und dann 70.000 DM Hypothek für vier Leute. Dieses Grundstück mit diesem Haus. Nicht ganz so gut im Stand wie jetzt, aber doch bewohnbar."
Viele Häuser in dieser gutbürgerlichen Westberliner Gegend standen damals leer und zum Verkauf, weil die Eigentümer, jeden Moment den sowjetischen Einmarsch erwartend, die Mauerstadt verlassen hatten.
"Na ja, wir haben gleich eins ausgesucht, wo man einen Kinderladen machen konnte. Es gab die allerersten in Frankfurt, nicht hier in Berlin. Hier in der Gegend gab´s sowieso keine, also waren wir hier der erste Kinderladen. Und da war alles dann präsent, was zu diesem Aufbruch auch im, sage ich mal, Privaten, was aber nicht mehr nur als so privat verstanden wurde, dazugehört. Dass man mit den Eltern Elternabende hatte, dass man die Kinder wechselseitig im Haus hatte, dass die Überlegungen, welches Kind welches Problem gerade hat und natürlich auch dann, wie man selber daran teilhat, an der Problemerzeugung, immer besprochen hat mit anderen und sich da nicht so abgeschottet hat, ja."
Hilde Schramm war 1968 32 Jahre alt, sie hatte eine feste Stelle als Erziehungswissenschaftlerin an der Freien Universität und erwartete ihr erstes Kind, als sie sich in Lichterfelde in ihrer "Villa Kunterbunt" einrichtete. Sie ist Tochter von Hitlers Rüstungsminister Albert Speer, der zwei Jahre zuvor, nach 20 Jahren Haft im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis wieder freigelassen worden war.
Revolution hat Hilde Schramm 68 nicht gemacht, aber die gesellschaftlichen Veränderungen, die sich schon in den Jahren zuvor langsam anbahnten, empfand sie als wohltuend und befreiend: dass man leichter und schneller zu wichtigen Themen kam, dass man, wenn man irgendwo fremd hinkam, gleich das Gefühl hatte, willkommen zu sein und mitmachen zu können.
"Also das ist sowieso, denke ich, manchmal ein Missverständnis, dass Leute denken, 68 hat man sich plötzlich politisiert. Das gilt für uns zumindest nicht. Und ich denke, es gilt für ganz viele andere auch nicht."
Als pragmatische, "undogmatische Linke" hätten sie, ihr Mann und die Freunde aus ihrem Umfeld sich eben das Beste, was die Revolutionäre um Rudi Dutschke, Hans-Jürgen Krahl und Bernd Rabehl im theoretischen Repertoire zu bieten hatten, herausgepickt, um es in ihrem Lichterfelder Idyll konkret anzuwenden und auf Alltagstauglichkeit zu überprüfen. Das, was die Elterngeneration, mit der man nicht ins Gespräch kam, angerichtet hatte, wollten sie stellvertretend aufarbeiten.
"Das war damals unsere Generation und die Aufgabe unserer Generation, immer zu überlegen, wie konnte es dazu kommen, dass unsere Eltern im Nationalsozialismus, Faschismus mitgemacht oder sogar ´ne tragende Rolle genommen haben?"
Die "Revolution des bürgerlichen Individuums"
Wie vielen anderen Weggefährten ging es Hilde Schramm und ihren Freunden um eine neue Offenheit: sich zu zeigen, angreifbar zu machen, indem man seine Schwierigkeiten ohne Rücksicht auf Verluste ausspricht: Analyse, Selbstkritik, Reflexion. Das war kein kurzer revolutionärer Rausch, sondern mehr: Nichts Geringeres als die "Revolution des bürgerlichen Individuums" stand auf ihrer Agenda. Selbstbewusstes, reflektiertes Handeln sei durch die 68er-Bewegung viel leichter als je zuvor möglich gewesen.
