Das transatlantische Bündnis hat sich überlebt
Der Westen ist für Europa nur noch ein Zweckbündnis - ohne erkennbaren Zweck. Seine Epoche geht zu Ende. Es ist Zeit, die Welt neu zu denken, meint der Publizist Dimitrios Kisoudis.
Die NSA-Affäre wirft eine Frage auf, die schon lange unausgesprochen in der Luft liegt: Was verbindet Europa noch mit Nordamerika – ein Vierteljahrhundert, nachdem der Ostblock zusammengebrochen ist?
Eine Epoche unter Völkern wird bestimmt von den Feindschaften und Freundschaften. Sie geht zu Ende, wenn ihr historischer Rahmen weggefallen ist. Als sich der kommunistische Osten und der kapitalistische Westen feindlich gegenüberstanden, war die Welt klar unterteilt. Weniger auf der Karte als in den Köpfen.
Denn offensichtlich befand sich Europa mit dem Osten auf einem großen Kontinent namens Eurasien. Von Amerika hingegen war es durch die Weiten des Atlantiks getrennt. Zwischen Lissabon und New York lagen fünfeinhalbtausend Kilometer Salzwasser, zwischen Westberlin und Ostberlin eine 3 Meter 60 hohe Mauer.
Die Gemeinsamkeiten im Westen, sie waren eher ideologisch als geografisch. Und natürlich sind ideologische Grenzen alles andere als fest, denn sie verlaufen nur im Kopf. Auch im Osten gab es heimliche Anhänger freier Wahlen und freien Handels, umgekehrt bekannten sich im Westen zahllose Bürger offen zum Kommunismus.
Mit dem Eisernen Vorhang fiel der gemeinsame Feind
Und die Geheimdienste hatten auf beiden Seiten gut zu tun, um die Feindbilder zu pflegen – auch um den Preis politischer Unruhen. Der Demonstrant Benno Ohnesorg wurde von einem Stasi-Agenten ermordet, die RAF wurde vom Berliner Verfassungsschützer Peter Urbach bewaffnet und später von der Stasi unterstützt.
Mit dem Eisernen Vorhang fiel der gemeinsame Feind namens Kommunismus. Es entstand ein neuer auf der Weltkarte: die islamistischen Kämpfer. Die Bande der NATO-Staaten konnten neu geschlossen werden. Nach dem 11. September 2001 folgte Europa den USA nach Afghanistan. Es hieß, die eigenen Werte im Krieg gegen den Terror zu verteidigen. Aber diese Rechnung ist nicht aufgegangen.
Mehr noch: Seit überall nachzulesen ist, dass der Westen im syrischen Bürgerkrieg jene Seite unterstützt, auf der sein früherer Erzfeind kämpft, ist es vorbei mit seiner Glaubwürdigkeit. Und erst recht ist es für eine "Wertegemeinschaft" wie den Westen unverzeihlich, ein Massaker wie das in der christlichen Stadt Maalula hinzunehmen.
Der Westen hat die Orientierung verloren. Seine Außenpolitik wirkt beliebig, kurzatmig. Heute noch kann ein Politiker oder Kämpfer ein guter Freund sein, morgen schon wird er als Tyrann oder Terrorist zum Feind erklärt.
Die USA spielen sich immer noch als Hegemonialmacht auf
Lange wurde der Iran als Paria isoliert, während Saudi-Arabien als Bündnispartner durchging. Ist es etwa freiheitlicher, Frauen das Autofahren zu verbieten, wie die Saudis es tun, als sie zum Studieren ins Kopftuch zu zwingen, wie der Iran? Ist die wahhabitische Monarchie freier, toleranter oder transparenter als die Islamische Republik?
Und nun kommt die Ironie der Geschichte nach 1990: Gerade das alte westliche Ideal, der freie Handel hat Westeuropa mit dem ehemaligen Ostblock zusammenwachsen lassen, während die Auslandsgeschäfte mit den USA an Bedeutung verloren haben. Die Länder, die früher „unfrei“ genannt wurden, sie wollen heute in erster Linie freie Geschäfte auf Augenhöhe machen.
Dagegen spielt sich der Anführer des Westens, spielen die USA sich immer noch als Hegemonialmacht in Europa auf. Als würden sie uns vor irgendeinem Feind beschützen. Sie überwachen nicht nur unsere Politiker, sie verschleppen, foltern, führen geheime Kriege und nennen es „Freihandel“, wenn staatsnahe Großkonzerne wie Monsanto sich in Europa unter Beugung europäischer Bestimmungen breit machen.
Der Westen ist für Europa nur noch ein Zweckbündnis - ohne erkennbaren Zweck. Seine Epoche geht zu Ende, sein Bauprinzip wird langsam sichtbar: Unterwerfung und Überwachung. Es ist Zeit, die Welt neu zu denken.
Dimitrios Kisoudis, Publizist, geboren 1981, studierte Historische Anthropologie, Germanistik und Hispanistik in Freiburg. Er arbeitet fürs Fernsehen und befasst sich mit Ideologien. Letzte Buchveröffentlichungen: "Politische Theologie in der griechisch-orthodoxen Kirche" sowie als Mitherausgeber "Solange das Imperium da ist. Carl Schmitt im Gespräch mit Klaus Figge und Dieter Groh 1971".