Wider die Gewalt
Terrorismus, Krieg, Bombenanschläge - und doch, so Steven Pinker in seinem Buch "Gewalt", leben wir heute in der friedlichsten Epoche aller Zeiten. Wortgewandt liefert er auf über tausend Seiten Argumente gegen Panikmacherei, wirkt dabei aber bisweilen etwas ausgefranst.
Dass die Welt immer brutaler wird, das ist nicht nur der Eindruck leichtfertig aufgestachelter Bild-Leser. Auch Walter Benjamins berühmter "Engel der Geschichte", eine Instanz mit Überblick, sah noch vor dem Zweiten Weltkrieg in der Vergangenheit "eine einzige Katastrophe, die Trümmer auf Trümmer häuft". Nicht so Steven Pinker. Der kanadische Evolutionspsychologe verficht in seinem Opus magnum die gegenteilige Behauptung: "Die Gewalt ist über lange Zeiträume immer weiter zurückgegangen, und heute dürften wir in der friedlichsten Epoche leben, seit unsere Spezies existiert."
Weil Pinker "eine neue Geschichte der Menschheit" vorlegen will, fällt seine Beweisführung über 1033 Textseiten zuzüglich 178 Seiten Apparat ziemlich erschlagend aus und beginnt überdies heikel. Ohne jegliche Quellenkritik zitiert Pinker das Alte Testament und Homers "Odyssee" als verlässliche Berichte über Gewalt in vorchristlicher Zeit und fügt aus bunt vermischten Aspekten ein erstes Panorama zusammen: Die Lage habe sich unstrittig gebessert, was man schon daran erkennen kann, dass die Menschen heute nicht mehr akzeptieren, was über Jahrtausende der selbstverständlich-blutige Gang der Dinge war.
Dann macht Pinker ernst. Er zieht von der statistischen Analyse über militärgeschichtliche, kulturhistorische und psychologische Untersuchungen bis hin zur politischen und religionskritischen Betrachtungen alle Register. In sechs Kapiteln jeweils vom Umfang kleiner Bücher wird die Geschichte der Gewalt in die Geschichte ihrer Bezähmung eingeschrieben.
In "Der Befriedungsprozess" stützt sich Pinker auf Thomas Hobbes, der Konkurrenz, Unsicherheit und Ruhmsucht als wesentliche Konfliktursachen ausgemacht hat, und feiert erstmals den "Leviathan" (den modernen Staat) als Institution der Befriedung. In "Der Prozess der Zivilisation" lässt sich Pinker von Norbert Elias inspirieren und zeigt die Verfeinerung gesellschaftlicher Gewaltvermeidungsstrategien. "Die Humanitäre Revolution" schockt mit Details von Folter, Krieg und Hexenverbrennungen, feiert aber gleichzeitig Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" als wahres Evangelium friedlicher Ko-Existenz.
"Der lange Friede" dient dem überraschenden Nachweis, dass das 20. Jahrhundert nicht das blutigste der Geschichte gewesen sei (Pinker setzt die absoluten Opferzahlen des Zweiten Weltkriegs in Relation zur Weltbevölkerung und folgert daraus, dass zum Beispiel die mongolischen Eroberungen im Verhältnis noch mörderischer gewesen seien als der Krieg 1939-45). "Der neue Friede" überblickt die Nachkriegszeit im globalen Maßstab inklusive Irak- und Afghanistan-Krieg, während Pinker in "Die Revolutionen der Rechte" die Liberalisierungstendenzen vor allem mit Blick auf den Westen vorführt.
Pinker, der sich selbst als "jüdischer Atheist" vorstellt, ist ein Virtuose des Baukasten-Prinzips. Er hat starke Thesen, er hat gute Argumente, er schöpft aus riesigen Datenspeichern - aber er will auch drum herum viel erzählen, kommentieren, reflektieren; außerdem mag er assoziative Bezüge, Geistesblitze und Witz. So dankenswert das bei übersichtlicheren Projekten wäre - im Fall von "Gewalt" stört es die Text-Ökonomie. Das Buch wirkt bisweilen wie ausgefranst.
Auf Seite 712 beginnt der Endspurt. In "Innere Dämonen" gibt Pinker die heutzutage offenbar unumgängliche Lecture in Neurobiologie und untersucht von der Rachsucht über den Nationalismus bis zum Sadismus die Gegner im Befriedungsprozess. Dann kommen "Bessere Engel" ins Spiel, die dafür sorgen, dass die Menschheit nicht mehr vom rechten Weg abkommt: Empathie, Selbstbeherrschung, Moral und Tabu, die messbare Zunahme der Intelligenz (!) usw. Weshalb Pinker am Ende im Glauben an "die Kräfte von Zivilisation und Aufklärung" mit aller Welt "Auf Engelsflügeln" in die Zukunft schwebt.