"Und da waren eben ganz viele tiefgehende Analysen, die gehen eben auch zu dem Schein, zu der Fassade und zu dem Abspalten von: ´zuhause ist er ´n guter Familienvater´ und draußen genau das Gegenteil.´ Das gibt´s ja heute alles auch noch, aber diese Krassheit, da wollten wir mehr gucken, wie kann das sein, diese Abspaltungen, und wie kann man sie vermeiden?"
Wolfgang Kraushaar: "Es war ein so enormer Aufbruch, eine solche Aufbruchsstimmung auch, die sich selbst bis in die Provinz hinein vermittelt hatte, natürlich über die Medien, dass man sich dadurch angesprochen, aufgerufen gefühlt hat, selber sich zu beteiligen, einzumischen."
Der Historiker Wolfgang Kraushaar, Sohn einer kleinbürgerlichen Familie, hatte im Frühjahr 68 die Reifeprüfung am König Heinrich-Gymnasium in der nordhessischen Kleinstadt Fritzlar abgelegt. Was in diesem Frühjahr in der Bundesrepublik geschah, zog den frischgebackenen Abiturienten magisch an.
"Meine erste Demonstration war am 11. Mai 1968, die stand unter bestimmten Vorzeichen. Diese Demonstration war der sogenannte ´Sternmarsch auf Bonn´. Man hat versucht, durch eine bundesweite Mobilisierung die Verabschiedung der Notstandsgesetze zu verhindern."
"Gab es tatsächlich einen Zeitpunkt, wo so etwas wie ein ´Rausch der Revolution` in der Luft lag? Wo man sowas empfunden hat?"
"Das war – sozusagen -, unmittelbar spürbar. Das war eine Form der ´rauschhaften Existenz´ geworden. Wenn man jetzt mal von einem Prominenten wie Rudi Dutschke sprechen wollte. Das ist ja jemand gewesen, der wie ein Reisekader unterwegs war, ja. Drei Mal in der Woche ist der von Westberlin nach Westdeutschland oder nach Holland oder Norwegen, wo immer er auch aufgetreten ist, damals, hin- und hergereist.
Allein schon diese Frequenz an Ortsbewegungen zeigt ja schon etwas an, was ganz ungewöhnlich ist. Und dann jeweils in einen Hexenkessel von Emotionen usw. zu geraten, mit Hunderten manchmal Tausenden von Zuhörern, jeweils in eine sehr aufgepushte Situation zu kommen und dort zu reden. Das ist für jemanden, der so exponiert war wie Rudi Dutschke, z.B. garantiert ein rauschhaftes Streaming gewesen."
Rudi Dutschke, Vietnamkongress, Februar 68:
"Und jener Freund, der hier sprach vom Blutvergießen. Ja, ich denke, wir sollten einen Moment darin als Richtiges anerkennen. Das Problem revolutionärer Verdinglichung. Der Umschlag von revolutionärer Gewalt in eine Gewalt, die die Ziele der Gewalt, die Emanzipation des Menschen, die Schaffung des neuen Menschen, vergisst."
"Und jener Freund, der hier sprach vom Blutvergießen. Ja, ich denke, wir sollten einen Moment darin als Richtiges anerkennen. Das Problem revolutionärer Verdinglichung. Der Umschlag von revolutionärer Gewalt in eine Gewalt, die die Ziele der Gewalt, die Emanzipation des Menschen, die Schaffung des neuen Menschen, vergisst."
Die Lage eskaliert
Der Vietnamkongress an der Technischen Universität heizte die revolutionären Phantasien an und zugleich die Angst des Berliner Senats und der Normalbürger vor den aus ihrer Sicht wild gewordenen Studenten.
"Der Sieg der Revolution in Vietnam ist für die auf der Konferenz vertretenen Gruppen ein Mittel zur Förderung der revolutionären Bestrebung in Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa, kurz zur Aktivierung der Weltrevolution."
Notierte ein Beobachter des Verfassungsschutzes beim Kongress am 17. Februar 1968 und traf damit den Nagel auf den Kopf. Nach dem Kongress zogen über 12.000 Demonstranten durch die Stadt und skandierten:
"Ho-Chi-Minh"
Vier Tage später hatte der Berliner Senat zu einer Kundgebung der Gegenrevolution aufgerufen, "pro Amerika".
