Wie angle ich mir einen Millionär?

Rezensiert von Olga Hochweis |
Der "Glücksvogel" aus dem Titel des Romans von Viktorija Tokarjewa stammt aus einem russischen Volkslied. Er kann den Menschen ein freundliches Los bescheren, manche lässt er aber auch ein Leben lang vergebens hoffen und warten. Für Nadka, die Protagonistin des Romans, handelt es sich um einen "dummen Vogel". Bevor er an ihr womöglich vorüberfliegt, nimmt sie ihr Schicksal lieber selbst in die Hand.
Nadka - der Name ist eine ruppige Kurzform von Nadezhda, Russisch für Hoffnung - tut dies allerdings nicht als freiheitsliebende, kluge oder gar emanzipierte Frau, sondern als eine, die "über Leichen geht". Sie lügt, betrügt und benutzt zahlreiche Männer mit dem Ziel, schnell reich zu werden und der Erbärmlichkeit und Langeweile eines "normalen" russischen Daseins zu entkommen. "Wie angle ich mir einen Millionär?" ist die zentrale Frage Nadkas, ihr Vorbild heißt Jackie Onassis. Als sowjetischer Teenager las sie in einem westlichen Magazin, wie die Kennedy-Witwe ihre Heirat mit dem kleinwüchsigen hässlichen Onassis begründete: "Wenn er sich auf seine Brieftasche stellt, ist er sehr sehr groß".

Auch Nadka legt keinen Wert auf Schönheit, Charme oder gar Intelligenz ihrer Liebhaber. Diese sind nur Mittel zum Zweck. Als kaum volljährige Frau stellt sie Anfang der 80er Jahre gezielt westlichen Touristen nach, um durch eine Heirat die Sowjetunion verlassen zu können. Ein biederer deutscher Jüngling lässt sich überrumpeln und wird ihr erster Ehemann. Er schickt sie zum Teufel, als sie zur Aufbesserung der Haushaltskasse regelmäßig Herrenbesuch empfängt. Es folgen türkische, französische und russische Liebhaber, deren Brieftaschen immer größer werden, um die Nadkas wachsendes Bedürfnis nach Luxus zu stillen. Zweifel an ihrer Lebenseinstellung verspürt Nadka nicht - auch nicht, als sie sich, zurück im Russland der Post-Perestroika, erstmals in einen leider verheirateten Mann verliebt. Nadka wird eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Sie verkauft Immobilien, weil dort ohne Ausbildung viel Geld zu verdienen ist, wozu sie auch den Geliebten nutzt. Alle boshaften und schamlosen Versuche, dessen Ehefrau auszustechen, scheitern jedoch. Unverhofft tritt dann ein vermeintlicher Onassis in ihr Leben, der alte, schwerreiche Gouverneur von Sibirien. Doch Iwan entpuppt sich nach einer verlorenen Wahl als Niete. Nadka bleibt desillusioniert zurück. Sie weiß nun: "Der Traum von einem eigenen Onassis war eine Illusion. Man muss selbst Onassis werden und selbst auf seiner Brieftasche stehen."

Viktorija Tokarjewa hat nach einem Musikstudium und kurzer Tätigkeit als Klavierlehrerin in Leningrad eine Ausbildung als Drehbuchautorin in Moskau absolviert und lange Jahre erfolgreich als solche gearbeitet. Das zeigt sich in der Konstruktion ihrer Geschichten: sie reiht einzelne Szenen aneinander, die in einem knappen, schlichten und bisweilen auch lakonisch-witzigen Ton erzählt werden. Im Zentrum stehen Frauen aus der Großstadt, die eine Illusion, einen Traum haben (in der Regel ist es die Liebe), der sich nicht erfüllt. Dennoch bleiben sie nicht unzufrieden zurück, sondern erlangen manchmal ein wenig Lebensweisheit.

Seit den Achtziger Jahren hat sich das Milieu und der Charakter ihrer Figuren verändert. Während in den frühen Erzählungen kluge, selbständige, verzweifelte Frauen als Wissenschaftlerinnen ("Stern im Nebel"), Lehrerinnen oder Rentnerinnen als durchschnittliche Repräsentanten der sowjetischen Gesellschaft beschrieben werden, greift Tokarjewa in neueren Büchern auf den Typus der Femme fatale zurück, die unmoralisch, geldgierig und vulgär ist. Genauso klischiert und trivial wie das Personal wirkt der ganze Roman "Glücksvogel".

Viktorija Tokarjewa: Glücksvogel
Aus dem Russischen von Angelika Schneider
Diogenes. Zürich 2005
304 Seiten, 19,90 Euro