Unterricht über Religionsgrenzen hinweg
Die Schule "Talitha Kumi" im Westjordanland ist ein Friedensprojekt, das sich der Versöhnung der Religionsgruppen verschrieben hat. Christliche und muslimische Schüler können hier gemeinsam das palästinensische Abitur erwerben. Ein Gespräch dem Lehrer Harald Dallmann.
Philipp Gessler: Wir bleiben im Heiligen Land, im von Israel besetzten Westjordanland, jedoch in den Gebieten der palästinensischen Autonomie. Hier findet sich eine ganz besondere Schule. Sie haben vielleicht schon von ihr gehört, sie nennt sich "Talitha Kumi" – was übersetzt etwa "Mädchen, steh auf!" bedeutet. Das ist ein Satz Jesu, mit dem er ein Kind auferweckt haben soll, wie das Markus-Evangelium es überliefert.
Die traditionsreiche Schule wird vom evangelischen Berliner Missionswerk getragen. Sie liegt in der Nähe von Jerusalem, in Beit Jala, und bietet christlichen und muslimischen Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, hier das palästinensische Abitur Tauwjihi zu erwerben – oder sogar die deutsche Hochschulreife, allerdings machen das nur wenige, sehr gute Schülerinnen und Schüler. Zugleich ist die Schule ganz ausdrücklich ein Friedensprojekt, das sich der Versöhnung der Religions- und Volksgruppen in dieser zerstrittenen Region verschrieben hat.
Vor ein paar Wochen hatte ich die Möglichkeit, mit dem deutschen Lehrer Harald Dallmann von der Schule Talitha Kumi zu sprechen. Der 59-Jährige ist Mitglied der Schulleitung und bereitet die Schülerinnen und Schüler auf das deutsche Abitur vor, die diesen schweren Weg gehen wollen und können. Meine erste Frage an ihn war, ob man an dieser Schule – angesichts christlicher und muslimischer Schüler – den Frieden, auch den Frieden der Religionen vorlebe?
Harald Dallmann: Wir haben natürlich mitunter auch mal zugespitzte Diskussionen mit Kollegen und Schülern, die – vielleicht verständlich auch – eine sehr einseitig palästinensische Position oft äußern. Besonders zu Zeiten des Gazakrieges hatten wir das. Da gab es von palästinensischer Seite sehr viel Jubel über jede Rakete, die da abgeschossen worden ist, und jede israelische Gegenreaktion wurde sehr, sehr kritisiert und beschimpft, und wir haben immer versucht, einmal eine ausgleichende Position zu äußern und auch zu vermitteln. Das war aber gerade zu der Zeit sehr, sehr schwierig.
Gessler: Nun sind ja hier Schuluniformen angesagt, Pflicht, und das Kopftuch ist nicht Teil der Schuluniform, das heißt, es wird erwartet, dass kein Kopftuch getragen wird. Ist das ein Konfliktthema?
Dallmann: Es gibt manchmal Eltern, die um ihre Mädchen bangen, dass die nun nicht sittlich genug gekleidet sind. Wir sagen dazu, wir sind hier innerhalb der Familie, und wie macht ihr das denn zu Hause? Tragt ihr zu Hause Kopftuch? Und dann sagen die Frauen, nein, nein, also wenn wir zu Hause sind, dann machen wir das auch ab. Dann sagen wir: Seht ihr, wir sind hier in der Familie, und deshalb machen wir das auch so. Wir brauchen kein Kopftuch hier zu Hause.
Gessler: Wenn man hier in Palästina ist und nach dem palästinensischen Curriculum lehrt, gibt es, kann ich mir vorstellen, immer wieder Schwierigkeiten zum Beispiel beim Thema Holocaust. Findet der denn statt im Unterricht?
Dallmann: Bei den palästinensischen Lehrplänen, im palästinensischen Sektor bin ich mir relativ sicher, dass der Holocaust keine Rolle spielt.
Gessler: Und das wird hier in der Schule akzeptiert, oder wäre es nicht Pflicht, als deutsche Schule zu sagen, nein, das muss unterrichtet werden?
"Selbstverständlich gibt es Israel"
Dallmann: Wir sind insoweit dann nicht deutsche Schule, sondern unterstehen dem Ministerium für Erziehung der palästinensischen Autonomiebehörde – das ist auch zurückzuführen auf eine Vereinbarung des Schulträgers, des Berliner Missionswerkes, mit der palästinensischen Autonomiebehörde –, sodass dieses als eine palästinensische Schule anerkannt ist, die auch den nationalen Tauwjihi-Abschluss machen kann. Wenn wir das nicht täten, hätten wir gar keine Schüler, weil niemand möchte die Schule ohne Tauwjihi verlassen.
Gessler: Israel wird ja hier in Palästina offiziell überhaupt nicht genannt, es wird nur Besatzungsarmee oder Besatzungsstaat tituliert. Wie handhaben Sie das hier in der Schule?
