Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Ton: Andreas Krause
Es sprechen: Hans von Trotha, Anika Mauer
Redaktion: Winfried Sträter
Warum der Westen den Osten nicht verstanden hat
29:27 Minuten
Geografisch lag sie nebenan, im Bewusstsein war sie jedoch weit weg: Die Westdeutschen wussten erstaunlich wenig über die DDR und das Leben der Menschen dort, als 1989 die Mauer fiel. Diese Fremdheit ist auch 30 Jahre später noch nicht überwunden.
Geh doch rüber! "Also, ich weiß nur, dass es ein Lied von Konstantin Wecker gibt", sagt Frank Blohm, "und da greift er das auf von einem kommunistischen Freund, der das also offenbar gesagt bekommen hat. Zu der Zeit war das aber schon ein bekannter Satz, der sich offenbar auch unabhängig von diesem Lied längst verbreitet hatte, landauf, landab."
Ich selbst habe den Satz im familiären Umfeld gehört, als ruchbar geworden war, dass in der jüngeren Generation der Großfamilie die frisch gegründeten Grünen gewählt wurden. Dieses "Geh doch gleich rüber!" älterer Tanten hallt mir noch im Ohr. Erklärend muss man vielleicht hinzufügen, dass das Verhältnis meiner Familie zum Osten, also zur DDR, zur Sowjetunion und in der Folge auch zu den Bewohnern beider Länder, schwer belastet war, weil man zur allerletzten Welle der Kriegsflüchtlinge gehört hatte. Das waren viele Großgrundbesitzer, auch Adelige, die sich bereits sicher gewähnt hatten, weil sie von Amerikanern besetzt worden waren.
DDR als Tatort mythischen Unrechts
Aber dann zogen sich die Amerikaner 1945 im Tausch gegen West-Berlin wieder zurück und die Russen kamen – "der Russe", wie es in hasserfülltem Kollektivsingular hieß. Und dann war alles weg: Schloss, Land, Vermögen, Heimat, Wohnort, soziale Rolle, Zukunft. So kam es, dass für mich der DDR als Tatort eines fast schon mythischen Unrechts immer schon etwas Düsteres, Gefährliches, Unheimliches anhaftete.
Außerdem war es ein Ort, der unumkehrbar mit der Vergangenheit verknüpft war. Entsprechend unerreichbar schien er, so wie die Vergangenheit unerreichbar ist. Umso absurder klang dieses Geh doch rüber!
"Das Spannende war für mich nachher, dass es das auch im Osten gab", sagt Frank Blohm. "Ende der 80er-Jahre, Mitte der 80er-Jahre gab es ja die legale Möglichkeit auszureisen. Und plötzlich gab es auch sowas, also in Varianten."
Frank Blohm hat das immer ganz anders gesehen. Er hat 1986 ein Buch in der Reihe "Anders Reisen" über die DDR geschrieben – was ich, wäre es mir damals untergekommen, auf den ersten Blick wahrscheinlich für Satire gehalten hätte.
"Dann habe ich festgestellt Mitte der 80er-Jahre", erzählt er. "Es gab einerseits viele Missverständnisse, andererseits, und dass die DDR als Reiseland, als Land, wo man auch mal hinfahren konnte, war nahezu unbekannt, für jüngere Leute besonders. Es war, wenn überhaupt, Ziel von Verwandtenbesuchen, und da oft auch sehr zwiespältig erlebt. Aber dass es eigentlich sehr einfach war, mit einer Einladung kreuz und quer durch die DDR zu fahren, oder wie ich getrampt, oder alles Mögliche zu machen, das war so unbekannt, dass mir das als große Lücke erschien. Es gab auch keinen Reiseführer, keine Begegnungsbücher. Über Bolivien oder Peru konnte man sich viel besser informieren als über das Nachbarland."
Ein Versuch des nachträglichen Verstehens
Im Zuge des Versuchs, nachträglich, also von heute aus, besser zu verstehen, wie die Menschen in diesem so fantastisch fernen Nachbarland lebten, ob sie wirklich so anders lebten und so anders waren als wir, oder ob wir uns das nur eingebildet haben – im Zuge dieses Versuchs habe ich den Soziologen Steffen Mau gefragt, wie man wohl damals in Lütten Klein, der Rostocker Neubausiedlung, in der er aufgewachsen ist, auf jemanden wie Frank Blohm reagiert hätte: Einen Westler, der freiwillig wochenlang durch die DDR reiste.
