West-Berliner Merve-Verlag

Kleine Kulturgeschichte der alten Bundesrepublik

Der Henry-Ford-Bau der Freien Universität Berlin (1960)
Auch an der FU war das Kollektiv zu Hause und gab sich den Theorien hin. Später entstand daraus der West-Berliner Merve-Verlag © dpa / picture alliance / Konrad Giehr
Von René Aguigah |
Der Merve-Verlag, 1970 gegründet, entstand aus einem sozialistischen Kollektiv von Theorie-Fans, die sich im alten West-Berlin gefunden hatten. Philipp Felsch hat die Geschichte des Verlages aufgeschrieben und dabei - ganz nebenbei - ein Porträt der alten Bundesrepublik geschaffen.
Es muss eine Zeit gegeben haben, in der Lesen und Nachdenken, Politik und Feiern, Kunst und Alltag Teil desselben Lebenszusammenhanges waren. Es muss sich dabei um die 60er, 70er, 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gehandelt haben. West-Berlin, diese untergegangene Insel, muss dabei das Zentrum gewesen sein. Es muss? Jedenfalls zeichnen nicht nur Veteranen des bewegten Lesens ein solches Epochenbild, etwa der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen ("Suche nach dem Handorakel", 2012) oder der Historiker Ulrich Raulff ("Wiedersehen mit den Siebzigern", 2014). Das Bild wird dieser Tage bestätigt, und zwar von einem Nachgeborenen, dem Kulturhistoriker Philipp Felsch, Jahrgang 1972, in seinem neuen Buch "Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte".
Insgesamt unternimmt diese Studie allerdings etwas anderes als die Memoiren alternder Männer, die davon erzählen, dass Lesen einmal angespannte Emphase war. Diese Geschichte ist keine Erinnerung, sondern sie basiert auf Recherche. Vor allem macht sie den lesenden oder feiernden oder politisierenden Menschen des frühen 21. Jahrhunderts plausibel, was unter dem Titel "Theorie" einst alles möglich war. Wenn Grau die Farbe auch jener Theorie sein sollte, dann nur als gleißend schimmerndes Grau.
Von den 1950er-Jahren bis zum Mauerfall
Die Geschichte reicht von der Bundesrepublik der 50er bis zum Mauerfall. Doch obwohl man das Buch entlang dieser chronologischen Linie liest, wirkt es im Rückblick, als sei es in konzentrischen Kreisen aufgebaut. In der Mitte: Peter Gente, der 1957, mit Anfang zwanzig, Theodor W. Adornos "Minima Moralia" für sich entdeckte, mehr noch: diese "Reflexionen aus dem beschädigten Leben" stets in der Tasche trug und immer wieder darin las. Gente gehörte zu den Gründern des Berliner Merve Verlags; der Verlag wäre der zweite Kreis in der kulturellen Landschaft, die dieses Buch durchmisst. 1970 gegründet, praktizierten die frühen Merves alles, was man als sozialistisches Kollektiv so praktizierte: Raubdrucke, die Aufhebung der Grenze von Hand- und Kopfarbeit, Diskussionen ohne Ende, genauer gesagt: bis hin zur Diskussion der "Protokolle von Protokolldiskussionen".
Mitte der Siebziger wurde aus der "internationalen marxistischen diskussion" der "Internationale Merve Diskurs". Das Kollektiv löste sich auf, Gente führte den Verlag gemeinsam mit seiner Partnerin Heidi Paris. Wie kaum ein Verlag zehrte diese publizierende Zelle von ihren Räumen, der Fabriketage mitten in Berlin-Schöneberg, den Bars, Kneipen und Clubs, den Seminarräumen der Freien Universität, den ungezählten Freunden und Freaks im Umfeld. West-Berlin, das ist der dritte Kreis, der dieser "Theorie"-Geschichte konkrete Anschauung verleiht.
Nicht Adenauer, sondern Adorno ist der Urahn
Einen vierten Kreis schließlich mag man nicht anders als die "Diskurse" der Zeit nennen: all die Texte, Projekte, Theoriedesigns, das Gerede, die Rhythmen, Farben und Formen, in denen Merve sich bewegte. Da war im historischen Hintergrund die Suhrkamp-Kultur mit ihrer Reihe "Theorie", die alles andere als akademische Philosophie betreiben wollte. Da waren die Marxismen deutscher, italienischer und französischer Prägung. Da waren Michel Foucault, Gilles Deleuze, Jean-F. Lyotard und Jean Baudrillard – um nur vier heute kanonische Autoren zu nennen –, mit deren Hilfe jegliches Kader-Denken ausgetrieben wurde. Stattdessen schlug die Stunde von Nietzsches Gelächter, vom Tod des Autors, der Mikropolitik der Macht. In den 80er Jahren dann die unvorhergesehene Orientierung zur Kunst. Die Zusammenarbeit mit dem Ausstellungsmacher Harald Szeemann steht emblematisch dafür.
Spätestens wenn man liest, wie verstörend der Terror während des Deutschen Herbstes 1977 sich auf das fragile Gebilde auswirkt, ist klar, dass man keine Verlagsgeschichte in den Händen hält, sondern eher eine kleine Kulturgeschichte der alten Bundesrepublik; eine Geschichte, deren Urahn nicht Adenauer, sondern Adorno heißt, erzählt aus der Perspektive eines Milieus, das man marginal nur insofern nennen mag, als Randfiguren in der Geschichte manchmal deren eigentliche Helden sind. Philipp Felsch erweist sich als brillanter Erzähler seiner Helden. Sein Buch verdankt akribischer Recherche ebenso viel wie seiner Fähigkeit, Details und das Großeganze zu proportionieren, elegant, witzig, unsentimental, wenn auch nicht ohne Nostalgie. Man könnte diesen "Sommer der Theorie" auch nach dem Merve-Band Nummer hundert nennen: "Museum der Obsessionen".

Philipp Felsch: "Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte. 1960-1990"
C. H. Beck
327 S., 24,95 EUR