Westliche Werte auf dem Prüfstand

Kulturgeschichte als Geschichte des Antijudaismus

Schauspieler stellen an Karfreitag den Kreuzweg nach
Schon die frühesten Christen verunglimpften die Juden, schreibt Nirenberg. © dpa / picture alliance Alfredo Aldai
Von Yael Kupferberg |
Der Antijudaismus durchzieht das abendländische Denken, immer wieder mündete er in offenem Antisemistismus, das ist die These von David Nirenberg. Sein Anspruch: Einen Bogen über die Jahrtausende zu schlagen, um die älteste Pathologie des Denkens zu entlarven.
Seine These trägt David Nirenberg klar und ungeschminkt vor. Die europäische Ideen- und Kulturgeschichte sei eine Geschichte des Antijudaismus. An "Juden" und "Judentum" arbeite sich das westliche Denken kontinuierlich ab. Darin ist das "Jüdische" also nicht Gegenstand der Erkenntnis, sondern, so David Nirenberg, es übernehme eine Funktion:
"Der Antijudaismus ist keine archaische oder irrationale Kammer im weiten Gebäude des westlichen Denkens, sondern eines der grundlegenden Werkzeuge beim Bau dieses Gebäudes."
Sein Blick umfasst Jahrtausende. Das ist auch für den anspruchsvollen Historiker ein ungewöhnlich weiter Bogen.
"Meine Geschichte des Denkens mit dem und über das Judentum ist von der Überzeugung getragen, dass eine Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart existiert. Das bedeutet sicher nicht, dass die Beziehung eine von Verantwortlichkeit, Kausalität oder Notwendigkeit ist. Ich sage zum Beispiel nicht, die Evangelien hätten den Völkermord verursacht oder Paulus sei verantwortlich für die vielgestaltige Zukunft seiner Worte 'Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig'."
Wohl überlegt zieht er Vergangenes heran, um es mit Gegenwärtigem zu vergleichen, und lässt das Ergebnis wirken, ohne sich festzulegen, ob der einzelne Faden, den er aufgreift und durch das westliche Narrativ verfolgt, am Ende wirklich rot ist oder lediglich bemerkenswert.
"In diesem Buch habe ich zu zeigen versucht, wie Menschen über mehrere Jahrtausende, in vielen Ländern und vielen unterschiedlichen Bereichen menschlicher Aktivität Ideen über Juden und Judentum verwendet haben, um jene Werkzeuge herzustellen, mit denen sie die Realität ihrer Welt konstruieren."
Den Vorwurf des "Verrats" übernahmen dann die frühen Christen
Das fange schon bei den alten Ägyptern an, die ihre jüdischen Nachbarn als Fremde verachteten, und polemisierten, sie würden das Land im Dienste der zeitgenössischen Großmächte Persiens, Griechenlands und Roms unterwandern und destabilisieren. Den Vorwurf des "Verrats" übernehmen die frühen Christen, dann die Muslime; sie behaupten von den Juden, die göttliche Wahrheit zu missachten, indem sie Jesus und Mohammed anfeindeten, anstatt deren kritische Botschaft anzunehmen.
Das unterstellte Motiv der "Unterwanderung" findet Nirenberg wieder im Spanien der Inquisition sowie im Zeitalter der Reformation. Selbst die europäische Aufklärung beseitigte keinesfalls das Feindbild, sondern argumentierte in antijüdischen Bildern. Sprach Voltaire vom Aberglauben, Kant über selbstverschuldete Unmündigkeit und Karl Marx gegen das Privateigentum, konstruierten sie "Juden" und "Judentum" als abschreckende Antithese.
David Nirenberg: Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte westlichen Denkens
David Nirenberg: Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte westlichen Denkens© Promo
Der Antijudaismus ist die wohl älteste Pathologie des Denkens, ein kulturgeschichtliches Phänomen, beharrlich erarbeitet durch eine Vielzahl intellektueller Einzelleistungen, die für sich gesehen wie alle Wissenschaft hinterfragt und diskutiert werden könnten, wären sie nur voller Vorurteile.
Doch der Antijudaismus bewirkte weitaus mehr als einen ideologiehaltigen Diskurs. Bewusst einseitig und negativ angelegt, nährte er einen zähen Hass, der immer wieder als gewalttätiger Antisemitismus gesellschaftlich und politisch ausbrach.
Dieses Phänomen ist seit dem 20. Jahrhundert vielfältig und klug analysiert worden, insbesondere durch Geschichtsschreibung, Soziologie, Philosophie und Psychoanalyse. Um deren Ergebnisse auf den Punkt zu bringen, verweist David Nirenberg auf die Philosophen Adorno und Horkheimer.
Literatur, Philosophie und Historiographie als Korpus
"Antisemitische Ideen hätten ihre Macht weniger aus ihrer Beziehung zur Realität bezogen als aus ihrer Immunität gegenüber Realitätsprüfungen."
Wann immer der menschliche Verstand versagte, an der Komplexität der Welt zu scheitern drohte, suchte er einen Ausweg und fand den Antijudaismus, der ihn zum Antisemitismus führte.
Das historische Material dazu liefert nun David Nirenberg in einer Gesamtschau. Literatur, Philosophie und Historiographie dienen ihm als Korpus. Der breite historische und religionswissenschaftliche Kontext zeugen von Gelehrsamkeit und auch von beeindruckender Sprachkompetenz, denn er hatte den Anspruch, nur Quellen zu untersuchen, die er im Original zu lesen versteht.
So gibt er eine lohnenswerte, verdienstvolle Anregung. Denn Kulturgeschichte als Geschichte des Antijudaismus zu lesen, hilft nachzudenken - über westliche Werte, die unter Druck geraten, und über ein Gewaltpotential, das zerstörerisch wirkt.

David Nirenberg: Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens
C.H. Beck Verlag München, 11. März 2015
592 Seiten, 38,00 Euro