Wichtigste Quelle menschlicher Konflikte
Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert galt der Begriff der Mimesis – griechisch für Nachahmung – als Kategorie der Ästhetik und Kunsttheorie. Nach Aristoteles lieben die Menschen das Theater, weil sie die Nachahmung lieben.
Das bestätigt in einer umfassenden Untersuchung der französische Kulturanthropologe und Literaturwissenschaftler René Girard. "Shakespeare – Theater des Neides" heißt sein Buch, das gut zwanzig Jahre nach Erscheinen des französischen Originals nun auf Deutsch vorliegt.
In "Sommernachtstraum", einem der meistgespielten Stücke des englischen Dramatikers, treten Handwerker auf, die zu Ehren ihres Herzogs ein Theaterstück einstudieren. So, erklärt Girard, böte sich den keineswegs professionellen Darstellern die Möglichkeit einer "mimetischen Verwandlung". Nicht bloß zuschauen wollen sie, sondern selbst ein Heros sein. Und mehr: Einer möchte gar alle Rollen spielen: den Liebhaber, die Geliebte, einen Löwen, den Mond, selbst eine Wand. Plötzlich steht er als Esel da, ist ein Monster geworden vor lauter Begehren, seine Kameraden laufen panisch davon. Für René Girard ein Beleg, dass Nachahmung die Menschen nicht nur zusammen, sondern auch voneinander fort treibt.
Seit den 1960er Jahren hat Girard, Mitglied der Académie francaise und emeritierter Professor der kalifornischen Stanford-Universität, sich mit Mimesis beschäftigt und eine eigene Theorie dazu formuliert. Sie weist weit übers Ästhetische hinaus. Liebe und Hass, Neid und Rivalität findet er bei seinen Text-Analysen nach einem bestimmten Muster dargestellt, in dessen Zentrum er das "mimetische Begehren" sieht. Dieses ist für ihn die wichtigste Quelle menschlicher Konflikte.
Shakespeare gilt Girard als Kronzeuge für seine Theorie, als "strategisch denkender Dramatiker", dessen Stücke nach mimetischen Prinzipien konstruiert sind.
Anhand zahlreicher Beispiele aus den Dramen Shakespeares weist Girard nach, dass die Autonomie des Begehrens eine trügerische Illusion ist. Dass es immer Vorbilder oder Vermittler gibt, durch die Begehren auf ein bestimmtes Objekt gelenkt wird. Dass Begehren sich widerspiegeln muss, um sich zu beglaubigen und die Nachahmung zwischen Menschen Harmonie ebenso wie Rivalität erzeugt. Girard nennt das die "mimetische Doppelbindung". Seine mimetische Theorie entwickelt er als Kulturtheorie, in klarer Frontstellung gegen die Psychoanalyse: Girard behauptet eine Grundtragik des Menschen – die sich erkennen, aber nicht wegerklären lässt.
Vor diesem Hintergrund ist seine Shakespeare Lektüre scharfsinnig – aber auch überheblich. Einerseits nimmt er Literatur als Daseinsentwurf ernst. Er gibt mit Liebe zum Detail und ungeheurer Akkuratesse Hinweise auf die Konstruktion von Konflikten und Handlungsmotive im Werk des Dramatikers. Es gelingt ihm überzeugend, die Figuren zu entpsychologisieren und ihnen einen Raum zu verschaffen, in dem sie unser Leben in allen Möglichkeiten und Verstrickungen spiegeln.
Doch kann das eine gute Inszenierung ebenso. Wer Shakespeares Stücke in den letzten zwanzig Jahren auf der Bühne gesehen hat, weiß, dass Girard so originell nicht ist, wie er selbst es glaubt. Seine wiederholten Vorwürfe, Kritiker und Literaturwissenschaftler verstünden Shakespeare nicht, sind überflüssig. In ihnen spürt man das Ressentiment eines großen Geistes, der Shakespeare auf dem Papier, nicht aber auf der Bühne studiert hat.