"Volksfeind Nr. 1: Rudi Dutschke" – "Zwingt rot raus"
War auf den Plakaten zu lesen. Ein Mann, der auf den ersten Blick Ähnlichkeit mit Rudi Dutschke hatte, wäre von der Menge fast gelyncht worden.
"Am Mittwoch, dem 21. Februar, hat die Freiheitsglocke Pogromstimmung wachgeläutet. In Berlin wurden Studenten und Bürger, die aussahen wie Studenten, durch die Straßen gehetzt und geprügelt. Zwar haben Polizeibeamte verhindert, dass der Ruf 'Schlagt sie tot!' in die Tat umgesetzt wurde, aber sie haben die Schläger in vielen Fällen weder verhaftet noch deren Namen festgestellt."
Schrieben besorgte Hochschullehrer in einem Appell an den Berliner Senat in der "Zeit". Hysterie breitete sich aus. Knapp zwei Monate später wurde Rudi Dutschke in der Nähe des SDS-Zentrums auf dem Westberliner Kurfürstendamm niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt. Josef Bachmann, ein Hilfsarbeiter mit Kontakten zur Neonaziszene, hatte aus einer Pistole drei Mal auf Dutschke gefeuert.
Augenzeugenbericht vom Attentat: "Wir dachten, dass hier auf Tauben geschossen wird. Aber dann sahen wir einen Mann weglaufen. Und dann kamen wir hierüber und sahen dann Dutschke liegen. Er stand dann auf und schrie nach Vater und Mutter. Und ich muss zum Frisör und zum Frisör. Und ist ungefähr dann fuffzig Meter weitergelaufen und ist dort umgekippt. Und seine letzten Worte waren: Soldaten! Soldaten!"
Schon kurz vor dem Dutschke-Attentat und den darauf folgenden Straßenschlachten während der Springer-Blockaden zu Ostern hatte sich mit der Kaufhausbrandstiftung in Frankfurt am Main eine neue Dimension angekündigt, schreibt Wolfgang Kraushaar in seinem Buch "Acht und Sechzig – Eine Bilanz".
Kraushaar: "Also, dass es da andere Fraktionen oder Gruppierungen gab, vielleicht auch nur Kleingruppen, die sich bereits radikalisiert hatten in ´ner ganz anderen Art und Weise, das merkte man ja bereits im April 1968, als ein Quartett junger Leute zwei Kaufhäuser an der Frankfurter Zeil angezündet hatte. Und zu diesen Vieren zählten ja auch Andreas Baader und Gudrun Ensslin und damit zwei der insgesamt vier führenden Leute der Gründergeneration der späteren RAF."
Noch richtete sich diese Gewalt nicht gegen Menschen, doch die Gewaltphantasien waren geweckt, und im Herbst 1968 hatte die Bewegung für einen Moment das Gefühl, dass sie die Staatsmacht gewaltsam bezwingen kann – als eine Demonstration die Westberliner Polizei in die Flucht schlug.
Kraushaar: "Und die Schlacht am Tegeler Weg ist ja ein Mythos geworden im Nachhinein – und zwar sehr schnell -, weil man das gefeiert hat als den ersten Sieg in einer Straßenschlacht über die Berliner Polizei. Letztlich ist das aber auch ´ne Schwelle gewesen, die damals überschritten worden ist, die ist vielleicht ganz typisch dafür, dass man zu dem Zeitpunkt nicht mehr wusste, wohin die 68er-Bewegung weiter gehen würde. Der Zenit war überschritten."
