Massage inklusive
Der bayerischen Wirtschaft fehlen 260.000 Fachkräfte. Handwerkskammern und Firmen bieten zahlreiche Attraktionen für Jugendliche oder Studienabbrecher – Wohlfühl-Pakete, Azubi-Apps und kleine Goodies. Raus aus dem Hörsaal, rein in den Blaumann!
"Wir haben die Heizanlage ausgetauscht, da kommt jetzt ein neues Brennwertgerät rein mit Warmwasserspeicher, und da müssen wir eben alles verräumen."
Kilian Arnold steht der Blaumann, die Rohrzange, der Schraubendreher und der Stift bereits ganz gut. Gemeinsam mit den Kollegen baut der Auszubildende an diesem Tag eine neue Heizung ein. Vor zwei Jahren saß der 32-Jährige noch in der Vorlesung an der Universität Regensburg. Fünf Jahre Jurastudium, täglich Paragrafenanalyse, Fallbesprechung, Bürgerliches Gesetzbuch, Mensa-Essen. Seit April 2017 lernt er Heizungsinstallateur:
"Weil das mit dem Studium nicht so geklappt hat, wie ich mir das vorgestellt habe. Also ich habe davor drei Semester Maschinenbau studiert, das war dann nicht so ganz meins, bin dann auf Jura umgeschwenkt und bin leider dann im Staatsexamen gescheitert."
Kilian Arnold gehört zu Bayerns sogenannten Spätazubis. Rund 40 Prozent Studienabbrecher gibt es Jahr für Jahr. Während Firmen händeringend nach Fachkräften suchen, beginnen die meisten Abiturienten ein Studium, oft irgendeines. Nach dem Abschluss fehlt die Praxis, bemängeln die Firmen.
Gut gefüllte Auftragsbücher
Kilian Arnold: "Ich weiß von vielen Ex-Kommilitonen, die ganz lange mit mir studiert haben und jetzt fast so viel kriegen wie ich in der Ausbildung. Da gibt es schon einen großen Prozentsatz, der nicht gut verdient und sehr viel dafür arbeiten muss. Und da muss man sagen, im Handwerk sind die Auftragsbücher gut gefüllt, Termine sind schwer zu bekommen, und da ist die Perspektive doch eine ganz andere auch."
Alfred Lengauer: "Ich habe mich prinzipiell erst mal gefreut, weil, es ist ja für uns nur von Vorteil, wenn wir Auszubildende haben, die von sich aus schon mal diesen Beruf wollen. Und ich setze mal voraus, wenn jemand 21, 22 oder älter ist, dann weiß der, was er wirklich will und sich Gedanken dazu gemacht hat. Das ist bei einem 15-, 16-Jährigen eher schwierig."
Der Chef der achtköpfigen Firma Alfred Lengauer hatte 2017 wieder mal keine geeignete Azubis gefunden. Die Anfrage des Ex-Jurastudenten mitten im Jahr kam ihm gerade recht. Ob September oder Dezember – derzeit können Interessenten fast das ganze Jahr über in eine Ausbildung einsteigen, je nach Vorkenntnissen.
Den Spätazubis kann Heizungsmeister Lengauer nur Gutes abgewinnen. Sie besitzen einen Führerschein, sie können die Ausbildung verkürzen, was der Firma Geld spart. Und die erwachsenen Quereinsteiger treten dem Kunden gegenüber souveräner auf.
Studienabbrecher, Quereinsteiger – sie seien alle herzlich in bayerischen Firmen willkommen, sagt Franz Xaver Peterandl, Präsident des Bayerischen Handwerkstages. Rein rechtlich sind 15-jährige Azubis den 30- oder 40-jährigen gleichgestellt. Sowohl bei der Haftpflicht wie auch bei den Sozialabgaben oder beim Ausbildungsvertrag:
"Nein, es gibt keine rechtlichen Vorschriften zu beachten. Man muss lediglich wissen, dass ein älterer Auszubildender oder Auszubildende nicht mehr der Schulpflicht unterliegt und damit auch nicht an der Berufsschule teilnehmen muss."
Das größte Problem ist der Wohnraum
Wenig später steht der Präsident des Bayerischen Handwerkstages auf der Treppe seines Büro-Wohnhauses im Gewerbegebiet Garching, Münchner Umland, und spricht ein Hauptproblem des Fachkräftemangels an:
"Ein, zwei Stockwerke sind hier praktisch Mitarbeiterwohnungen und in dem anderen Gebäude dort drüben sind noch 17 Zimmer mit Gemeinschaftsduschen, Gemeinschaftsküche."
