Wie Böhmen entgermanisiert wurde

Von Richard Szklorz |
Die neue, bisher nur in Tschechisch erschienene Dokumentation liefert ein umfassendes und sehr aussagekräftiges Werk über die sogenannte "Entgermanisierung" Tschechiens nach dem Zweiten Weltkrieg. Basis sind Dokumente tschechischer Beamter.
Ging es um Vergeltung für sechs Jahre grausamer Besatzungszeit? War das der Preis für den frenetischen Jubel beim Einmarsch von Hitlers Wehrmacht, dem sich viele, zu viele Sudetendeutsche hingaben?

Die Operation, die in Deutschland als Vertreibung, in Tschechien immer noch gerne als ‚odsun‘ - Abschub - bezeichnet wird, führte zur totalen Eliminierung der in Jahrhunderten gewachsenen deutschen Siedlungsgebiete in Böhmen, Mähren und österreichisch Schlesien. Das offen erklärte Ziel war nun die ethnisch tschechische Homogenität eines Landes, in dem bis dahin über 3 Millionen Deutsche lebten, fast ein Drittel der Bevölkerung, auf einem Drittel des Gesamtterritoriums.

Die totale "Entgermanisierung", wie sie an vorderster Stelle vom zurückgekehrten Präsidenten Benes ausgerufen wurde, war eine Entgermanisierung im Schnellverfahren. Sie war nicht anders als mit harten, unmenschlichen Maßnahmen durchzusetzen und kostete Zehntausenden Menschen das Leben, meistens Kindern und schwachen alten Menschen.

Mit dieser Dokumentation kann jetzt kaum noch jemand behaupten, die tschechoslowakischen Behörden hätten mit der Vertreibung der deutschen Bevölkerung doch nur die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz ausgeführt.
Die andere, irrige Überlieferung betrifft die sogenannte "Wilde Vertreibung" der ersten Nachkriegswochen, in denen in einem Voraustreck fast eine Million Menschen in einer Nacht und – Nebel – Aktion über die Grenze nach Deutschland gejagt wurden.

Die bisher gern gepflegten Thesen erweisen sich nun um so mehr als Schutzbehauptungen, die vor allem die Erbarmungslosigkeit der Vorgänge verschleiern halfen, sie vielleicht für die Tschechen erträglicher machte. Sie passte nicht zum gängigen Selbstverständnis, nach dem die Tschechen schon immer das ewige Opfer des übermächtigen deutschen Nachbarn gewesen seien.

Gestützt auf eine schier unendliche Fülle amtlicher Unterlagen, die jahrzehntelang unerforscht in tschechischen Archiven aufbewahrt wurden, belegt die Dokumentation, dass die "wilde Vertreibung", im Tschechischen "wilder Abschub" genannt, keineswegs so "wild" war. Sie war eine von höchster Stelle gesteuerte und von der tschechoslowakischen Armee durchgeführte Aktion.
Ihre grausame Intensität verfolgte den Zweck, die anstehende Potsdamer Konferenz der drei Siegermächte vor vollendete Tatsachen zu stellen.

"Unsere Regierung ... will ... nicht unnötig Zeit verlieren sondern die Großmächte vor vollendete Tatsachen stellen. Deshalb müssen die Ausweisungen so schnell wie möglich durchgeführt werden"

heißt es in einem Dokument des ‚Ministeriums der Nationalen Verteidigung" vom Juli 1945. Die Frage des "Abschubs" sei nicht allein eine innenpolitische. Denn Großbritannien und die USA verlangten die Einhaltung humaner Grundsätze.

Misshandlungen im großen Stil, auch Massenmorde, erfüllten mit geradezu teuflischer Konsequenz einen wohl kalkulierten Plan: Den betroffenen Bevölkerungsgruppen sollte auf diese Weise klar gemacht werden, dass ihre weitere Anwesenheit im neuen Staat für immer unerwünscht ist.

Der Umfang und die Tiefe der Edition ermöglicht eine ganz neue Wahrnehmung der bedrückenden Vorgänge. Auch heute – 67 Jahre später – eine schwer erträgliche Lektüre, denn kaum eine Grausamkeit aus dem Katalog der Menschheitsgeschichte, oft kollektiv exerziert, blieb vielen der Betroffenen erspart. Freilich werden auch einzelne Lichtblicke tschechischer Mitmenschlichkeit dokumentiert.

Hier liegt ein Werk vor, das nicht als Propaganda eines sudetendeutschen Vertriebenenverbands denunziert werden kann, denn es stützt sich auf Dokumente loyaler tschechischer Beamter. Für die an mitteleuropäische Verwaltungsmentalitäten historisch angepassten Bewohner auch des heutigen Tschechien sind dies Quellen von großer Aussagekraft!

Aber die Dokumentation schließt nicht mit der Vertreibung der Deutschen ab. Sie berichtet vom Gesamtschicksal der einst deutschsprachigen Regionen bis Anfang der fünfziger Jahre. Denn zeitgleich mit der Vertreibung begann der Zustrom der neuen Bewohner.

Zwar erwies sich dabei das zurückgelassene Eigentum der Deutschen als ein höchst überzeugendes Lockmittel, dennoch mussten die gigantischen Menschenströme mittels zentral gesteuerter Kampagnen gelenkt werden. Schließlich standen lebenswichtige wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel, da nach dem erzwungenen Weggang der Alteingesessenen ganze Wirtschaftszweige zusammenbrachen. Ein Zustand, der nur zum Teil durch Zwangsarbeit der noch verbliebenen Deutschen gemildert werden konnte.

In Tschechien ist das Echo auf die Veröffentlichung der Dokumente groß. Nicht nur in der Historikergemeinde. Auch interessierte Laien kaufen die umfangreichen Bände, um sich über die dramatischen Vorgänge in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu informieren.

Einen ähnlichen Effekt erhoffen sich die Autoren von der angestrebten deutschen Ausgabe. Denn bislang konzentrierte sich in Deutschland und Österreich der Fokus fast ausschließlich auf die Vertreibung der Deutschen. Die neue Dokumentation böte dem interessierten Publikum, darunter auch Nachkommen vertriebener Sudetendeutscher, einen Einblick auf die ganze Dramatik der damaligen Umwälzungen.

Damit dürfte der nationale Diskurs im Sinne einer aufrichtigen Aufarbeitung befördert werden. Doch sind auch Rückschläge vorprogrammiert.

Adrian von Arburg, Tomas Stanek (Hrsg.): "Die Aussiedlung der Deutschen und Wandlungen der tschechischen Grenzgebiete von 1945 bis 1951"
In tschechischer Sprache
Verlag Zdenek Susa
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