Die Bewegung zerfällt
Der revolutionäre Traum des Frühjahrs 1968 war nicht in Erfüllung gegangen. Die Räterepublik blieb Theorie. Die Bewegung spaltete sich auf in eine Vielzahl von Gruppierungen, Marxisten, Leninisten, Trotzkisten, Stalinisten, Maoisten, DKPisten, Jusos, Stamokap, undogmatische Linke. Einige wählten den Weg in den Terrorismus: revolutionäre Zellen, RAF. Liedermacher wie Franz-Josef Degenhardt schürten die Konfrontation. "Im Jahr der Schweine" sang er 1969:
"Dies ist das Jahr der Schweine, und dieses Jahr wird lang. Es zieht durch unsre Städte dieser Schweinegestank.
Die, die uns jetzt verfolgen, verstehen ihr Geschäft. Weh dem, der jetzt noch sorglos und ohne Waffe schläft. Mancher wird uns verraten. Sei wachsam, wo Du bist. Wir müssen überleben, kämpfen mit aller List."
Auf der Strecke blieben die Leichtigkeit, der Schalk und der Witz aus der Frühzeit der Bewegung.
"Go-In" im Rathaus Schöneberg:
"Und im Augenblick eine ziemlich tumultartige Szene hier im Vorraum, denn Fritz Teufel ist in Berlin, und er will sich hier, wenn man dem Inhalt eines Flugblattes Glauben schenken will – (Gelächter) – dem Parlament stellen. Im Augenblick zieht er wieder eines seiner bekannten Happenings ab."
Reportage Vietnamdemonstration Westberlin:
"Eine Bitte geht auch an die Kommune-Mitglieder. Sie gehen zu weit links! Passen Sie auf, dass Sie unter die Räder kommen…."
(Gelächter!) ....."Herrlich! Herrlich!"
Tom Koenigs, der später den Grünen beitrat und eine Zeitlang Stadtkämmerer in Frankfurt am Main war, vermisste Ende der 60er-Jahre immer öfter und schmerzlich das Spielerische: das komödiantische Talent des Kommunarden Fritz Teufel, eines begnadeten Provokateurs. Wie bei einem "Teach-In" in der Freien Universität, als drinnen im Saal heftig diskutiert wurde, während draußen die Kommune 1 Fußball spielte.
Koenigs: "Und das hat Aufsehen erregt. Und drinnen sagte man, das ginge doch nicht, dass die das nicht ernst nehmen. Und dann wurde Teufel reinzitiert. Und der ist dann auch gerne gekommen und hat gesagt: 'Werte Genossen, ich hab gehört, ihr kritisiert uns, die Kommune 1. Wir spielen draußen Fußball. Aber das ist eine sehr ernste Sache! Und das muss man auch politisch sehen: Denn: ...' - und dann hat er ´ne kurze Pause gemacht -, 'Berlin ist nicht in der Bundesliga!' Da hat natürlich alles flach gelegen vor Lachen. Und der ganze Bierernst, die Schwere der Sache, war weg. Und man hat sich dann wieder so dem realen Leben zugewandt."
Tom Koenigs hat sich kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Bundestag 2017 noch eine kleine, "teuflische" - oder sagt man besser: Teufelsche - Aktion geleistet. Nachdem er mit seinem Antrag zu einer Aktuellen Stunde zum 50. Jahrestag des Ohnesorg-Mords gescheitert war, setzte er sich im Plenum seine Original "Schah-Papier-Tüte" auf, die er 1967 während der Anti-Schah-Demo vor der Deutschen Oper getragen hatte.
Das brachte ihm einen Rüffel von Bundestagpräsident Lammert ein, der auf das Vermummungsverbot im Parlament hinwies, aber auch viele Klicks auf YouTube, wo Fritz Teufel, hätte es diesen Kanal schon 68 gegeben, sicher ein Megastar gewesen wäre.
Tom Koenigs ist inzwischen 73. Im Auftrag der Bundesregierung hilft er mit, den Friedensprozess in Kolumbien zu gestalten. Er wehrt sich dagegen, 68 im Rückblick zu sehr durch die deutsche Brille zu sehen.