Besprochen von Carsten Hueck
René Girard: Shakespeare. Theater des Neides
Aus dem Englischen übersetzt von Wiebke Meier
Carl Hanser Verlag, München 2011
568 Seiten, 29,90 Euro
In "Sommernachtstraum", einem der meistgespielten Stücke des englischen Dramatikers, treten Handwerker auf, die zu Ehren ihres Herzogs ein Theaterstück einstudieren. So, erklärt Girard, böte sich den keineswegs professionellen Darstellern die Möglichkeit einer "mimetischen Verwandlung". Nicht bloß zuschauen wollen sie, sondern selbst ein Heros sein. Und mehr: Einer möchte gar alle Rollen spielen: den Liebhaber, die Geliebte, einen Löwen, den Mond, selbst eine Wand. Plötzlich steht er als Esel da, ist ein Monster geworden vor lauter Begehren, seine Kameraden laufen panisch davon. Für René Girard ein Beleg, dass Nachahmung die Menschen nicht nur zusammen, sondern auch voneinander fort treibt.
Seit den 1960er Jahren hat Girard, Mitglied der Académie francaise und emeritierter Professor der kalifornischen Stanford-Universität, sich mit Mimesis beschäftigt und eine eigene Theorie dazu formuliert. Sie weist weit übers Ästhetische hinaus. Liebe und Hass, Neid und Rivalität findet er bei seinen Text-Analysen nach einem bestimmten Muster dargestellt, in dessen Zentrum er das "mimetische Begehren" sieht. Dieses ist für ihn die wichtigste Quelle menschlicher Konflikte.
Shakespeare gilt Girard als Kronzeuge für seine Theorie, als "strategisch denkender Dramatiker", dessen Stücke nach mimetischen Prinzipien konstruiert sind.
Anhand zahlreicher Beispiele aus den Dramen Shakespeares weist Girard nach, dass die Autonomie des Begehrens eine trügerische Illusion ist. Dass es immer Vorbilder oder Vermittler gibt, durch die Begehren auf ein bestimmtes Objekt gelenkt wird. Dass Begehren sich widerspiegeln muss, um sich zu beglaubigen und die Nachahmung zwischen Menschen Harmonie ebenso wie Rivalität erzeugt. Girard nennt das die "mimetische Doppelbindung". Seine mimetische Theorie entwickelt er als Kulturtheorie, in klarer Frontstellung gegen die Psychoanalyse: Girard behauptet eine Grundtragik des Menschen – die sich erkennen, aber nicht wegerklären lässt.
Vor diesem Hintergrund ist seine Shakespeare Lektüre scharfsinnig – aber auch überheblich. Einerseits nimmt er Literatur als Daseinsentwurf ernst. Er gibt mit Liebe zum Detail und ungeheurer Akkuratesse Hinweise auf die Konstruktion von Konflikten und Handlungsmotive im Werk des Dramatikers. Es gelingt ihm überzeugend, die Figuren zu entpsychologisieren und ihnen einen Raum zu verschaffen, in dem sie unser Leben in allen Möglichkeiten und Verstrickungen spiegeln.
Doch kann das eine gute Inszenierung ebenso. Wer Shakespeares Stücke in den letzten zwanzig Jahren auf der Bühne gesehen hat, weiß, dass Girard so originell nicht ist, wie er selbst es glaubt. Seine wiederholten Vorwürfe, Kritiker und Literaturwissenschaftler verstünden Shakespeare nicht, sind überflüssig. In ihnen spürt man das Ressentiment eines großen Geistes, der Shakespeare auf dem Papier, nicht aber auf der Bühne studiert hat.
Besprochen von Carsten Hueck
René Girard: Shakespeare. Theater des Neides
Aus dem Englischen übersetzt von Wiebke Meier
Carl Hanser Verlag, München 2011
568 Seiten, 29,90 Euro