Widerstand in Vietnam

Der zarte Protest aus Saigon

Werbeplakate der Kommunistischen Partei in Saigon, Vietnam.
Sie ist überall: Die Kommunistische Partei wirbt mit übergroßen Plakaten für sich. © Philipp Eins
Von Philipp Eins |
Die Kommunistische Partei hat Medien, Militär und 95 Millionen Vietnamesen fest unter Kontrolle. Aber 89 Jahre nach ihrer Gründung begehren junge Studierende in Saigon auf. Sie gehen auf die Straße für Umweltschutz und Meinungsfreiheit im Netz.
Es ist früher Abend in Saigon, noch immer liegt eine feuchte Hitze über der Stadt. Überall knattert, brummt und hupt es. Autos fahren dicht an dicht, dazwischen drängeln sich Motorroller. Tausende, nein – Abertausende von ihnen brausen über breite Boulevards und durch enge Gassen. Per Moped-Taxi bin ich in ein eher vornehmes Viertel im Nordosten von Ho-Chi-Minh-Stadt gefahren – so heißt Saigon offiziell. Hier bin ich mit Cai verabredet.
Ich treffe sie in ihrem Apartment. Cai heißt eigentlich anders, zu ihrem Schutz haben wir ihren Namen geändert. Das ist in Vietnam ratsam, wenn man gegen die Kommunistische Partei aufbegehrt, der einzig legalen Partei im Land. Studenten wie die 27-jährige Cai fühlen sich von deren autoritären Strukturen, der Korruption und Vetternwirtschaft zunehmend eingeengt. Die Folgen sind sichtbar.
"In den vergangenen fünf Jahren haben in Vietnam die Umweltprobleme zugenommen. Eine Tochterfirma des taiwanesischen Konzerns Formosa zum Beispiel hat Giftmüll ins Meer geleitet, unzählige Fische trieben tot vor der Küste. Aber es war nur die Spitze des Eisbergs. Vor allem wir Jungen sind uns dieser wenig nachhaltigen Industriepolitik der Regierung bewusst. Und wir denken, es ist unsere Zukunft, wir müssen unseren Mund aufmachen und über dieses Problem sprechen!"

Vietnam bei Pressefreiheit auf Platz 175 von 180

Die Umweltsüden der Firma Formosa prangerten junge Studenten 2016 lautstark in der Innenstadt von Saigon an. Aber auch Tierschutz bringt die politisierte Generation neuerdings auf die Straße – oder Handelsthemen wie die Sonderwirtschaftszonen, die mit Dumping-Steuersätzen US-Konzerne ins Land locken sollen. Und erst vergangenes Jahr gingen sie gegen ein geplantes Online-Gesetz auf die Straße.
"Im neuen Cyber-Gesetz sehen wir eine Gefahr. Wenn du in sozialen Netzwerken schlecht über die Regierung schreibst, kann sie von Facebook oder Google deine persönlichen Daten anfordern. Und dann können sie alles mit uns machen, was sie wollen. Die Definition ist nicht klar, deshalb haben wir echt Angst und sind wirklich besorgt über das."
Wie schon bei den Demonstrationen gegen den Konzern Formosa war Cai auch bei den Protesten gegen das Cyber-Gesetz dabei. Die Regierung sei davon völlig überrumpelt gewesen, sagt sie. Abweichende Meinungen gibt es nicht im Ein-Parteien-Staat Vietnams, die Medien sind gleichgeschaltet.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen belegt Vietnam Platz 175 von 180. Obwohl die Verfassung von 1992 Meinungsfreiheit garantiert, werden Berichte über demokratische Reformen unterdrückt. Wer dennoch darüber berichtet, muss mit harten Strafen rechnen. 15 Bürgerjournalisten sind derzeit in Haft. Auch gegen junge Demonstranten wie Cai geht die Regierung vor. 22 Stunden saß sie hinter Gittern, nachdem sie gegen das Cyber-Gesetz protestierte.
"Ich hab noch Glück gehabt. Einer der Demonstranten wurde für vier Tage eingesperrt. Verwandte von Inhaftierten kamen zur Polizei, sagten: Sie können nicht einfach Leute länger als 24 Stunden wegsperren, das ist gegen das Gesetz! Sie haben nichts Kriminelles getan! Den Polizisten war das egal. Ich glaube, die Partei ist immer noch unschlüssig, wie sie mit den Demonstranten umgehen soll. Es gibt keine rechtliche Regelung dafür."
Ein häufiger Vorwurf seitens der Regierung sei, dass die Demonstranten von NGOs aus dem Ausland instrumentalisiert und bezahlt würden. Stimmt nicht, sagt Cai. Sie wolle sich bloß für ihr Land, für ihre Zukunft engagieren. Seit der Verhaftung aber ist das schwieriger für sie geworden.
"Nach meiner Verhaftung auf der Demonstration haben sie mich auf eine Schwarze Liste der Regierung gesetzt. Wenn sie vor den Wochenenden das Gefühl haben, es könnte mal wieder eine Demo geben, sitzen Polizisten vor meiner Wohnung und erlauben mir nicht rauszugehen. Also, sie sagen es nicht direkt. Die Polizisten stehen einfach direkt vor meiner Wohnung. Und ich sollte dann wissen, was ich zu tun habe."
Blick auf Saigon - das wirtschaftliches Zentrum Vietnams. Man sieht viele Hochhäuser und einen Fluss.
Saigon: Metropole mit etwa 14 Millionen Einwohnern. Nicht alles lässt sich hier durch die Regierungspartei kontrollieren.© Philipp Eins
Die Sicherheitskräfte setzten auch Freunde von ihr unter Druck, erzählt Cai. Das macht sie nur noch wütender. Einschüchtern lassen will sie sich aber nicht. In der südvietnamesischen Metropole Saigon mit geschätzt rund 14 Millionen Einwohnern könne die Regierung nicht jeden kontrollieren – und gebe es sowieso noch mehr Freiheiten als eine Tagesreise weiter nördlich, in der Hauptstadt Hanoi.
"Wir tauschen uns mit Freunden in Hanoi aus und wissen: Hier in Ho-Chi-Minh-Stadt ist es viel einfacher zu demonstrieren. Wir sind weit weg von der Sonne, sagen wir. Die Sonne, das ist die Partei. Wenn du ihr nicht zu nahe kommst, hast du mehr Schatten, wo du dich austoben kannst."