Das größte Problem für seine Firmen sei heute der Wohnungsmarkt. Rund um München fehlen die Facharbeiter vor allem aufgrund der hohen Mieten. Einige Unternehmen behelfen sich mit sogenannten "Boardinghouses", andere mieten Werkswohnungen an. Er könne als Chef einer in den 1960er-Jahren gegründeten Baufirma direkt neben den Bürogebäuden noch eigene Arbeiterwohnungen anbieten, aber dies sei jüngeren Betrieben heute rechtlich verboten. Keine Wohnungen in Gewerbegebieten, das müsse die Politik überdenken, fordert Peteranderl. Ebenso müsse er sich bei der Höhe der Miete an die Vergleichsmieten ringsum von etwa 17 Euro pro Quadratmeter halten, eine Vorgabe des Finanzamtes – selbst wenn er nur fünf Euro pro Quadratmeter nehmen wollte. Bezahlbare Wohnungen in bayerischen Gewerbegebieten – vor 50 Jahren noch kein Problem:
"Seitdem gibt es diese Wohnungen. Dann hat es auch mal Begehungen gegeben, weil ein neuer Bebauungsplan aufgestellt worden ist. Dann sind die von der Behörde aus allen Wolken gefallen, wie viele Wohnungen hier sind. Das sollte die Politik sich eben überlegen, inwieweit Firmen zugestanden wird, dass sie auch in Gebieten, wo sie ihre Unternehmen haben, Wohnraum schaffen können durch einmal Aufstocken des Bürogebäudes oder eines anderen Gebäudes."
Wohnungen, flexible Arbeitszeiten, Späteinstieg in die Ausbildung – fast alles sei heute möglich, sagt Handwerkskammerpräsident Peteranderl. Und Josefine Steiger stimmt ihm zu. Die Bereichsleiterin Ausbildung der Industrie- und Handelskammer Schwaben setzt seit 2013 auf Lehrstellen in Teilzeit. Bislang war dies laut Bundesberufsbildungsgesetz nur für junge Mütter möglich, ab kommendem Ausbildungsjahr gilt das für alle Interessenten.
Teilzeit wird finanziell unterstützt
"Ich habe 30 Stunden die Woche und einmal in der Woche gehe ich zur Berufsschule, das ist dann den ganzen Tag acht Stunden."
Martha Sowada lernt im dritten Lehrjahr Kauffrau für Büromanagement. Ohne Teilzeitausbildung hätte die alleinerziehende, aus Polen stammende Mutter von zwei kleinen Kindern keine Ausbildung beginnen können. Sie bekommt zwar anteilig weniger Geld im Monat, aber das ist es der künftigen Fachkraft wert:
"Ja, also meine Arbeitszeit ist nur kürzer, aber die Ausbildung ist von den Lerninhalten, das muss ich alles auch durchmachen, nur die Arbeitszeiten sind anders."
Viele Firmen wüssten von dieser Möglichkeit gar nicht, bedauert IHK-Beraterin Jacqueline Schuster. Die Teilzeitausbildung werde vom Freistaat mit einmalig 4.000 Euro pro Azubi unterstützt. Jedes Jahr schreibe sie die Firmen in Schwaben an, die Skepsis ist meistens hoch, trotz Fachkräftemangel:
"Wenn ich dann die Gespräche führe sind sie meist sehr überrascht, wie einfach das eigentlich abläuft, und das sich das zu einer normalen Ausbildung gar nicht so viel unterscheidet. Und das ist so wichtig, den Firmen zu zeigen, dass man jetzt, wo wir diesen großen Fachkräftemangel haben und sich viele Firmen schwer tun, Azubis zu finden, ihnen auch zu zeigen, dass es eine gute Alternative ist, sich seine Fachkräfte zu sichern. Und so kompliziert und schwierig ist es nicht, jemanden in Teilzeit auszubilden."
