Widerstand von Erfurter Nonnen gegen die Nazis

Als jüdische Schülerinnen Schutz im Kloster fanden

12:20 Minuten
Blick in ein Klassenzimmer im Erfurter Ursulinenkloster
Als jüdische Kinder in den 1930er-Jahren keine öffentlichen Schulen mehr besuchen durften, nahmen die Nonnen des Erfurter Ursulinenkloster 20 jüdische Mädchen in ihrer Schule auf. © Bistumsarchiv Erfurt
Andrea Wittkampf im Gespräch mit Kirsten Dittrich |
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Schikane, Bedrohungen, Schulverbot – in den Jahren nach 1933 wurde das Leben in Deutschland für Juden unerträglich. Es gab aber auch Orte des Widerstands. Trotz Nazi-Bespitzelungen nahmen die Ursulinen-Nonnen jüdische Mädchen an ihre Klosterschule auf.
Kirsten Dietrich: Kloster – der Name kommt vom lateinischen claustrum, der verschlossene Ort. Und übertragen meint das ein Leben, getrennt und abgeschieden von der Welt, von der nicht geistlichen Welt. Von außen scheint das oft eher wenig erstrebenswert, wer im Kloster lebt und das freiwillig tut, empfindet es dagegen als Schutzraum, der geistliches Leben ermöglicht. Und manchmal gibt dieses Abgeschiedensein auch Schutz für Menschen, die eigentlich gar nicht zum Kloster gehören.
Über einen solchen Fall möchte ich jetzt reden. Er führt zurück in dunkle Zeiten, in die Zeit des Nationalsozialismus ab 1933. Das Kloster, um das es geht, stand und steht immer noch in Erfurt, es geht um die Ursulinen. Bewegende Details aus der Zeit von 1933 bis 1938 im Ursulinen-Kloster in Erfurt sind gerade erst bekannt geworden, erforscht von der Historikerin und Archivarin Andrea Wittkampf. Ich freue mich sehr, mit ihr darüber reden zu können.
Viele Orden geben dem Motto "beten und arbeiten" ja ihre ganz eigene spezielle Ausprägung. Vielleicht fangen wir mal damit an, wie ist denn diese Ausprägung bei den Ursulinen beschaffen?
Wittkampf: Die Ursulinen legen als einziger Orden noch ein viertes Gelübde ab, und zwar das der Schul- und Mädchenerziehung. Sie haben sich seit der Gründung verpflichtet, sich um die Mädchenbildung zu kümmern.
Dietrich: Und das sind immerhin schon 500 Jahre.
Wittkampf: Ja.

Nazis bespitzelten die Nonnen

Dietrich: Es geht um die Klosterschule in Erfurt. Und da kamen Unterlagen aus der Zeit des Nationalsozialismus in Ihre Hände als Mitarbeiterin im Archiv des Bistums Erfurt. Was ist Ihnen da aufgefallen?
Wittkampf: Zunächst war ich total überrascht, dass es überhaupt Unterlagen zum Nationalsozialismus gab, weil es immer hieß, es ist nichts aufgehoben worden, gerade zu jüdischen Schülerinnen, weil es einfach zu gefährlich sei. Und dann bin ich auf die Karteikarten gestoßen und die Meldedaten, in denen auch explizit verzeichnet war, jüdisches Bekenntnis. Und dann war es für mich aber auch eine Überraschung, dass es etliche Unterlagen gibt, wie sehr die Nazis sich bemüht haben, die Nonnen zu bespitzeln und wirklich einzukreisen und die Schule dichtzumachen.
Dietrich: Warum ist das so ungewöhnlich, dass es solche Unterlagen gibt?
Wittkampf: Zum einen, dass die das im Kloster wirklich aufgehoben haben. Und die Schwestern erzählten mir auch, sie wussten zwar, dass es Jüdinnen an der Schule gab, aber nicht, dass das schriftlich fixiert wurde.