Ungezügelter Kapitalismus und Staatskommunismus

Seit Jahren wächst Saigon ungebremst. Die Stadt verändert sich jeden Tag – und bringt kuriose Widersprüche zum Vorschein. Auf dem Prachtboulevard "Nguyễn Huệ" ziehen an Festtagen Parteikader und deren Anhänger an Luxushotels, Einkaufszentren und Museen vorbei. Neben Plattenbauten stehen architektonische Überbleibsel französischer Kolonialisten aus dem 19. Jahrhundert. Das Stadtzentrum bildet die katholische Kathedrale Notre Dame von Saigon, ein roter Klinkerbau mit zwei spitzen Kirchtürmen. Obwohl die überwältigende Mehrheit der Einwohner Buddhisten oder konfessionslos sind, ist die Kathedrale ihr ganzer Stolz.
Ein anderer Widerspruch ist nahe dem französischen Opernhaus zu sehen. Dort hängen zwei Plakate am Straßenrand: eines von der Kommunistischen Partei, das ans Ende des Pazifikkriegs im Jahr 1945 erinnert, ganz im Stil von alten Sowjetzeichnungen. Mit breiten Pinselstrichen zu Papier gebrachte Arbeiter und Soldaten, die ihre Fäuste zum Himmel strecken. Und gleich daneben hängt das bunte Werbeposter einer amerikanischen Fastfoodkette.
Ungezügelter Kapitalismus und Staatskommunismus – in Saigon geht beides zusammen. Schon in den 1980er-Jahren öffnete sich Vietnam für die Marktwirtschaft. Heute steht das Land an der Schwelle zum wirtschaftlichen Aufbruch. Im Dezember 2015 unterzeichnete die Regierung mit der EU ein Freihandelsabkommen. Auch die Zollfreiheit mit anderen südostasiatischen Staaten ist beschlossene Sache. In den Großstädten beträgt das Wachstum bis zu 25 Prozent pro Jahr, die Regierung treibt die Privatisierung von Staatsunternehmen voran. Trotz großer Armut auf der einen Seite wächst der Wohlstand auf der anderen. Die Aufbruchsstimmung nährt den Wunsch nach politischer Erneuerung.