"Es war 'ne internationale Initiative. Und das geht auch nicht mehr verloren, diese Art von Globalisierung. Es geht auch nicht mehr verloren, dass z.B. das Verhältnis zur Sexualität und insbesondere zur Homosexualität sich im Gefolge massiv verändert hat. Auch die Frage der Abtreibung hat sich massiv verändert, auch die Thematisierung der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Oder überhaupt die Thematisierung der Diskriminierung."
"Sie sagen, wir wollten schon Revolution machen. Ist es ein Grund, weswegen es nicht zur Revolution gekommen ist, dass man nicht geschafft hat, in Kontakt mit den Arbeitern zu kommen? Dass es da zu keiner Verbrüderung gekommen ist?"
"Na ja, es hat einen einzigen Moment gegeben, in Frankreich, wo in einer Demonstration sich die Gewerkschaften dieser revoltierenden Jugend angeschlossen haben. Und das hat auch de Gaulle zum Erzittern gebracht, der ja dann darüber nachgedacht hat, von Straßburg aus, ob man nicht doch das Militär aus den Kasernen rufen sollte. Aber, das war in Frankreich mit einer starken, sozialistischen Tradition und Bewegung. Alles andere blieb in einem doch relativ engen symbolischen Bereich der Auseinandersetzung und einer Diffusion der Gedanken und der Angebote an zusätzlichen Freiheiten in die gesamte Gesellschaft."
Die Revolutionäre sind in die Jahre gekommen
Schramm: "Ich kann ja nicht verkennen, dass ganz viel in der Gesellschaft, bei uns und vor allen Dingen auf der ganzen Erde so falsch läuft, dass ich eingestehen muss, dass wir nicht viel erreicht haben. Das muss man sehen, ja. Und von da sind dann so Ideen, dass man große Umbrüche sehr schnell machen kann, sehr, sehr verlockend. Ich wüsste halt nur nicht, wie."
Ein runder Holztisch, drei einfache Stühle. Eine Flasche Wasser, zwei Gläser. Hilde Schramm, die irgendwann in den 80er-Jahren anfing, für die Grünen Politik in Westberlin zu machen, sitzt, von Büchern umgeben, in einem geräumigen, lichtdurchfluteten Zimmer ihrer Lichterfelder Stadtvilla.
Über ihren Vater, Albert Speer, Hitlers Rüstungsminister und Stararchitekt, der bei den Nürnberger Prozessen wegen seiner Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nur knapp der Todesstrafe entkam und nach seiner Haftentlassung unter anderem vom Verkauf von NS-Raubkunst lebte, möchte die 81-Jährige nicht sprechen.
"Mach ich nicht."
Ihr wäre wichtig gewesen, wenn sich die Elterngeneration nicht, wie in ihrem Fall, einfach abgewendet hätte.
Die Revolutionäre von damals sind in die Jahre gekommen. Tom Koenigs, inzwischen 73, ist immer noch viel für den Frieden in Lateinamerika unterwegs. Hilde Schramm ist 81. Sie wirkt viel jünger. Tatkräftig, aber gleichzeitig auch entspannt. Im Haus leben mit ihr zurzeit unter anderen auch fünf aus Syrien Geflüchtete.
Vor knapp drei Jahren hat sie mit Freunden die Initiative "Respekt für Griechenland" gestartet. Es geht ihnen um eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen und europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik gegenüber Griechenland. Viele 68er sind auch 50 Jahre später noch politisch aktiv.
Der "Rausch der Revolution" war für manche ein Besäufnis, dem nichts folgte als nur ein fürchterlicher Kater. Hilde Schramm nahm aus den Erfahrungen dieses Jahres mehr mit.
"Es gibt ´nen wunderschönen Spruch, find ich, d.h.: 'Ziele sind Mittel im Werden'. D.h., zwischen Werden und Ziele muss ´ne kongruente Verbindung sein, sonst zerstöre ich mit meinen Mitteln die Ziele. Also, es hat jede Revolution gezeigt, ja: Wenn Du 'ne humane Gesellschaft aufbauen willst und bringst erst mal die Hälfte deiner Gegner um, dann kannst Du keine humane Gesellschaft mehr aufbauen."