20 jüdische Mädchen besuchten die katholische Schule

Dietrich: Wie ungewöhnlich war es denn, dass an einer katholischen Schule Schülerinnen mit einem anderen Bekenntnis oder gar einer anderen Religion unterrichtet wurden?
Wittkampf: Das war überhaupt nicht ungewöhnlich. Erfurt ist ja seit der Reformation eine hauptsächlich evangelische Stadt, und die Ursulinen-Schule war eine der wenigen katholischen Schulen eben hier in Thüringen. Von daher war es ganz selbstverständlich, dass vor allem auch evangelische Mädchen unterrichtet wurden. Aber bei meinen Untersuchungen tauchten auch russisch-orthodoxe, griechisch-orthodoxe und so weiter auf.
Dietrich: Es geht um gut 20 Schülerinnen, die in der Zeit zwischen 1933 und 1938 an der Schule waren, an der Klosterschule der Ursulinen. Der Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Regime liegt ja eigentlich schon allein durch diese Daten fast auf der Hand. Haben Sie denn genauere Informationen gefunden über die Gründe, warum diese jüdischen Schülerinnen an die katholische Klosterschule gegangen sind?
Wittkampf: Ja. Ab April 1933 war es Jüdinnen und auch Juden natürlich verboten, öffentliche Schulen zu besuchen. Und man war aber natürlich trotzdem interessiert, Bildung irgendwie zu erhalten. Dann war es eben ein Angebot, ich weiß nicht, wie das zustande gekommen ist, ob eben die Eltern an die Schule sich gewandt haben oder ob das über die jüdische Gemeinde vermittelt wurde – auf jeden Fall kamen ab 1933 bis 1938 gut 20 Mädchen.

Warum nahmen die Ursulinen die Jüdinnen auf?

Dietrich: Aber warum genau die Eltern ihre Schülerinnen da angemeldet haben, ob das wirklich war, um dem Schulverbot für jüdische Schülerinnen zu entgehen, das geben die Unterlagen nicht her?
Wittkampf: Nein. Ich habe wie gesagt nur ganz normale Meldekarten, die es eben für katholische, evangelische, jüdische Mädchen gab. Und da steht eben kein Grund drauf.
Dietrich: Wissen Sie denn etwas über die Motivation der Ursulinen-Schwestern, diese jüdischen Schülerinnen an ihrer Schule aufzunehmen?
Wittkampf: Ich denke, es gab überhaupt keine Motivation, also keinen Druck von außen. Meines Erachtens und so, wie ich jetzt mit den Schwestern auch gesprochen habe, war das einfach wirklich reine Nächstenliebe und eben die Verpflichtung, Bildung weiterzugeben. Und egal wem, sie öffneten einfach die Türen.

Die Gestapo schien irritiert und empört zu sein

Dietrich: Die Klosterschule geriet ja nach 1933 ziemlich schnell in Schwierigkeiten mit der Gestapo. Lag das an den jüdischen Schülerinnen?
Wittkampf: Nein, nicht nur. Vor dem zweiten Vatikanum waren Kloster natürlich noch viel verschlossener. Man konnte keinen Einblick gewinnen. Und das hat die Gestapo vollkommen irritiert, so scheint es mir. Aber was in den Unterlagen immer wieder notiert ist, dass die Schwestern Rom-hörig sind, alles nach Rom hinbiegen – und dass sie deswegen auch nicht geeignet seien, die Mädchen im deutschen Sinne, im sogenannten deutschen Sinne, zu erziehen.

Dietrich: Sie zeigen ja in Ihrem Buch auch Unterlagen und Bespitzelungsprotokolle der Gestapo, wo regelrecht empört vermerkt wird, dass Lehrerinnen gesagt hätten, dass Juden auch Menschen seien und dass man deswegen mit einer antisemitischen Einstellung da in der Schule nicht weiterkommt.
Wittkampf: Ja, es gab – das erzählt Eva Herzberg in einem der Filme, die man in Berlin an der Shoa Foundation angucken kann …