Junge Aktivisten entwickeln Kampagnen für Umweltschutz

Neben Studenten wie Cai, die ihre Ideen auf die Straße tragen, gibt es auch Menschen wie die 30-jährige Tuong. Sie arbeitet für die Umweltschutzorganisation "Change". Dort arbeitet sie an politischen Reformen – als Partner der Regierung. Das Büro von "Change" liegt in einem Bezirk im Westen von Saigon. Cai empfängt mich am Eingang, entschuldigt sich für die Unordnung. Alte Bücher in den Regalen, überflüssige Dokumente auf den Schreibtischen – alles muss weg. Die rund 20 Mitarbeiter von "Change" sind gerade dabei, das Büro auszumisten. Es braucht Platz für Neues, erzählt sie in einem Schnellrestaurant gegenüber.
"'Change' wurde von der Vietnamesin Hoang Thi Minh Hong gegründet. Sie war die erste Vietnamesin, die in die Antarktis gereist ist. Als sie die Veränderungen dort gesehen hat, verstand sie, wie wichtig das Thema Klimawandel für die Welt und unser Land ist."
"Change" ist offiziell in Vietnam zugelassen, als Teil der Gewerkschaft für Technologie und Wissenschaft. Die NGO erhält finanzielle Unterstützung vom Staat, aber auch von internationalen Organisationen wie "Wildlife International" aus den USA – ein recht neues Konstrukt in Vietnam. "Change" organisiert vor allem Aufklärungskampagnen zum Schutz bedrohter Tiere wie dem Nashorn – in sozialen Netzwerken wie Facebook und YouTube.
"'Wildlife International' wollte von uns, dass wir eine Kommunikationskampagne entwickeln. In Vietnam gibt es den Irrglauben, dass die Hörner von Rhinozerossen bei der Behandlung gefährlicher Krankheiten helfen, gegen Krebs zum Beispiel. Mit unserer Kampagne wollten wir die Menschen aufklären, dass das keine Medizin ist."
Auch bei "Change" sind es vor allem Studenten und junge Leute, die sich engagieren. 30 bis 40 neuen Aktivisten rekrutiert Tuong jedes Jahr. Sie besuchen Windkraftanlagen, entwickeln Ideen, für neue Online-Kampagnen, aber auch Kooperationen mit Universitäten und Unternehmen aus dem Bereich erneuerbare Energien. Aktionen auf der Straße sind nur schwer möglich.
"Wir haben auch Offline-Events organisiert – wie Konzerte. Aber das war kompliziert. Wir mussten die Sänger auflisten und von der Regierung genehmigen lassen. Außerdem brauchen wir für solche Events offizielle Partner. Wenn wir nur Online-Kampagnen fahren, ist es einfacher. Wir müssen nicht die Regierung fragen."
Das Foto zeigt die Sitzung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Vietnams in Hanoi Ende Dezember 2018.
Zentrum der Macht: das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Vietnams.© imago / Xinhua
Aber Tuong und die Mitarbeiter der Umwelt-NGO brauchen auch die Regierung, um die großen Probleme anzugehen. Der Mekong, der den südlichen Landesteil rund um Saigon mit Wasser und Fisch versorgt, ist verschmutzt und droht bei steigendem Meeresspiegel zu versalzen. Hier müsse die Regierung aktiv werden, meint Tuong. Aber das genüge nicht. Die ganze Bevölkerung müsse ein Umweltbewusstsein entwickeln. Darauf zielen ihre Kampagnen im Internet.
"Wir glauben, dass auf lange Sicht die direkte Aufklärungsarbeit mit den Menschen sehr wichtig ist. Wenn wir die Aufmerksamkeit der Menschen gewinnen, werden sie unser Anliegen eher verstehen und handeln, als wenn es nur eine Vorschrift der Regierung ist. Das ganze Bewusstsein im Umgang mit der Natur muss sich ändern, und zwar aus freien Stücken. Das wird unsere Gesellschaft letztlich besser machen."