"Ich glaube, wir wären unglaublich fasziniert gewesen", sagt Steffen Mau. "Ich komme gerade aus Transnistrien. Die haben ja auch keine Reisefreiheit. Und das kam mir unglaublich DDR-mäßig vor, weil die Leute – heute haben sie ja Internet und können sich da alles angucken, die sind viel informierter als wir es damals waren. Wir haben ja damals auch jeden Abend Westfernsehen geguckt, – ja, erzähl doch mal, wie es draußen ist!"
Tatsächlich kam uns die DDR weiter weg vor als jedes andere Land. Inzwischen ist mir klar, dass mein Gefühl, was das angeht, gar nicht so einzigartig war, wie ich geglaubt hatte. Die meisten von uns im Westen interessierten sich nicht für den Osten, sprich: Für die DDR, es sei denn, sie hatten enge Verwandte dort.
Steffen Mau hat, ausgehend von der Plattensiedlung Lütten Klein, ein Buch über das "Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft" geschrieben: "Ich bin lange in Bremen gewesen, da war ich immer der Bremer Soziologe, jetzt seit mehreren Jahren der Berliner Soziologe. Jetzt bin ich seit einigen Wochen der ostdeutsche Soziologe Steffen Mau. Das heißt, ich werde jetzt durch den Diskurs, natürlich auch durch die Publikation und dadurch, dass ich mich natürlich auch sichtbar mache als Ostdeutscher, werde ich quasi ossifiziert."
Die Fremdheit im Kalten Krieg
Mau hat vor allem das heutige Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen im Blick – eine Trennung, die es theoretisch gar nicht mehr gibt, die aber praktisch immer tiefer zu werden scheint. Die Gründe dafür liegen womöglich weiter zurück, als man vermuten könnte – nicht in den politischen Entwicklungen der Nullerjahre, auch nicht in den 90ern mit all den drastischen Fehlern, die im Vereinigungsprozess gemacht wurden, sondern in den 80er-Jahren, als sich nach 40 Jahren und auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs Deutsche Ost und Deutsche West so richtig fremd geworden waren.
"Man hat nicht verstanden, dass sich in Ostdeutschland eine eigenständige soziale Formation herausgebildet hat", erläutert Steffen Mau, "natürlich nicht geschlossen und auch nicht einheitlich, aber dass es doch kulturelle Praxen gibt: Selbstverständnisse, Weltsichten, die nicht so ohne Weiteres verwestlicht werden können und sich auch nicht so ohne Weiteres verwestlicht haben. Wenn ich jetzt in Ostdeutschland aus dem Buch lese und mit Leuten ins Gespräch komme, dann kommt ganz häufig die Anmerkung, sie finden das Buch gut, weil sie das Gefühl haben, da wird ihr Leben mal ernst genommen.
Und die sagen nicht so, wie Sie das sagen: Die Ostdeutschen wussten ja nichts vom Westen, sondern da wird gesagt: Die Westler wussten ja nichts vom Osten, die sind ja hier völlig blauäugig hergekommen, die sind ja von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen, die haben gedacht, wir sind Neandertaler und könnten nicht telefonieren. Und dann kommen hunderte Beispiele dazu, wo der Westdeutsche auf den Ostdeutschen wirklich wie auf eine rückständige Spezies, der man erst einmal zivilisatorische Standards beibringen müsste, herabgeguckt hat. Und das ist vielfach als entwürdigend empfunden worden."
Frank Blohm hat in den 80er-Jahren nicht nur das Buch "Anders reisen: DDR" geschrieben, sondern auch einen Sammelband mit Texten zu Ost-West-Begegnungen herausgegeben. Der erschien 1986, natürlich im Westen, und wurde im Jahr 2019 mit Kommentaren nach 30 Jahren deutsch-deutscher Begegnungen ohne Mauer neu aufgelegt. Titel: "Geh doch rüber!".
Womit wir noch einmal bei Konstantin Wecker und seinem West-Republik-Hit "Willy" von 1977 wären, der nicht nur diesen Slogan aufnahm, um eine politische Spaltung in kompromisslose Rechte und kompromisslose Linke schlaglichtartig zu illustrieren, sondern auch darüber hinaus einen Konflikt dramatisierte, der genau so die Gesellschaft der Bundesrepublik heute wieder spaltet - Stichwort: "linksgrün versifft".