Wer ohnehin an die Kräfte von Zivilisation und Aufklärung glaubt, könnte nun sagen: Pinker rennt mit "Gewalt" offene Türen ein. Dafür liefert er ein atemberaubendes Arsenal von Argumenten, mit dem man Panikmachern und Kulturpessimisten entgegenwirken kann. Wenn man auch hier und dort Zweifel spürt, wünscht man sich umso mehr, dass Pinker richtig liegen möge. "Gewalt" lässt für das nächste Jahrtausend der Menschheit weit Besseres erhoffen als die Hiobsbotschaften, die täglich in der Zeitung stehen. Das ist doch ein prima Lohn für die Lesearbeit.
Besprochen von Arno Orzessek
Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
1212 Seiten, 26 Euro
Links bei dradio.de
Mit aller Gewalt
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Fromm und gewalttätig
Weil Pinker "eine neue Geschichte der Menschheit" vorlegen will, fällt seine Beweisführung über 1033 Textseiten zuzüglich 178 Seiten Apparat ziemlich erschlagend aus und beginnt überdies heikel. Ohne jegliche Quellenkritik zitiert Pinker das Alte Testament und Homers "Odyssee" als verlässliche Berichte über Gewalt in vorchristlicher Zeit und fügt aus bunt vermischten Aspekten ein erstes Panorama zusammen: Die Lage habe sich unstrittig gebessert, was man schon daran erkennen kann, dass die Menschen heute nicht mehr akzeptieren, was über Jahrtausende der selbstverständlich-blutige Gang der Dinge war.
Dann macht Pinker ernst. Er zieht von der statistischen Analyse über militärgeschichtliche, kulturhistorische und psychologische Untersuchungen bis hin zur politischen und religionskritischen Betrachtungen alle Register. In sechs Kapiteln jeweils vom Umfang kleiner Bücher wird die Geschichte der Gewalt in die Geschichte ihrer Bezähmung eingeschrieben.
In "Der Befriedungsprozess" stützt sich Pinker auf Thomas Hobbes, der Konkurrenz, Unsicherheit und Ruhmsucht als wesentliche Konfliktursachen ausgemacht hat, und feiert erstmals den "Leviathan" (den modernen Staat) als Institution der Befriedung. In "Der Prozess der Zivilisation" lässt sich Pinker von Norbert Elias inspirieren und zeigt die Verfeinerung gesellschaftlicher Gewaltvermeidungsstrategien. "Die Humanitäre Revolution" schockt mit Details von Folter, Krieg und Hexenverbrennungen, feiert aber gleichzeitig Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" als wahres Evangelium friedlicher Ko-Existenz.
"Der lange Friede" dient dem überraschenden Nachweis, dass das 20. Jahrhundert nicht das blutigste der Geschichte gewesen sei (Pinker setzt die absoluten Opferzahlen des Zweiten Weltkriegs in Relation zur Weltbevölkerung und folgert daraus, dass zum Beispiel die mongolischen Eroberungen im Verhältnis noch mörderischer gewesen seien als der Krieg 1939-45). "Der neue Friede" überblickt die Nachkriegszeit im globalen Maßstab inklusive Irak- und Afghanistan-Krieg, während Pinker in "Die Revolutionen der Rechte" die Liberalisierungstendenzen vor allem mit Blick auf den Westen vorführt.
Pinker, der sich selbst als "jüdischer Atheist" vorstellt, ist ein Virtuose des Baukasten-Prinzips. Er hat starke Thesen, er hat gute Argumente, er schöpft aus riesigen Datenspeichern - aber er will auch drum herum viel erzählen, kommentieren, reflektieren; außerdem mag er assoziative Bezüge, Geistesblitze und Witz. So dankenswert das bei übersichtlicheren Projekten wäre - im Fall von "Gewalt" stört es die Text-Ökonomie. Das Buch wirkt bisweilen wie ausgefranst.
Auf Seite 712 beginnt der Endspurt. In "Innere Dämonen" gibt Pinker die heutzutage offenbar unumgängliche Lecture in Neurobiologie und untersucht von der Rachsucht über den Nationalismus bis zum Sadismus die Gegner im Befriedungsprozess. Dann kommen "Bessere Engel" ins Spiel, die dafür sorgen, dass die Menschheit nicht mehr vom rechten Weg abkommt: Empathie, Selbstbeherrschung, Moral und Tabu, die messbare Zunahme der Intelligenz (!) usw. Weshalb Pinker am Ende im Glauben an "die Kräfte von Zivilisation und Aufklärung" mit aller Welt "Auf Engelsflügeln" in die Zukunft schwebt.
Wer ohnehin an die Kräfte von Zivilisation und Aufklärung glaubt, könnte nun sagen: Pinker rennt mit "Gewalt" offene Türen ein. Dafür liefert er ein atemberaubendes Arsenal von Argumenten, mit dem man Panikmachern und Kulturpessimisten entgegenwirken kann. Wenn man auch hier und dort Zweifel spürt, wünscht man sich umso mehr, dass Pinker richtig liegen möge. "Gewalt" lässt für das nächste Jahrtausend der Menschheit weit Besseres erhoffen als die Hiobsbotschaften, die täglich in der Zeitung stehen. Das ist doch ein prima Lohn für die Lesearbeit.
Besprochen von Arno Orzessek
Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
1212 Seiten, 26 Euro
Links bei dradio.de
Mit aller Gewalt
Europas Weg zum Frieden
Fromm und gewalttätig