Bei der alteingesessenen Augsburger Firma Greif fehlen die Arbeitskräfte in fast allen Bereichen. Obwohl sie als bundesweit tätiges Textilmiet- und Reinigungsunternehmen die wichtigsten Luxushotels betreut − angefangen vom Schloss Elmau, wo die G7-Gipfel-Teilnehmer in der Bettwäsche der Greifs übernachteten, bis hin zu Tischdecken der Elbphilharmonie und Handtücher für Berliner Luxushotels. Im Dezember 2016 schloss der Familienbetrieb auf unbegrenzte Zeit eine Schulpartnerschaft mit einer benachbarten Mittelschule, ein IHK-Projekt, das jetzt in seine zweite Runde geht. Geschäftsführer Markus Greif lud Lehrer und Schülergruppen in seinen Betrieb ein, schickte eigene Azubis in die 7. bis 10. Klassen, um den heute sehr anspruchsvollen Beruf des Textilreinigers vorzustellen. Zehn Schüler entschieden sich für ein Praktikum, einer könnte sich eine Ausbildung vorstellen:
"Das ist nun mal so, dass wir erkannt haben, man kann nicht früh genug anfangen, eben hier auch für unseren Beruf zu werben und den in einem anderen Licht darstellen zu lassen."
Eine App für die künftigen Azubis
Von heute auf morgen könnte die Firma vier Auszubildende aufnehmen, sagt Personalchefin Roswitha Turinsky. Aufstiegsmöglichkeiten zur Führungskraft – alles kein Problem, wenn sie denn Leute bekäme. 275 Schulpartnerschaften gibt es mittlerweile in Schwaben, ein eigener hochdotierter Preis wird jährlich an die beste Patenfirma vergeben – ein Zukunftsmodell. Modern und zumindest etwas hip müssen Ausbildungsbetriebe heute sein, weiß man bei den bayerischen Industrie- und Handelskammern. Die Bayerische Handwerkskammer ist besonders stolz auf ihre Azubi-App. Ausbildungsberufe, Standorte, freie Stellen, alles sofort abrufbar per Smartphone. Fünf sogenannte Akquisiteure, vom Freistaat Bayern mitfinanziert, ziehen regelmäßig durch die Treffpunkte und Unterkünfte von Asylbewerbern und Menschen mit Migrationshintergrund, um Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt vorzustellen.
"Also das hier ist eine Fünfachsmaschine, wir können da einspannen und fünf Seiten bearbeiten, weil der Tisch hier sich schwenkt."
Vor dreieinhalb Jahren, im September 2015 begann der damals 18-jährige Ägypter Samuel Azer die Ausbildung bei MAN Energy Solutions, mittlerweile hat er seinen Facharbeiterabschluss mit der Note zwei absolviert:
"Ich meine, MAN braucht auch Leute, die studieren, oder Techniker werden oder Programmierer, ja, also mein Ziel ist immer noch da, Ingenieur zu werden, aber eben step by step, einen Schritt nach dem anderen."
Ausbildungsleiter Herbert Huttner startete 2015 das Flüchtlingsprojekt gemeinsam mit der IHK Schwaben. Ein Arbeitsplatz bei MAN sei dem mittlerweile anerkannten Flüchtling sicher, sagt Huttner. Bis zu 60 Zerspanungstechniker könnte die Firma sofort einstellen. Laut dem aktuellen Fachkräftemonitor Bayern fehlen in der Maschinen- und Fahrzeugtechnik 46.000 Arbeitskräfte. Extra Gesundheitsseminare, ein jährlicher Azubi-Austausch mit Dänemark, Tschechien oder Frankreich, Büchergeld, 150 Euro Weihnachtsgeld – der Hersteller von Schiffsmotoren lässt sich einiges einfallen.
1.035 Euro im ersten Lehrjahr, eine Übernahmequote von fast 100 Prozent, 35 Stunden-Woche, pünktlicher Feierabend – wer da nein sagt, ist selbst schuld, meint Huttner augenzwinkernd. Jeder Maschinenbaustudent müsste dabei feuchte Augen bekommen. Gymnasiasten mit einem Mindestabschluss von 2,0 bis 2,4 auf dem Zeugnis könnten sich bei ihm sofort für ein Duales Studium bewerben. Praxis und Studium in einem, dazu gutes Geld, so der MAN-Ausbildungsleiter. Für ein Maschinenbaustudium bekäme man nichts und müsse auch erstmal den Numerus Clausus überwinden.