Ein Reisebuch über die DDR
Damals, als Konstantin Wecker das Lied schrieb, kündigte sich in der Bundesrepublik gerade die Wende an – Helmut Kohls geistig-moralische Wende von 1982/83. Damals, als ich ein paarmal vorsichtig in die DDR geschaut habe, in jene DDR, in die mich meine Tanten wünschten, sollte ich je auf die Idee kommen, die Revoluzzer zu wählen, die Grünen. Wie man lebte in dieser DDR – das konnte ich mir nicht vorstellen.
Männer wie Frank Blohm waren die Ausnahme. Genau das hat ihn motiviert, den Band "Geh doch rüber!" herauszugeben.
"Im Osten hat man Westbesuch gern", schreibt die Dramaturgin Irene Böhme, die seit 1980 im Westen lebt, 1986 in Blohms Sammelband: "Wenn möglich, wird dem Gast jeder Wunsch erfüllt, aus Küche und Keller herangeschafft, was sich auftreiben lässt. Der West-Gast hat Sonderstatus. Erstes Gebot, er soll das nicht bemerken."
"Das hat Irene Böhme damals in dem Beitrag in den 80er-Jahren schon sehr gut beschrieben", sagt Frank Blohm, "wie beide Seiten eigentlich, verführt durch die gemeinsame Sprache, die Unterschiede leugneten, das Fremde eigentlich am anderen nicht wahrnehmen wollten, beide eigentlich. Beide taten immer so, die Ost- wie die Westdeutschen, als ob man ja nur zufällig auf der anderen Seite der Mauer sozusagen lebt, und tat so, als ob man gar nicht sozialisiert wurde, auch im Westen übrigens nicht – also die Amerikanisierung, mal pauschalisiert gesagt, die ja auch längst stattgefunden hatte."
"Ich sitze hinter den Gittern und bin nicht der Zuschauer"
Steffen Gommel ist Verkaufsleiter beim S. Fischer Verlag. Er ist noch kurz vor dem Mauerfall mit junger Frau und kleinem Kind den steinigen, demütigenden Weg der Übersiedlung gegangen. Die Gommels kamen im Sommer 1989 im Westen an. Wie ist das gewesen? Fühlten sie sich nicht neugierig beäugt wie etwas Fremdes, fast wie Zootiere?
"Das ist wirklich auch ein Bild, das mir oft kam", sagt Steffen Gommel. "Dieses Bild im Zoo. Und ganz klar: Selbst mit dem großen Freiheitsgefühl ganz klar das Gefühl: Ich sitze hinter den Gittern und bin nicht der Zuschauer.
Ich bin an den westlichsten Rand der Bundesrepublik gezogen, nach Mönchengladbach, 15 Kilometer vor der holländischen Grenze. Man war dort als damals ehemaliger DDR-Bürger ein Exot. Und es gab vor allem aus der linken, liberalen Klientel eine totale liebevolle Neugierde, die aber in groteske Situationen mündete.
Ich habe als ersten Job als Bote im Arbeitsamt gearbeitet, und man wurde dann vom Chef des Arbeitsamts eingeladen, so einem gestandenen SPDler, der uns einfach etwas Gutes tun wollte und auch den Karton mit gebrauchten Sachen uns hingestellt hat. Also mit sehr viel Liebe, Neugierde und Zuneigung überschüttet, aber es hat nicht dazu beigetragen, unser Selbstbewusstsein und unser Ankommen zu stärken."
Das klingt nach der Verlängerung einer Institution: des Westpakets. Zu den Banden zwischen Ost und West, also zwischen Ostlern und Westlern gehörten das Westgeld, das Westfernsehen, der Westbesuch und das Westpaket.
"Das Bild, das wir von den Westdeutschen hatten", sagt Steffen Gommel, "war natürlich durch familiäre Besuche geprägt, bei mir noch dadurch, dass ich in der Kirchengemeinde sehr engagiert war, die ganz eng mit der Bundesrepublik viel Projekte zusammen hatten – auch da hatte ich immer das Zoogefühl. Auch da brachte man Butter mit. Das ist leider wirklich kein Spaß. Butter und Reis, weil man nicht genau wusste, wo beginnt denn die Armutsgrenze?"