Antisemitismus wurde im Kloster gemaßregelt

Dietrich: Eva Herzberg ist eine ehemalige Schülerin, wir kommen gleich noch auf sie und ihre Schwester zu sprechen.
Wittkampf: Sie erzählt, dass es auch unter den Schwestern antisemitische Äußerungen gab. Aber es gab anscheinend, so wie man eben diese Gestapo-Protokolle verstehen muss, auch antisemitische Handlungen von Schülerinnen, die dann wirklich regelrecht von den Lehrerinnen gemaßregelt wurden.
Dietrich: Aber eine heile Welt, in der jetzt auf einmal ein Garten der Akzeptanz für die jüdischen Schülerinnen sich aufschloss, das war dieses Kloster nicht.
Wittkampf: Nein, das denke ich nicht. Es war bestimmt ein Ort der Ruhe, wo man morgens hinging und nachmittags wieder im Alltag genau den antijüdischen, antisemitischen Drangsalierungen ausgesetzt war.

1938 schlossen die Nazis die Schule

Dietrich: Konnte das Kloster denn wirklich ganz körperlichen Schutz gegen die Welt geben? War das so ein abgeschlossener Schutzraum, wo auch wirklich niemand von der staatlichen Gewalt sich traute, reinzuregieren?
Wittkampf: Es kam tatsächlich keiner rein. Das Perfide war dann ja, dass zum Schluss, 1938, die Schule erst geschlossen werden konnte, nachdem eine Visitation stattgefunden hat, an der man Etliches bemängelte, zu viele katholische Bücher in der Bücherei, kein Hitlerbild oder nur kleine Hitlerbilder, aber dafür überall Kreuze und Papstbilder. Das waren dann alles die Gründe, um die Schule zu schließen. Aber das war der einzige Weg, in die Schule reinzukommen.
Mit Schreibmaschine ausgefüllter Fragebogen. 
Fragebogen zur politischen Beurteilung der Schulleiterin Schwester Bonaventura Trutz 1937.© Bistumsarchiv Erfurt
Dietrich: Die Klosterschule wurde mit dem Ende des Schuljahres im April 1938 geschlossen. War das das Ende für das Ursulinen-Kloster in Erfurt insgesamt?
Wittkampf: Nein. Die Schule wurde geschlossen. Und für die Schule war es definitiv dann Schluss. Auch als nach Ende des Krieges die Amerikaner kamen und die Russen, wurde die Schule nicht wiedereröffnet. Es wurde dann eine städtische Schule, schon 1938, in den Gebäuden eingerichtet, die blieb dann bis nach der Wende. Und ab 1992 gibt es unter der Regie des Bistums wieder die Edith-Stein-Schule. Aber das Kloster besteht jetzt noch und besteht seit gut 350 Jahren.

Geschichten der Klosterschulen lagern in den Archiven

Dietrich: Es gab natürlich auch im Nationalsozialismus mehr Klosterschulen als diese eine. Wissen Sie etwas darüber, ob das Verhalten der Erfurter Ursulinen einmalig war oder ob auch andere Klosterschulen so gehandelt haben und jüdischen Schülerinnen oder Schülern Unterschlupf und Bildung gewährt haben?
Wittkampf: Hundertprozentig kann ich es nicht sagen, aber man kennt ja die Geschichte zum Beispiel vom Saul Friedländer, der in einem katholischen Internat überlebt hat in Frankreich. Aber wie es in katholischen Schulen in Bayern, im Rheinland, in Westfalen aussah, kann ich nicht sagen. Das ist meine Bitte und Empfehlung, wirklich in die Kisten und Archive reinzugucken und meinetwegen auch an den Schulen mit Schülerprojekten und so weiter die Schulgeschichte aufzudecken.
Dietrich: Das heißt, da gibt es noch viel zu forschen?
Wittkampf: Ja, schätze ich.
Ein handschriftlich ausgefüllte Meldekarte.
Meldekarte der St Ursula-Schule für die jüdische Schülerin Hanna Herzberg (1935). © Bistumsarchiv Erfurt
Dietrich: Von einer Schülerin, Hannah Herzberg, gibt es autobiographische Erinnerungen. Sie erwähnten gerade schon ihre Schwester, Eva Herzberg, die auch kurz Schülerin an der Schule war. Und Hannah Herzberg hat wirklich einen ganz bewegenden Bericht geschrieben über ihr Aufwachsen als jüdische Deutsche, von ungeheurer Widerstandskraft kann man da lesen und von grausamer Unterdrückung. Wie erinnert sich Hannah Herzberg denn an ihre Zeit an der Ursulinen-Schule?
Wittkampf: Hannah erinnert sich ausgesprochen positiv, auch in dem Video. Sie schreibt in ihrem Bericht, dass sie eben ihre Mathematik- und Kunstlehrerin sehr mochte. Was mich sehr fasziniert hat, ist, dass namentlich eine Martha Gonzaga erwähnt wird, die eben Musikunterricht erteilt und ihr Geigenunterricht erteilte. Und dass sie eben faszinierend fand, dass die Martha Gonzaga eben trotz des Habits die Geige unter das Kinn klemmen konnte und trotzdem die Hände frei hatte. Und diese Leidenschaft für das Geigenspielen zieht sich durch das ganze Leben von der Hannah Herzberg zum Beispiel durch.