Katholiken helfen benachteiligten Teenagern

Ich fahre mit dem Roller-Taxi Richtung Westen. Hier verliert Saigon das europäische Gesicht. In der Luft liegt der Geruch von Grillbananen und gebratenem Schweinefleisch. Er kommt aus bunt geschmückten Marktständen und Ladenlokalen in maroden, zweigeschossigen Häusern. Verkäufer sitzen auf weißen Plastikstühlen neben ihrer Ware, eine alte Frau mit Bambushut schenkt Suppe in eine Keramikschüssel. Der zehnte Bezirk ist auch als Chinatown bekannt. Etwa 70 Prozent der Einwohner sind Chinesen. Ihren Unterhalt verdienen sie mit dem Verkauf von Blumen, Holzschnitzereien und geflochtenen Körben.
Etwas weiter südlich liegt die Berufsschule der Ordensgemeinschaft "Don Bosco". Ein Lehrer steht im Klassenzimmer, skizziert eine Box mit Antenne an der Tafel. Die Schüler sollen ein Radio erraten – auf Englisch.
Etwa 30 Teenager sitzen eng gedrängt in dem schmucklosen Raum. Sie kommen aus strukturschwachen Regionen Südvietnams oder ärmeren Stadtteilen in Saigon. Die katholischen Ordensbrüder finanzieren ihnen eine Ausbildung, damit sie später in Hotels oder Restaurants arbeiten können. Neben Englisch stehen auch regelmäßige Kochstunden auf dem Programm. Geleitet wird die Schule vom 38-jährigen Ordensbruder Joseph Phan Trung Hoan. Seit 2005 gehört er der Gemeinschaft "Don Bosco" an. Ich treffe ihn in der Lehrküche, zwischen Herdplatten, Töpfen und Pfannen.
"In diesem Jahr haben wir 106 Studenten in drei Jahrgängen. Sie leben mit uns während des Tages, nehmen mit uns Frühstück, Mittag und Abendessen ein. Wir beten mit unseren Studenten und fühlen uns gemeinsam für ihre Erziehung verantwortlich. Jeden Morgen bieten wir eine Sprechstunde für sie an. Ich stehe auch ständig in Kontakt mit den Lehrern. Ich kümmere mich also mein ganzes Leben hier um die Studenten."
Ordensbruder Joseph Phan Trung Hoan gibt benachteiligten Teenagern Kochkurse in einer großen Küche. Jeder hat eine Pfanne in der Hand.
Ordensbruder Joseph Phan Trung Hoan gibt benachteiligten Teenagern Kochkurse, damit sie später einen Job im Gastgewerbe finden.© Philipp Eins
Ob sie Christen sind oder nicht, spielt für Bruder Joseph keine Rolle. Der Katholizismus ist seit dem 17. Jahrhundert in Vietnam präsent. Europäische Missionare brachten ihn ins Land, unter Druck der französischen Kolonialherrschaft wurde er weiter ausgebreitet. Im Rahmen des Kommunistischen Umsturzes mussten viele Christen flüchten, vor allem aus dem Norden des Landes. Dennoch gehören rund sieben Prozent der Bevölkerung noch heute katholischen Gemeinden an. Joseph entschied sich als junger Erwachsener, Mönch zu werden.
"Es war die richtige Entscheidung, Priester zu werden. Wir arbeiten mit den jungen Menschen in Vietnam, denen, die benachteiligt werden. Die Situation vieler Jungen und Mädchen in Vietnam ist sehr schwierig."
In den 1960er-Jahren hatte Vietnam ein relativ gut ausgebautes, dreistufiges Bildungssystem. Nach dem teilweisen Rückzug der Zentralregierung aus dessen Finanzierung nahmen die Probleme aber zu, vor allem auf dem Land. Es mangelt an Klassenräumen und qualifizierten Lehrkräften. Laut Schätzungen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank liegt die Arbeitslosenquote auf dem Land bei über 20 Prozent. Bruder Joseph und die anderen Mönche arbeiten mit ihrer Initiative dagegen.
"Mittlerweile kannst du den christlichen Glauben recht frei praktizieren, solange du dich aus der Politik heraushältst. Besonders in Saigon gelingt das recht gut. Es ist eine große, weltoffene Stadt. In der Hauptstadt Hanoi ist es nicht ganz so unbeschwert für Gläubige wie uns."

"Die Machthaber in Hanoi werden sich ändern"

Am Abend lockt das bunte Nachtleben von Saigon. Im "Backpacker District" stampfen die Bässe der Straßencafés, vor denen Feuerspeier ihre Kunststücke aufführen. Auf den Dachterrassen der mondänen Hotels in der Innenstadt werden Bier und Wein ausgeschenkt und in versteckten Szenebars wie der "Snuffbox Lounge" in einem verlassenen Hinterhof edle Drinks serviert. Bis in die frühen Morgenstunden. Die Nacht gehört den Jungen. Und schon bald könnte ihnen auch der Tag gehören, meint die Studentin Cai.
"Wenn mehr und mehr junge Menschen ihre Augen öffnen, reisen und sehen, wie das Leben im Ausland ist, dann werden sie anders über unsere Regierung denken, die die freie Meinungsäußerung verbietet. Stell dir mal vor, in 20 Jahren werde ich 47 sein. Die Machthaber in Hanoi kommen dann aus meiner Generation. Auch sie können sich verändern. Sie werden vielleicht ihre eigenen Ideen haben, die von unseren Demonstrationen beeinflusst wurden. Sie werden sich ändern, auch wenn es ein langer Prozess sein wird."
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