Genau das erklärt der Auszubildende Matthias Mannes, wenn er vor Gymnasialklassen steht – als sogenannter Azubi-Scout. Der 29-jährige brach sein BWL-Studium vor drei Jahren ab und startete nochmal in eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann bei einer Baumarktkette. Jetzt erklärt er in regelmäßigen Abständen Gymnasialschülern die Vorteile von Ausbildung statt Studium:
"Das war echt gut. Einige waren auch aufmerksam, haben was mitgeschrieben. Ich habe dann am Schluss auch noch was erzählt von Weiterbildung, speziell von dem Abiturientenprogramm Handelsfachwirt. Da waren sie dann schon interessiert, denn das ist ja extra für Schulabgänger mit Hochschulreife."
Kleine Goodies belohnen gute Noten
Das Hotel "Oberstdorf" im Touristenhotspot Oberstdorf. Mitarbeitermangel kann man sich hier nicht leisten. Fachkräftemangel erst recht nicht. Aber vor allem im Hotel- und Gaststättengewerbe fehlt Personal.
Hinter dem Empfangstresen tippt eine junge Frau etwas in den Computer: Pia, 3. Lehrjahr, an der Rezeption seit einem Jahr, stolze Besitzerin eines iPads, Geschenk vom Haus:
"Wenn wir in der Schule gut sind, kriegen wir kleine Goodies. Im ersten Lehrjahr können wir uns aussuchen zwischen einem iPad, einem iPhone oder einem Mountainbike."
Zusätzlich zu ihrem Ausbildungslohn erhält Pia seit dem ersten Lehrjahr Geld obendrauf: 100 Euro im ersten Lehrjahr, 200 im zweiten und im 3. Lehrjahr – 300 Euro. Überstunden werden natürlich bezahlt. Und:
"Also wir dürfen als Auszubildende, aber auch alle Mitarbeiter, dürfen den Fitnessraum benutzen, den Wellnessbereich komplett, teilweise auch die Massagen, die Gäste gehen da natürlich vor, aber wir dürfen uns auch massieren lassen und uns was gönnen."
"Nicht an der Spitze der Nahrungskette"
Vor vier Jahren entwickelte Hotelchef Sebastian Reisigl das Konzept für elf interessierte Allgäuer Hotels. Mittlerweile sind es 14 Hoteliers und eine kleine Warteliste. Von Füssen, Balderschwang, Oberstdorf bis hin nach Schwangau und Bad Hindelang. Und es lohnt sich tatsächlich, sagt Hotelchef Reisigl:
"Ganz klares Ja. Also wir können uns unsere Auszubildenden aussuchen. Und meine Kollegen von den Azubis Top Hotels – wenn man heute eintritt und auf der Seite auffindbar ist, dann hat man morgen Bewerbungen auf dem Tisch. Wir brauchen uns nichts vormachen. Unsere Branche Hotellerie/Gastronomie steht nicht an der Spitze der Nahrungskette, wenn es darum geht, wo gehen die Leute hin."
Unterstützt wird Hotelchef Reisigl von dem Allgäuer Marketingverbund Top Hotels. Sybille Wiedenmann als Geschäftsführerin hofft, dass die Zahl der teilnehmenden Hotels noch wächst:
"Wir sind jetzt in der Aufbauphase gewesen die zwei Jahre und haben einen Testlauf gemacht und festgestellt, dass es gemeinsam ein starker Auftritt ist und die Leistung bei den Jugendlichen ankommt, und jetzt wollen wir es ausbauen. Wir haben nochmal die Struktur der Gruppe gestärkt, einen Beirat gewählt, damit wir handlungsfähiger sind. Wir haben uns diesen "Exzellenten Ausbildungsbetrieb", der von dem Verein der deutschen Hotelierdirektoren entwickelt wurde und von der Dekra überprüft wird, als weitere Qualitätsgrundlage gegeben."
Ein Leuchtturm im Ausbildungsbereich, so sieht man das Konzept in der bayerischen Zentrale des DEHOGA, dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband. Susanne Droux, zuständig für Aus- und Weiterbildung:
"Wir empfehlen sogar unseren Betrieben, wirklich sich etwas zu überlegen, was für den einzelnen Betrieb Sinn macht, was sie anbieten können. Ein Haus, was ein Schwimmbad hat, kann natürlich auch den Auszubildenden diesen Pool eröffnen..."
Späteinstieg, Teilzeit, attraktive Zusatzleistungen, Öffnung hin zu Menschen mit anderem Bildungs- und kulturellem Hintergrund – die Firmen lassen sich viel einfallen. Dafür ist Bayern bekannt. 2015 kamen aus dem übrigen Deutschland rund 4.000 Arbeitskräfte mehr nach Bayern, als den Freistaat verließen.