Lernen als Überlebensstrategie

Dietrich: Hannah Herzbergs Geschichte lag bisher nur auf Englisch vor, Sie haben sie übersetzt und im Buch angeführt. Hannah Herzbergs Weg, der führte von Erfurt über Paris nach Holland, dann in die tödliche Maschine der Lager und KZs – und von dort schließlich in die USA. Das ist wirklich ein ungeheuer bewegender Lebensbericht, finde ich. Ein Punkt, der mir beim Lesen aufgefallen ist, wie wichtig für Hannah Herzberg der Besuch der Schule war, wie viel sie dafür eingesetzt hat, um egal in welcher Lebenssituation so viel Bildung wie möglich zu bekommen.
Wittkampf: Das auf jeden Fall. Man liest in ihrem Bericht, wie gerne sie zur Schule gegangen ist, dass sie das wirklich alles eingesaugt hat und immer traurig war, wenn sie in Holland wieder die Schule verlassen musste oder in eine Schule, in eine andere Klasse gehen musste. Und dass sie aber wirklich alles eingesogen hatte. Sie schreibt von ihrer Zwangsarbeit, die sie in Freiberg in Sachsen leisten musste, und dass sie da, um nicht abzustumpfen und zu verkümmern, lateinische Verben konjugierte, um einfach wach zu bleiben.

Berührender Zufallsfund

Dietrich: Der Bericht endet damit, dass sie dann nach Hause kommt. Und dann sagt: Wir waren daheim und am nächsten Tag ging ich zur Schule. Das macht es fast noch unerträglicher zu wissen, finde ich, wie vielen Kinder und Jugendlichen auf der Flucht zum Beispiel heute der Schulbesuch verweigert wird. Die Geschichte von Hannah Herzberg und von den jüdischen Schülerinnen des Ursulinen-Klosters, das war ein Zufallsfund. Was bedeutet der Fund denn für Sie über die Dokumentation dieses Abschnitts der Zeitgeschichte hinaus?
Wittkampf: Für mich war das wirklich ein Geschenk. Ich habe mich viel schon vorher mit der Shoa und so weiter beschäftigt. Aber dann wirklich selbst da einzutauchen und Tag und Nacht mehr oder weniger mich damit zu beschäftigen und zu übersetzen, das ist mir schon sehr nahegegangen. Das konnte ich auch nicht so ganz einfach abschütteln. Und was mir ganz wichtig ist, dass einfach nicht nur die riesengroßen Taten zählen, sondern wirklich auch die kleinen Sachen, wie die Ursulinen eben ihre Türen geöffnet haben, und dass einfach Mitmenschlichkeit das A und O im Umgang miteinander ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Andrea Wittkampf: "Wie außerdem bekannt ist, gehören mehrere Jüdinnen der Schule an: Die Erfurter Ursulinen-Schule 1933 bis 1938 und Hannah Herzbergs Rückblick auf die Shoa"
Vopelius Verlag Jena, 172 Seiten, 19,80 Euro

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