Der Geschmack des Ostens
Eine publizistische Spezialistin für Westpaket und Westbesuch ist die Feuilletonistin Jutta Voigt. Sie hat eine ganze Reihe von Büchern über das Leben in der DDR geschrieben, aus denen man als Westler immerhin im Nachhinein lernen kann, wie man im Osten gelebt hat.
"Es gab so eine Art Spott", sagt Jutta Voigt. "Da wurde immer gesagt: Der Westen hat keine Ideale mehr. Und da haben Spötter gesagt: Der Osten hat ein Ideal – den Westen."
Unter Jutta Voigts Büchern findet sich eines über die kulinarischen Besonderheiten des Soziotops DDR: "Der Geschmack des Ostens. Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR". "Im Osten wurde wahnsinnig viel gegessen", sagt Jutta Voigt, die auch ein Buch über das alternative Leben dort verfasst hat: "Stierblutjahre. Die Boheme des Ostens". Und ein Buch mit dem Titel: "Westbesuch. Vom Leben in den Zeiten der Sehnsucht".
"Es ging ja immer um Willkommen und Abschied und um Umarmung und Entfremdung", sagt sie. "Man war froh, wenn die wieder nach Hause gegangen waren. Wenn die gesagt haben: Jetzt werden wir mal gehen, wir müssen ja so lange warten an der Grenze und so – das war eine Erlösung, für viele."
Bei meinem Besuch am Kollwitzplatz 2019 liest Jutta Voigt in ihrem Buch "Westbesuch":
"Ein historisch einmaliger Überfluss an Hoffnung. Wer nicht mehr weiter wusste, kannte einen geheimen Ausweg aus Liebeskummer, Midlife Crisis, Weltschmerz und Ehekrach. Sehnsucht ist besser als Selbstmord. Es gab einen glitzernden Notausgang. Der führte in ein Land, das besser schien als alles und den großen Vorteil hatte, utopisch fern - und durch nichts zu entzaubern zu sein.
Die Tür war fest verschlossen, doch manches Mal fiel ein Lichtstreif durch den Türspalt, hinter dem die Erlösung von allem Übel lockte. Irrational, verrückt, absurd. Der dicke Max und der arme August in den Rollen ihres Lebens.
Wie Terrier auf der Promenade haben wir uns beschnüffelt. Im Osten riecht es komisch, stellt der Westbesuch bei der Begrüßungszeremonie jedes Mal fest. Er witterte Abgase. Es riecht hier nach Braunkohle, nach Lysol, nach altem Fett. Die Gastgeber nickten. Bei uns stinkt es. Aber Ihr riecht gut. Ist das Weichspüler?"
"Diese Gemeinsamkeitsunterstellung des Deutschseins"
Da hat das schon angefangen, womit wir es heute, 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, zu tun haben – das anhaltende Nebeneinander zweier deutscher Parallelgesellschaften. "Die Grundsteine wurde damals gelegt, glaube ich schon", sagt Jutta Voigt.
"Es sind, das ist meine feste Überzeugung, keine unterschiedlichen Mentalitäten", sagt Steffen Gommel. "Denn sobald die Sicherheit, der erste Beruf als Buchhändler wieder eintrat – ich bin auch mit Flötenunterricht groß geworden. Sprich: Das Bürgerliche, was zum Beispiel Tellkamp ja beschreibt, so habe ich auch gelebt, auch in der DDR, sodass ich die Welt kannte, mit diesen paar Momenten, die es natürlich nicht gab. Ich bin natürlich nicht als Kind mit nach Paris gefahren und über die Alpen. Aber im Prinzip habe ich das Leben sofort verstanden. Ich habe das Leben nicht als fremd empfunden, bloß den Umgang am Anfang miteinander."
"Natürlich hat man immer diese Gemeinsamkeitsunterstellung des Deutschseins gehabt", sagt Steffen Mau. "Also: Wir gehören eigentlich zu einer Gesellschaft, die durch politische Umstände, durch den bipolaren Konflikt in gewisser Weise getrennt ist, und sobald diese Mauer fällt, tritt wieder diese Einheitlichkeit hervor. Und auch die These der nachholenden Modernisierung, die implizierte ja letzten Endes, man muss nur die Bremsklötze, die das Regime gesetzt hat, wegnehmen, und dann rollt man automatisch in das hinein, was der Westen eigentlich war. Und nun kann man sagen: Die 40 Jahre DDR und womöglich noch Traditionsbestände, die davor liegen, also 100 Jahre oder auch die Zeit des 'Dritten Reiches', das sind natürlich Dinge, die sind mentalitätswirksam, die haben auch die Sozialstrukturen geprägt."
