Wie amerikanisch wird der deutsche Wahlkampf?

Von Leonard Novy |
Der Wahlkampf kann längst als eröffnet gelten. Jetzt zählen nicht mehr nur Fakten und die Macht des besseren Arguments, es geht auch um Stimmungen, Persönlichkeiten und um die professionelle Vermarktung von Politik. Niemand weiß das besser als Gerhard Schröder. Vor sieben Jahren im April nominierte die SPD ihn in Leipzig erstmals zum Kanzlerkandidaten. Doch es war kein üblicher Parteitag, es war eine Krönungsmesse: Pompös, perfekt inszeniert und einzig und allein auf die Person Schröders zugeschnitten. Es ist gut möglich, dass Historiker in dem Schauspiel einmal die Geburtsstunde der deutschen Mediendemokratie sehen werden.
Die Leipziger Personality Show, Wortkreationen wie das Konzept der "Neuen Mitte" und Schröders virtuoser Umgang mit den Medien werden oft als Belege für eine vermeintliche Amerikanisierung der deutschen Politik, eine kampagnenpolitische Aufrüstung nach dem Vorbild der USA, ins Feld geführt. Die Politik, so wird geklagt, habe sich gänzlich dem Diktat der Medien und des Marketings unterworfen. Die Authentizität des politischen Personals, Inhalte und das deliberative Element von Politik gingen dabei verloren.

Die Ideale der Aufklärung - geopfert auf dem Altar der Showpolitik? Fest steht: die älteste Demokratie der Welt hat in der Kampagnenführung Standards gesetzt. Und auch wenn deutsche Politiker gerne in das Klagelied über die Politverflachung auf der anderen Seite des Atlantiks einstimmen, sind sie sich nicht zu schade, diese genau zu verfolgen. Von Amerika lernen, heißt eben Siegen lernen.

Doch kann bei genauerer Betrachtung von einer Parallelität der Wahlszenarien keine Rede sein. Denn Wahlkämpfe finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern vor dem Hintergrund länderspezifischer Strukturen und Traditionen. Nur im präsidialen Regierungssystem der USA mit seinen relativ schwachen Parteien ist es zum Beispiel möglich, eine Kampagne vollends auf den Spitzenkandidaten auszurichten. Zwar spielen auch in Deutschland Persönlichkeits- und Sympathiewerte eine große Rolle, doch ist der Spitzenkandidat inhaltlich und organisatorisch von seiner Partei abhängig und zudem ins Koalitionssystem eingebunden. So lassen sich die einzelnen Glieder der traditionell starken deutschen Mitgliederparteien, die Schreiners, Seehofers und Ströbeles, wenn überhaupt erst spät auf eine kommunikative Linie bringen. Schlammschlachten mit dem politischen Gegner, in den USA als 'negative campaigning' durchaus üblich, lohnen sich dagegen kaum - man weiß ja nie, mit wem man nach den Wahlen zusammenarbeiten muss.
Wie in Amerika bemühen sich auch deutsche Parteien verstärkt, Informationen über ihre Anhänger zu sammeln, um diese mit den jeweils passenden Kommunikationsinhalten bedarfsberecht anzusprechen. Doch ist der Aufbau der dafür erforderlichen Datenbanken ein mühsames Geschäft, dem hier enge datenschutzrechtliche Grenzen gesetzt sind. Vom "gläsernen Wähler" sind wir weit entfernt. Auch fehlen für die persönliche Ansprache der Wähler, wie sie den grassroots-Wahlkampf in den USA auszeichnete, die Mittel und, nicht zuletzt, die dafür erforderliche Mentalität. Wer sollte in Deutschland die vielen tausend Freiwilligen rekrutieren, die dazu notwendig wären? Und wer würde ihnen die Türen aufmachen, stünden sie mit Prospekten ausgestattet vor der Haustür?

Abhilfe könnte das Internet schaffen, das in den USA mit 'blogs', speziellen Themenseiten und innovativen Werbeformen längst zum selbstverständlichen Bestandteil der Kampagnenführung avanciert ist. Von einer vergleichbaren Verlagerung politischer Prozesse in den virtuellen Raum kann bei uns jedoch keine Rede sein. An der Technik mangelt es nicht, doch zu groß ist die Angst der Parteien, dass das potenziell unberechenbare Internet die Kohärenz ihrer Botschaften untergräbt. Dominieren, so viel ist gewiss, wird wieder einmal die Schrödersche Trias aus "BILD, Bams und Glotze" und hier vor allem die aus den USA importierten TV-Duelle. Für eine echte Übernahme fehlen deutschen Wahlkampfmanagern die Ressourcen – und diesmal mangelt es, angesichts des extrem kurzen Vorlaufs, auch an der Zeit. Zu erwarten ist daher ein impromptu-Wahlkampf mit einer partiellen Übernahme von US-Rezepten.

Im Grunde handelt es sich dabei weniger um eine Amerikanisierung als um eine Entwicklung, die die amerikanische wie deutsche Politik, trotz aller Unterschiede, vor eine ähnliche Herausforderung stellt, die mediendemokratische Transformation der Politik: Traditionelle Parteibindungen lösen sich auf. Wähler entscheiden ungebundener, wechselhafter und sind enthaltungsfreudiger. Obwohl Angela Merkel zurzeit als "gefühlte Kanzlerin" gilt, wie es Politikexperte Matthias Machnig ausdrückt, schätzen Experten, dass diesmal 40 Prozent der Deutschen einen Monat vor der Wahl noch unentschlossen sein werden. Gleichzeitig steht die Politik unter dem permanenten Druck der Medien, die ihrerseits unter ganz anderen Bedingungen operieren als noch vor zehn Jahren. Politik entsteht heute in einem Machtdreieck, das aus den Massenmedien, der in Meinungsumfragen aggregierten öffentlichen Meinung und Politikberatern besteht. Das kann man befürworten, weil es Politik auch für Nicht-Eliten verständlich macht, oder man kann es ablehnen, weil es die Gefahr birgt, dass sich Erfolg und Misserfolg heute weniger an Programmen als an kommunikationsstrategischer Professionalität bemessen - ändern kann man es nicht.


Leonard Novy, geboren 1977 in Köln, studierte Geschichte, Politik und Publizistik an der Humboldt Universität, der Freien Universität Berlin und der University of Cambridge, wo er zurzeit an seiner Promotion schreibt. Seit mehreren Jahren arbeitet er für diverse Zeitungen und Radiosender mit dem Themenschwerpunkt Medienpolitik und Internationale Politik. Er war Gastwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und Visiting Fellow am Government Department der Harvard Universität. Er lebt in Cambridge und Berlin. Publikationen u. a.: Über das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit, in: "Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte", 3/2005; Der Geist ist aus der Flasche. Die französische Referendumskrise, in: "Berliner Republik", 3/2005.