Dallmann: Also zum Beispiel hatte ich kürzlich im Mathematikunterricht so eine Situation, dass in unserem deutschen Mathematikbuch von Israel die Rede war. Meine Schüler sind wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen teilweise und haben gesagt, Israel gibt es nicht. Und da mussten wir darüber diskutieren, dass es selbstverständlich Israel gibt. Ich sag: Sollen wir mal aus dem Fenster sehen? Was ist denn da hinten zum Beispiel? Selbstverständlich gibt es Israel. Und es macht auch keinen Sinn, die Augen davor zu verschließen und dergleichen, das kann ich alles den Schülern sagen. Inwieweit das dann aber von den Schülern wirklich akzeptiert wird, das wage ich nicht zu beurteilen. Ich vermute mal, dass der Einfluss da von Freunden und Eltern und dem alltäglichen Umfeld, dass das doch sehr viel größer ist.
Gessler: Wird denn hier an dieser Schule in gewisser Weise auch die palästinensische Elite ausgebildet, kann man das sagen?
Dallmann: Kern unseres Geschäfts, sage ich mal, ist eigentlich, der christlichen Bevölkerung eine Schule anzubieten, wo sie ganz sicher hingehen können und auch keinerlei Benachteiligung oder sonst irgendetwas erleiden muss. Und das wird natürlich von den Christen auch wahrgenommen, aber auch viele Muslime sehen darin gar kein Problem und kommen auch gerne zu uns, ohne dass es im alltäglichen Schulbetrieb eine große Rolle spielen würde. Nur beim Fach Religion merkt man dann, wer zu wem gehört, sonst würde man es im Unterricht gar nicht merken.
Gessler: Wie erklären Sie sich eigentlich, dass viele Christen im Nahen Osten oft zur Elite gehören?
Brücken über die Religionsgrenzen
Dallmann: Die Haltung ist möglicherweise eine andere. Es gibt hier das arabische Wort "inschallah", so Gott will. Das ist eigentlich kein christlicher Begriff, das ist ein Begriff, den die Muslime verbreitet haben, und das ist so ein bisschen Ausdruck einer Haltung, "Es geschieht, wie es geschehen soll!". Christen sehen, glaube ich, mehr, dass sie selber auch den Auftrag haben, aus ihrem Leben etwas zu machen, und sie spüren auch mehr eine Selbstverantwortung.
Gessler: Jetzt gibt es ja im ganzen Nahen Osten eine Art Exodus von Christen aus dieser Region – erleben Sie das in dieser Schule auch?
Dallmann: Also in der Schule direkt nicht, aber viele Schüler berichten von Teilen ihrer Familie, die im Ausland leben – auch Kollegen haben Kinder oder Verwandte im Ausland –, und es ist bekannt, dass die Beit Jalis, die hier leben, von der Zahl her weitaus geringer sind als die Beit Jalis in Chile. Da gibt es also mehr als 100.000, während es hier vielleicht so 17.000 sind. Und sie fühlen sich auch durchaus unter Druck und versuchen auch, ganz besonders gute Palästinenser zu sein, um in ihrer Gesellschaft auch als Christen Akzeptanz zu erfahren. Und das führt dann manchmal auch dazu, dass sie noch palästinensischer sind als vielleicht mancher Moslem.
Gessler: Generell ist es ja so, dass christliche Israelis oder christliche Palästinenser oft zwischen allen Stühlen sitzen. Erleben Sie das auch so?
Dallmann: Es gibt auch Konflikte unter den Palästinenser, wenn ich mal die arabischen Christen in Israel mit einbeziehe in dieses Wort. Zum Beispiel hörte ich mal, dass Verheiratungen über die Grenze hinweg ganz, ganz selten sind, weil die eine Fraktion die andere immer so ein bisschen misstrauisch beäugt. Die einen sagen, ihr nutzt da die Vorteile, die ihr als Israelis habt und seid keine echten Palästinenser mehr, und die anderen fürchten so ein bisschen den sozialen Abstieg, wenn man sich in die Westbank begibt und möglicherweise sein Kind auch dorthin verheiratet. Da gibt es also durchaus Probleme zwischen diesen verschiedenen Fraktionen der arabischen Christen.
Gessler: Herr Dallmann, sehen Sie denn tatsächlich eine Chance, dass Ihre Schülerinnen und Schüler am Ende dann doch irgendwie eine Brückenfunktion wahrnehmen können, weil sie eben über Religionsgrenzen hinweg etwas gelernt haben, was man sonst eben nicht lernt?
Dallmann: Ich gebe ein kleines Beispiel: Wir hatten in einem ganz kleinen Arbeitskreis eine Diskussion über unser neues Leitbild an der Schule. Da sollen dann so Kernpunkte erwähnt sein, nach denen wir uns an unserer Schule hier richten. Und ich habe dort zusammengesessen mit zwei palästinensischen Lehrerinnen und einer Schülerin, und die Frage war: Soll in unser Leitbild aufgenommen werden, dass Christen und Muslime an unserer Schule gleichberechtigt sind oder – weil es etwas mit allgemeinen Menschenrechten zu tun hat – sprechen wir von allen Religionen? Wir haben darüber abgestimmt, ich habe mich enthalten, und die Palästinenser haben zwei zu eins für alle Religionen gestimmt. Das habe ich als einen kleinen Hoffnungsschimmer gesehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.