Ein Minderwertigkeitskomplex
"Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, dass die Teilung Deutschlands nicht nur seine staatlich-politische war, sondern auch dass die Teilung Deutschlands auch und nicht zuletzt eine soziale Teilung gewesen ist?"
Das fragte Günter Gaus – Journalist, langjähriger Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin und bekannt für seine Gesprächsformate im deutschen Westfernsehen – 2003 den Büchner-Preisträger Wolfgang Hilbig.
Günter Gaus: "Die Oberschicht, die klassische Oberschicht ist vor der Roten Armee ´45 geflohen", so Günter Gaus weiter. "Die Eigentums- und Bildungspolitik der SED hat den oberen Mittelstand und das Großbauerntum und die Akademiker weithin vertrieben. Das heißt, es blieb in der DDR zurück das, was man früher die Unterschicht nannte, die war relativ undifferenziert am Anfang und ich behaupte, dass die Fremdheit zwischen West- und Ostdeutschen, die nach der Wende auftrat, weniger oder nicht aus der Trennung herrührte, sondern jetzt aus der Begegnung entstand."
Wolfgang Hilbig: "Ja."
Günter Gaus: "Halten Sie das für ganz abwegig?"
Wolfgang Hilbig: "Nein, nein, das finde ich sehr einleuchtend. Ja. Ich finde das sehr einleuchtend. Ich glaube, dadurch ist auch so ein Minderwertigkeitskomplex der DDR-Bürger gegenüber den Westdeutschen entstanden. Der ist genau aus diesem Grund entstanden."
"Ich würde auch nach wie vor sagen, dass bestimmte Elemente davon noch vorhanden sind", sagt der Soziologe Steffen Mau. "Es ist immer noch ein Land der kleinen Leute, und die DDR hat aus meiner Sicht die Bundesrepublik in gewisser Weise unterschichtet."
Steffen Gommel, der beide Seiten kennt, meint: "Dieses, was ja Ostdeutsche immer gern als dieses ungesunde Selbstbewusstsein, die Überhöhung der Westdeutschen, dass sie nie das Gefühl haben, mit Gleichberechtigten zu sprechen, das hat, ehrlich gesagt, auch einen finanziellen Aspekt. Also wenn eine Generation schon dreimal geerbt hat, das trifft natürlich auch nicht auf jede Familie zu – aber wenn man wirklich wieder die erste Familie ist, die das erste Mal den Kindern etwas hinterlassen, das erste Mal den Enkeln überlassen kann. Und das hat sich natürlich noch nicht annähernd eingestellt. Es gibt diese Ungleichheit, und das hat etwas mit wirtschaftlichen Möglichkeiten und Zwängen zu tun."
"Ihr habt ja `68 hinter euch"
"Die Sehnsucht nach dem Westen", sagt Jutta Voigt, "es gab so einen Schlager, den kannten Sie vielleicht auch: 'Zwei Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen'." 1968 ebnet die westdeutsche Schlagerindustrie einer Französin, France Gall, mit der deutschen Version des brasilianischen Schlagers "A Banda" den Weg zu einer Goldenen Schallplatte.
Jutta Voigt: "Wissen Sie, was im Osten gesungen wurde: Zwei Apfelsinen im Jahr und zum Parteitag Bananen". Ihr habt ja ´68 hinter euch Das ist natürlich ein großer Unterschied. Wir haben ja ´68 sehr geliebt. Ich habe zum Beispiel solche Spiele gemacht: Ich habe gefragt: Freunde, was würdest du machen, wenn - sagen Sie mal einen Namen von denen, die gesucht wurden dann – wir hatten das Plakat bei uns im Wohnzimmer zu hängen. Dutschke lag uns sehr nah, ist ja klar, wenn der auch noch aus Luckenwalde kommt. Ich habe einen Freund gefragt, wir saßen im Taxi, und ich habe gefragt: Was würdest du machen, wenn jetzt Raspe vor der Tür stehen würde – würdest du den? Und wer ja gesagt hat, den konnte ich nicht mehr leiden."
