Wie aus der Krise ein Krieg wurde

Der Historiker Christopher Clark nimmt die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges von Neuem unter die Lupe. Indem er nach dem "wie" und nicht so sehr nach dem "warum" fragt, erzählt er eine altbekannte Geschichte auf überraschende Weise neu.
Clarks Herangehensweise ist unspektakulär. Er untersucht genau, wer welche Rolle in den einzelnen Ländern gespielt hat, welche Vorstellungen die Regierungschefs, Minister, Diplomaten, Beamten und nicht zuletzt die gekrönten Häupter der europäischen Mächte hatten, die Europa in jenen Krieg geführt haben, der heute zu Recht als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts gilt – Auslöser allen Unheils, das diesem Krieg folgte: Großbritannien, Frankreich, Russland, Deutschland, Österreich-Ungarn und, am Rande, aber mit einer folgenschweren Entscheidung, Italien.

Zufälle, plötzliche Veränderungen der politischen Lage, eigenartige Fantasien und Visionen der Akteure: All das spielt beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine große Rolle. Da ist etwa der Generalstabschef der österreichisch-ungarischen Streitkräfte, der Freiherr Franz Conrad von Hötzendorf, eine der "wohl faszinierendsten Figuren in einem hohen militärischen Amt zu Beginn des 20. Jahrhunderts".

Hötzendorf war der größte Kriegstreiber der Habsburger Monarchie, dessen ganze Energie der skandalösen Liebe zur Gattin eines Wiener Unternehmers galt. Wie ein mittelalterlicher Ritter wollte Hötzendorf diese Frau erobern, indem er als siegreicher Held aus einem Krieg heimkehren würde.

Hötzendorfs Gegenspieler war der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand. Er bemühte sich, die Spannungen zwischen der Habsburger Monarchie und den Serben einzudämmen. Als am 28. Juni 1914 der Erzherzog ermordet wurde, konnte sein kriegslüsterner Gegenspieler Hötzendorf ungehindert zum Krieg antreiben.

Mit einem bestechend einfachen Gedanken untersucht Clark die Vorkriegsgeschichte: Jahrzehnte lang stand immer die Frage im Mittelpunkt, warum der Krieg ausbrach – und damit drehte sich die Debatte zumeist um die Frage, wer schuld daran war. Clark indes fragt, wie er ausbrach – und öffnet dadurch den Blick für die komplexen Vorgänge, die am Ende in die verhängnisvolle Eskalation mündeten.

Europa war beherrscht von den Großmächten, die sich gegenseitig belauerten und misstrauten. Aus unterschiedlichen Motiven fanden sich Großbritannien, Frankreich und Russland zur Entente zusammen. Emporkömmling Deutschland blieben nur Österreich-Ungarn und Italien als Bündnispartner. Mehrere Krisen wurden knapp entschärft. Größter Unsicherheitsfaktor war das vom Zerfall bedrohte Osmanische Reich.

Als Italien 1911 Libyen überfiel, um es der osmanischen Herrschaft zu entreißen, wurde die Büchse der Pandora geöffnet. Auf dem Balkan begannen die Kämpfe und Kriege um die Unabhängigkeit der Balkan-Völker. Die imperialistischen Großmächte wollten sich Einflusssphären sichern, doch der Balkan war unberechenbar, vor allem der gewaltbereite serbische Nationalismus.

So entstand jene Gemengelage, die nach dem Attentat von Sarajewo zum Krieg führte. Ein Krieg, den die Politiker eigentlich nicht gewollt, mit dem sie aber kalkuliert hatten. Alle Akteure spielten das riskante Spiel, obwohl erkennbar war, dass der nächste Krieg schrecklicher sein würde als alle vorherigen. Wenn es für Clark Politiker gibt, die besondere Verantwortung tragen, sind es die Hardliner in Paris und Moskau: Als sie im Frühjahr 1914 ihr Militärbündnis an die Entwicklung in Serbien banden, konstruierten sie einen "geopolitischen Zündmechanismus", wie Clark es nennt.

Dennoch: Clark benennt keinen Hauptschuldigen, weil auf allen Seiten Risiko gespielt wurde und nur deshalb aus einer Krise der Krieg wurde – und das in einem Jahr, in dem sich die Lage eigentlich zu entspannen schien.

Dies Buch ist eine Offenbarung für historisch Interessierte: Fast ein Jahrhundert nach der großen Tragödie schafft es Christopher Clark, das Geschehen in seiner Komplexität neu zu sehen und zu verstehen. Eine Frage allerdings bleibt: Deutschland, dessen Politik bisher als entscheidender Auslöser für den Krieg galt, wird in diesem Buch – verglichen mit den anderen Mächten – verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Fehlt da nicht etwas in dem Bild, das Clark zeichnet?

Besprochen von Winfried Sträter


Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog
Übersetzt von Norbert Juraschitz
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013
895 Seiten, 39,99 Euro
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