Frank Blohm: "Aber natürlich auch die Verarbeitung des Faschismus. Auch da haben die beiden, Ost- wie Westdeutsche, gewetteifert, dass sie die besseren Deutschen letztendlich sind, im Osten mit der Figur des Antifaschisten, als ob nur Antifaschisten übriggeblieben wären, und die haben sich alle in Ostdeutschland versammelt. Das war einfach die Parteilinie, der sich aber letztlich viele anschlossen in der DDR. Und im Westen war es aber auch so: Die Westdeutschen glaubten, sie wären Demokraten, sie hätten das alles jetzt gut gemacht, sie wären die Besseren. Die anderen wären doch die, die nur die Diktatur kennen und entweder als Handlanger des Regimes oder als Mitläufer."
Steffen Mau: "Als wir in die Bundesrepublik hineinkamen, da hatten wir natürlich eine antifaschistische Erziehung genossen. Und die in der Bundesrepublik haben gesagt: Wir haben ´68 gehabt, wir haben das eigentlich durch. Wir sind da vollständig aufgeklärt. Und dann kam die Wehrmachtsausstellung 1995 des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Da haben sich viele Ostdeutsche gefragt: Was geht da eigentlich vor? Warum gibt es Demonstrationen in München oder Stuttgart gegen die Aussage, dass die Wehrmacht an Verbrechen des Nazi-Regimes beteiligt war? Das ist sozusagen im Weltbild der Ostdeutschen unvorstellbar, dass man so etwas überhaupt in Zweifel ziehen kann. Und ich sag einfach mal: dass die Ostdeutschen bei solchen Debatten fast nie zum Zuge gekommen sind."
Historischer Blick auf ein Ost-West-Gefälle
Frank Blohm: "Ich würde gern mal den Blick ein bisschen weiter zurück blenden, weil mir das wichtig ist und mir unterzugehen scheint in der öffentlichen Diskussion, dass es nämlich eigentlich eine viel ältere Denkfigur gibt in Europa und Mitteleuropa, und zwar nenne ich das mal: das West-Ost-Gefälle. Der Westen, Frankreich, Paris, Versailles – das war die Hochkultur, über Jahrhunderte das Bestimmende, letztendlich auch für das Bürgertum, die auch fleißig im 19. Jahrhundert, 20. Jahrhundert noch Französisch lernten. Der Osten, je weiter man nach Osten ging, das fing aber schon mit Ostdeutschland an, was aber nicht das Ostdeutschland von heute war, sondern die Ost-, jetzt polnischen und russischen Gebiete waren, also Ostdeutschland und dann natürlich weitergehend Russland und dahinter irgendwann kamen noch die Hunnen, jedenfalls nach Wilhelm II.. Das waren eigentlich kulturell rückständige Gebiete, auf die schaute man herab. Das war das personifizierte Grauen in gewisser Hinsicht, trotz aller Städte wie Breslau, Krakau, Petersburg. Das war eben die Denkfigur. Und die hat sich transportiert. 1945 war eben nicht Stunde Null, sondern es hat sich jetzt mit der Begriffsverschiebung – früheres Mitteldeutschland wurde jetzt Ostdeutschland - hat sich das also auch gut erhalten und sich daran angeheftet. Natürlich gab es auch weiterhin ein materielles Gefälle, ohne Frage ja, zwischen West-und Ostdeutschland, mit jedem Jahr nach ´45 mehr, aber in gewisser Hinsicht ist das immer ein Blick auf den armen Deutschen im Osten. So ist es aus westlicher Sicht. "
Steffen Mau: "Interessanterweise haben die Ostdeutschen damit gar nicht die Bundesrepublik heute gemeint, sondern ganz häufig die Bundesrepublik des 'Derrick'-Zeitalters, also die 80er-Jahre, wo auch vieles noch deutlich harmonischer, geordneter war, wo auch diese zweite Phase der Globalisierung noch nicht so stark war, auch die Migration anders verarbeitet worden ist."
Jutta Voigt: "Mich hat Westdeutschland nie interessiert. Die Welt hat mich interessiert."
Steffen Mau: "Wir wollten nicht nach Bottrop und Hildesheim. Sondern wir wollten nach Paris und Rom. In gewisser Weise kam uns die Bundesrepublik auch gar nicht so attraktiv vor."
Ich treffe Steffen Mau an der Humboldt-Universität, Jutta Voigt am Kollwitzplatz, Steffen Gommel auf der Fischerinsel – alles vor und auch noch kurz nach dem Mauerfall fast schon mythische Orte für Westberliner wie mich. Und den Psychoanalytiker Frank Blohm besuche ich in seiner Praxis, keine 100 Meter von der Kreuzberger Einzimmerwohnung entfernt, in der ich 1989 in meinem Küchenradio und auf einem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher den Mauerfall miterlebt habe.
Der Mauerfall beendet die aufkeimende Neugier
In den Gesprächen wird mir klar, dass damals, ab Mitte der 80er-Jahre, unser Interesse am Leben - von uns aus gesehen hinter der Mauer - allmählich größer geworden war. Wir hatten begonnen, uns dafür zu interessieren, wie die Menschen auf der anderen Seite der Mauer mit ihren Verhältnissen umgingen. Wie sie lebten, was sie dachten. So gesehen hat der plötzliche Mauerfall, mit dem ja keiner gerechnet hatte, ein zartes Pflänzchen der Neugier verschüttet. Die allzu schnelle Vereinigung – war dann das ideale Terrain, um das alte Überlegenheitsgefühl neu zu kultivieren.
Frank Blohm: "Also, vom Westen aus gesehen, gab es gewissermaßen eine kommunistische Herrschaft, die von Parteigenossen geführt wurde und -anhängern, und der Rest der Bevölkerung war mehr oder weniger geknebelt und geknechtet. Das Bild wurde übrigens sehr transportiert von ehemaligen DDR-Bürgern, die im Westen die Medienlandschaft beherrschten, was den Osten anbetrifft. Das ging über Jahrzehnte, das möchte ich mal unbedingt einflechten, also das war immer ein Bild von Flüchtlingen, die selber die die DDR verlassen hatten. Das waren jedenfalls die prägenden Kräfte, von den 50er-Jahren bis in die 90er ging das sogar. Und damit war aber der Blick verstellt auf so viele andere Lebensformen, die sich mittlerweile in der DDR auch entwickelt hatten."
Jutta Voigt: "Ich habe noch ein schönes Zitat, wobei ich nicht mehr ganz genau weiß, ob es von Volker Rühe ist, der sagte: 'Der Osten hat ein Schicksal. Der Westen hat keins.' Und da ist etwas Wahres dran, weil der Osten – im Osten geht es oft um Gefühle, um Herabsetzung. Und es geht um Anerkennung. Aber Leute, die in Westdeutschland sozialisiert sind, die lügen mehr, ohne das selber zu merken, unbewusst. Also, ich glaube schon, das ist ein Mangel an Empathie."
"Eine wilde Nacht - und dann war auch bald Schluss"
Steffen Mau: "Wenn jetzt immer die Frage ist: Kannte der Osten den Westen nicht? Ja, in gewisser Weise kannte er ihn nicht. Aber er kannte ihn in gewisser Weise auch schon sehr gut – und möglicherweise besser als der Westen den Osten kannte."
Frank Blohm: "Der Westdeutsche sieht ja traditionell gern herab auf den Ostdeutschen, weil der sich ja so angepasst hätte und unterworfen hätte unter die Diktatur. Unterschlägt aber dabei, dass doch jeder von uns im Westen sich auch angepasst hat. So wird also der Ostdeutsche zur Projektionsfläche eigener Unzulänglichkeiten, wie das oft so ist, das Eigene wird verdrängt und dem anderen zugeschrieben, das Negative wird dem zugeschrieben. Und so ist es natürlich umgekehrt auch. Aber jetzt reden wir erst mal von den Westdeutschen, von denen ja immer so wenig geredet wird – weil: Der Westdeutsche redet ja gerne immer über die Ostdeutschen, ungern über sich."
"Das hat nicht so lange angehalten, diese Euphorie", erinnert sich Jutta Voigt. In "Westbesuch" nennt sie die Liebe zwischen denen, die sich 1989 in den Armen lagen, eine Amour fou: "Zwischen Ost und West. Na, eine verrückte Liebe, habe ich damals noch gedacht. Also Liebe stimmt ja nicht. Eine wilde Nacht - und dann war auch bald Schluss."